Zwischen leise und mittellaut
Zwischen leise und mittellaut
Der Park war nicht gerade klein, dennoch erkannte er sie sofort. Sie saß auf einer der Bänke, die Hände in den Taschen ihrer Jacke. Wartete sie schon lange auf ihn? Die Uhr zeigte an, dass es erst eine Minute vor drei war. Er war also pünktlich. Anscheinend bemerkte sie ihn nicht, weil sie gedankenverloren auf die Rasenfläche vor sich blickte.
Ein paar Menschen gingen mit ihren Hunden spazieren, ein paar Kinder warfen sich eine Frisbee zu und ein paar ganz Mutige saßen auf einer Decke im Gras. So warm war es an diesem Maitag gar nicht, aber laut Wetterbericht sollte es in den nächsten Tagen deutlich wärmer werden. Würde sie es mitkriegen, wenn er zu ihr „Hallo" sagte? Es kam ihm komisch und auch irgendwie unhöflich vor, dass sie sich begrüßten und verabschiedeten, ohne ein Wort zu sagen. Er setzte sich einfach neben sie auf die Bank. Sie zuckte zusammen, als sie das bemerkte. Zuerst erwartete sie, einen Fremden zu sehen, aber dann war es er.
Sie schien erleichtert. Hatte sie daran gezweifelt, dass er wirklich kommen würde? Sie hatten sich zwar gestern erst zum ersten Mal gesehen, aber das hieß doch nicht, dass sie sich danach ignorieren mussten, weil sie sich total fremd waren. Irgendwie verband sie ja der beinahe Unfall mit dem LKW. Sie hob die Hand und winkte ihm zu, was auf die kurze Distanz albern wirkte, was sie aber mit einem lautlosen Lachen quittierte. Sie holte ihr Handy hervor.
Schön, dass du gekommen bist. Hast du wohl gedacht, ich lasse dich sitzen? Bisher war es immer so. Sobald die anderen Typen mitkriegen, dass ich unnormal bin, verschwinden sie. Was heißt schon unnormal? Witzbold! Es gibt Menschen, die sind dick, andere sind klein, andere sind doof und du hörst eben nichts. Wo ist da das Problem?
Dicke Menschen gehören inzwischen zur Gesellschaft. Kleine genauso. Doofe gibt es mehr als genug, also ist das auch normal. Nur eben das „nichts hören" ist unnormal. Warum denn? Ich kann dir ja nicht mal Hallo sagen, ohne dass es wie ein unmelodisches Geschrei klingt. Das ist doch an sich kein Problem. Für viele aber schon. Stell dir mal vor, du willst dich mit jemandem unterhalten und derjenige antwortet dir nicht. Wenn die Menschen nicht wissen, dass ich nichts höre, dann halten sie mich für behindert.
Und was ist mit Lippenlesen? Das sollte ich damals ja auch probieren, aber es bewegt doch keiner die Lippen so exakt, dass ich es lesen könnte. Selbst beim Lippenbewegen gibt es Akzente und Dialekte und meistens verstehe ich da was ganz Anderes. Was meinst du mit „damals?"
Sie tippte die Antwort nicht gleich. Anscheinend fiel es ihr nicht leicht, darüber zu sprechen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte den Kopf. Ist schon in Ordnung. Irgendwie muss ich es dir ja erklären. Ich war nicht immer taub. Früher war ich ganz normal, konnte hören und sprechen, sogar singen. Aber dann hatte ich einen Unfall und seitdem besteht meine Welt, wenn überhaupt, nur noch aus äußerst dumpfen Tönen.
Das tut mir leid. Auf dem Handybildschirm wirkten diese vier Worte irgendwie nicht so, wie er es beabsichtigt hatte. Im realen Leben würde man garantiert die ersten beiden Worte stammeln und dem ganzen etwas Mitleid verleihen. Dir braucht es doch nicht leidtun. Du warst weder dabei, noch kannst du etwas dafür. Das ist inzwischen elf Jahre her und ich komme inzwischen ganz gut damit zurecht.
Aber eben nur ganz gut, wie wir ja gestern gesehen haben. Es gibt noch ein paar Dinge im normalen Leben, die für andere selbstverständlich sind, für mich aber nicht. Und das ist ja das, was viele Menschen so auf Abstand hält. Nachdem meine Freunde damals mitbekamen, dass ich nicht mehr normal bin, waren es ganz schnell weniger. Bis vor ein oder zwei Jahren hatte ich noch Kontakt zu einer einzigen Freundin, die damals noch zu mir gehalten hat, aber das hat sich auch verloren. Ich musste mein gesamtes Leben umkrempeln. Konnte von einen Tag auf den anderen nicht mehr zur Schule gehen. Ich musste die Gebärdensprache lernen, damit ich mich wenigstens irgendwie verständigen konnte. Das mit den Handys war ja vor elf Jahren noch nicht so dermaßen weit verbreitet. Aber taub zu sein heißt auf andere Art isoliert zu werden. Die Menschen wollen nichts mehr mit einem zu tun haben. Wenn schon nicht einmal mehr eine normale Konversation möglich ist, dann merken die ganz schnell, dass man auch sonst nicht viel mit mir anfangen kann.
Er las mit, während ihre Finger über die kleine Tastatur flogen. So hatte er noch nie über das Thema nachgedacht. Ich bin deswegen sehr viel allein und gehe kaum unter Leute. So eine Unterhaltung übers Handy ist ja nun auch nicht das Wahre. Aber irgendwie muss ich damit zurechtkommen. Erschrocken stellte er fest, dass eine Träne über ihre Wange nach unten rollte. Sie wollte sie unauffällig wegwischen, aber da war ihr schon aufgefallen, dass er es bereits gesehen hatte. Verzweifelt sah sie ihn an. Wie sehr wünschte sie sich jetzt, sie könnte einfach den Mund aufmachen und den Worten freien Lauf lassen.
So wie früher, als sie immer geredet hatte wie ein Wasserfall. In jeder Situation. Selbst, wenn sie wütend oder traurig war, konnte sie immer noch sprechen, zwar mit tränenerstickter Stimme, aber sie konnte ihre Gefühle rauslassen. Ein Handybildschirm bot dafür keine Möglichkeit. So sahen sich die beiden an. Ihr liefen die Tränen über das Gesicht und sie war mal wieder so verzweifelt über die ganze Situation. Manchmal verlor sie eben die Fassung und dann konnte sie es nicht zurückhalten.
Sie wünschte sich doch einfach nur ein normales Leben. Wäre der Unfall damals nicht gewesen, könnte sie sich heute vielleicht unterhalten, ohne sich die Daumengelenke auszuleiern oder wie wild mit den Armen herumzufuchteln. Aber es ging eben nicht. Er ertrug es nicht mehr so teilnahmslos neben ihr zu sitzen, während sie ohne jeden Ton weinte. Er rutschte näher an sie heran und sofort schlang sie ihre Arme um ihn. Für eine Weile blieben sie so sitzen. Vorsichtig strich er ihr mit der Hand über den Rücken. Sie kannten sich noch nicht einmal einen Tag und schon saßen sie enganeinandergeschmiegt auf einer Parkbank.
Ihm wurde bewusst, dass sie es deutlich schwerer im Leben hatte als so manch andere. Aber er nahm sich vor, dass er es für erträglicher machen würde. Sie löste sich wieder und sah ihn an. War es ihr peinlich, dass sie vor einem Fremden so die Fassung verloren hatte? Er fragte, ob es wieder ginge. Sie nickte. Wollen wir nochmal zu mir gehen? Anscheinend hatte sie keine Lust mehr, hier im Park zu sein. Er nickte und sie standen auf.
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Soundtrack: Cher- The Music's No Good Without You
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