Ziemlich laut

Ziemlich laut

Ein paar Tage waren vergangen. Irgendwann hatten sie ihre Nummern ausgetauscht und schrieben sich Nachrichten. Treffen konnten sie sich nicht täglich, da sie, im Gegensatz zu ihm, noch an der Uni beschäftigt war. Einmal war er jedoch unerwartet vorbeigekommen. Plötzlich hatte er vor ihrer Tür gestanden und sie war ziemlich verwirrt gewesen. Vor allem, da sie in ihrer schlabbrigen Jogginghose vor ihm stand.

Das hatte ihn jedoch nicht weiter gestört. So aße sie zusammen ein paar Stückchen Fertigkuchen, den sie vor ein paar Tagen noch im Supermarkt gekauft hatten. Sie unterhielten sich mit einem Bleistift und ein paar Notizzetteln, die sie immer wieder über den Tisch geschoben hatten. Irgendwann war er auf ihre CD-Sammlung aufmerksam geworden. Ganze zweieinhalb Stunden waren sie CD für CD durchgegangen und hatten sich darüber ausgetauscht. Sie wusste, dass in ihrer Sammlung auch einige Stücke waren, die man so im Handel heute nicht mehr erhielt.

Ziemlich beeindruckt stellte er eine Scheibe von Udo Lindenberg zurück, die damals nur in limitierter Auflage in den Handel gekommen war. Seitdem waren drei Tage vergangen. Eben war die Nachricht gekommen, dass er sie zur Uni begleiten wollte. Das überforderte sie ein wenig. Warum wollte er unbedingt mitkommen? Eine Lesung bei ihr, wenn man es denn so nennen konnte, war nicht gerade interessant. Sie verlief stumm, da sie sich nur schriftlich oder über Gebärdensprache verständigten. Die Professorin, die morgen die Lesung abhalten würde, war die einzige, die sprechen konnte. Alle anderen würden ihn ziemlich verständnislos ansehen und sich fragen, was er denn dort wollte.

Aber er ließ sich nicht abwimmeln. Alle Eventualitäten und Bedenken, die sie äußerte, kehrte er um und erließ sie gar nicht mehr so schlimm erscheinen. Schließlich vereinbarten sie sich eine Zeit und einen Ort, an dem sie sich treffen wollten.



Es gab zwei Universitäten in der Stadt. Er hatte sich beide einmal angesehen, als er noch nicht wusste, was er genau und wo studieren wollte. Die andere hatte ihm schließlich besser gefallen. Eigentlich unterschieden sich die beiden nicht viel voneinander. Die eine, die er besuchte, war allerdings deutlich älter und die Gebäude schienen nicht nur historisch, sie waren es auch. Jetzt allerdings lief er auf den großen Glasbau zu, der den Haupteingang zur Uni darstellte. Neben, hinter und vor ihm liefen andere Studenten.

Irgendwie fühlte er sich als Außenseiter, als Feind auf anderem Gebiet. Wie sie sich wohl fühlte, wenn sie die anderen hier sah, wie sie sich unterhielten und die Dinge machten, die ihr nicht möglich waren? An dieser Uni wurden auch Lesungen für Gehörlose angeboten. Sie hatte gesagt, dass in etwa sieben Studenten in ihrem Studiengang waren. Er hatte sie Treppe erreicht, wo er auf sie warten sollte. Er drehte sich um, damit er die Menschen sehen konnte, die unaufhörlich auf ihn zuströmten.

Es waren viele und somit war es eigentlich schwer, ein bestimmtes Gesicht auszumachen. Dennoch erkannte er ihr Gesicht sofort, als es zum ersten Mal in der Masse auftauchte. Als sie ihn sah, lächelte sie zaghaft und umklammerte ihren Kaffeebecher noch fester, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Dann stand sie vor ihm und er umarmte sie kurzerhand. Bis jetzt hatten sie sich immer die Hand gegeben, aber inzwischen erschien ihm das albern. Sie waren ja keine Fremden mehr.

Bevor sie die Eingangshalle betraten, entsorgte sie ihren Pappbecher. Drinnen löste sich die Menschenmasse ziemlich schnell auf und jeder ging in eine andere Richtung. Er folgte ihr einfach, etwas Anderes blieb ihm auch nicht übrig. Sie gingen nach links und folgten dem langen Gang, der sich ihnen öffnete. Es waren nicht viele Studenten, die ihnen folgten. Noch weniger kamen ihnen entgegen, doch als drei junge Frauen auf sie zukamen, klammerte sie sich plötzlich an seiner Hand fest. Verwundert fragte er sich, was das zu bedeuten hatte. Die drei sahen schon von weitem so aus als wären ihre Eltern ziemlich wohlhabend. Markennamen leuchteten ihnen regelrecht entgegen.

Als die drei sie und ihn sahen, blieben sie stehen. Die eine hob ihre Sonnenbrille an und musterte die beiden kaugummikatschend. Ihre beiden Freundinnen taten es ihr gleich. Die eine hielt zusätzlich noch einen Starbacks-Becher in der Hand. „Sieh mal einer an", meinte die Mittlere. „Hat sich die Behinderte also nen Typen geangelt." „Hast du ein Problem damit?", fragte er zurück. Sie wich zurück und versteckte sich halb hinter ihm. „Ach, stimmt ja", sagte die Linke süffisant lächelnd.

„Die Behinderte kann sich ja nicht selbst verteidigen." „Ich wäre vorsichtig, wen ich hier behindert nenne", meinte er und musterte die dreien der Reihe nach. „Wenn einem die Gehirnmasse auf Brusthöhe rutscht, ist das auch nur auf den ersten Blick schön." Damit zog er sie weiter und die beiden ließen die dreien hinter sich zurück. „So ein Arschloch", schimpfte die Mittlere. „Was erlaubt der sich eigentlich? Hält sich wohl für sonst wen?" „Nur, weil er gut aussieht, braucht er sich darauf gar nichts einzubilden", ergänzte die Rechte naserümpfend. Damit stolzierten auch sie weiter.



Er hätte sie am liebsten sofort gefragt, wer die dreien gewesen waren. Anscheinend war das nicht die erste Begegnung dieser Art gewesen. Diese Art von Menschen hasste er und er konnte nicht verstehen, warum gerade die in der Gesellschaft meist ein so hohes Ansehen genossen. Hübsch waren sie ja, aber Schönheit verging ja bekanntlich schnell, Dummheit blieb. Sie hatten den Lesungssaal erreicht. Ein Saal an sich war es keiner, dafür war er ziemlich klein. Er war eher wie ein normaler Klassenraum, ebenerdig und nicht in aufsteigenden Reihen aufgebaut. Die Tische standen in U-Form um eine elektronische Tafel.

Sie begrüßte die Professorin und hob und senkte die Hände und vorformte die Finger, um ihr zu erklären, wen sie mitgebracht hatte. Daraufhin begrüßte ihn die Professorin auch und sagte: „Schön, dass Sie heute zu uns kommen. Wir freuen uns über Ihren Besuch." „Die Freude ist ganz meinerseits", antwortete er förmlich, während er ihre Hand schüttelte. „Suchen Sie sich einfach einen Platz", meinte sie noch, bevor sie sich den nächsten Studenten widmete, die den Raum betraten. Sie ging zu ihrem Stammplatz und er setzte sich einfach neben sie. Die anderen, sieben, wie sie ihm gesagt hatte, musterten ihn neugierig.

Es waren vier Studentinnen und drei Studenten und alle sahen ganz normal aus. Sie trugen Turnschuhe und Jeans, wie jeder andere auch. Die Professorin begrüßte sie und die anderen erwiderten den Gruß mit denselben Handzeichen. Danach begann die wohl ruhigste Lesung, die er je erlebt hatte. Selbst, wenn die Studenten in seinem Studiengang ruhig zuhörten, war es nie so leise. Die sieben verständigten sich lautlos mit der Professorin. Sie machten sich Notizen und er versuchte zu lesen, was sie sich aufschrieb.

Doch viel verstand er nicht von dem, was sie da notierte. Sie studierte etwas grundsätzlich Anderes als er. Chemie hatte zu Schulzeiten nicht gerade zu seinen Lieblingsfächern gezählt. Dafür begann er etwas Anderes zu verstehen. Die Zeichen, die sie mit Händen und Fingern formten. Zwar konnte er ihnen größtenteils nicht folgen, aber nach und nach verstand er die Bedeutung einiger Zeichen, da sie immer wieder vorkamen. Warum hatten die drei Tussen sie vorhin als Behinderte bezeichnet?

Weil sie sich ihren Starbucks-Kaffee nicht bestellen konnte, indem sie den gesamten Namen mitsamt Zutaten und Extras herunterratterte? Oder sie nicht lauthals über den Typen lästern konnte, mit dem sie am Wochenende in die Kiste gestiegen war? Die Ruhe gefiel ihm. Es musste nicht immer laut und hysterisch zugehen, wie auf einem Konzert eines bekannten Teenie-Idols. Überhaupt nicht... Obwohl, wenn er recht überlegte, kam ihm eine Idee.

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Soundtrack: Udo Lindenberg- Coole Socke


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