Noch etwas lauter
Noch etwas lauter
Er packte das Mädchen am Arm und zog es von der Straße zurück. Im nächsten Moment rauschte der LKW mit quietschenden Bremsen an ihnen vorbei und kam zum Stehen, ein dahinterfahrendes Auto konnte gerade noch ausweichen. Der LKW-Fahrer stieg nicht aus. Als er im Spiegel sah, dass nichts passiert war, setzte er das Fahrzeug wieder schwerfällig in Bewegung. Das Mädchen blickte ihn erschrocken an. „Das war gerade ganz schön knapp", sagte er. Sie sagte nichts. Starrte ihn weiter an. „Du hättest draufgehen können, das ist dir klar?", fragte er. Sie sagte wieder nichts. Starrte ihn weiter an.
„Willst du dich vielleicht erstmal setzen, um dich von dem Schock zu erholen?", fragte er. Das vage Nicken war möglicherweise wirklich, aber er konnte es sich auch nur einbilden. Er führte das Mädchen zu einer Bank, die auf einer Grünanlage am Fußwegrand stand. Der Park war noch gut besucht, doch die Passanten, die es gerade mit angesehen hatten, waren schon weitergegangen.
Als sich das Mädchen setzte, zog sie sofort ihr Handy aus der Tasche. Er wollte sich schon setzen, blieb dann aber doch zögernd stehen. War es so eine, die zu arrogant zum Danke-Sagen war und dann gleich auf facebook posten musste, dass sie gerade dem Tod von der Schippe gesprungen war? Er überlegte wirklich, ob er weitergehen sollte, ohne noch etwas zu sagen. Doch da hielt sie ihm ihr Handy unter die Nase.
Er las die Zeilen und sofort wurde ihm etwas klar. Halt mich bitte nicht für arrogant. Ich würde mich ja gerne bedanken, aber ich kann es nicht. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Erst einmal gab er ihr ihr Handy zurück und dann nahm er seines aus der Hosentasche.
Was soll ich darauf jetzt antworten? , tippte er und zeigte ihr die Worte mit fragendem Gesichtsausdruck. Die meisten würden mich fragen, was mit mir los ist. Ich antworte dann immer: ich bin taubstumm. Ich höre nichts, also kann ich auch nicht sprechen lautete die Antwort. Er fragte sich, wie sie die Worte so schnell in ihr Handy eingetippt hatte.
Es scheint für dich kein Problem zu sein, oder? Es verwunderte ihn etwas, dass sie so selbstverständlich damit umging. Ich kenne es nicht anders erklärte sie ihm. Setzt dich doch erstmal! Er stand immer noch neben der Bank, weil er ja eigentlich hatte gehen wollen. Nun setzte er sich also doch.
Was ist gerade passiert? fragte sie ihn. Ich habe es nicht genau mitbekommen. Du wärst fast von einem LKW überfahren worden. Aber die Straße war doch frei! War sie aber nicht. Wenn ich könnte, hätte ich ihn vielleicht gehört.
Wie findest du dich denn sonst im Straßenverkehrt zurecht? Ich muss mich immer genau umsehen. Überall zweimal hingucken. Andere bleiben stehen, wenn sie hören, dass ein Auto um die Ecke gefahren kommt. Ich muss immer auf gut Glück die Straße überqueren. Da hattest du gerade eben aber ziemlich viel Glück. Ein paar Millisekunden später und du würdest jetzt nicht hier sitzen. Du hast mich ja zum Glück noch gerettet! Bedankt habe ich mich allerdings immer noch nicht: DANKE!
Sie lächelte vage, als er sich die Großbuchstaben durchlas. Es war schon eine kuriose Situation, in der sie beide hier geraten waren. Keine Ursache. Es war purer Zufall, dass ich dich gesehen habe, wie du beinah vor den LKW gelaufen wärst. Er hielt kurz inne. Wo wolltest du denn eigentlich hin? Einkaufen. Soll ich dich begleiten? Jetzt war sie diejenige, die verwundert war. Wenn du willst? Ist vielleicht besser, wenn ich mich nicht gleich wieder ins Getümmel stürze, nachdem es gerade so knapp war.
Die beiden sahen sich an. Sie hatten sich vorher noch nie gesehen, sie wussten nicht einmal den Namen des anderen. Ich habe nichts weiter vor. Und ich würde eh nur zu Hause rumhocken und nichts tun. Da kann ich dir auch die Einkaufstaschen nach Hause tragen. Ist das nicht etwas... altmodisch? Kann schon sein... Für ein paar Sekunden wusste keiner von beiden, was sie jetzt schreiben sollten. Das Einkaufszentrum, zu dem ich wollte, ist nicht weit von hier. Dann gehen wir mal los.
Die beiden standen auf. Bevor sie die Straße überquerten, versicherten sie sich beide noch einmal, dass sie auch frei war. Sicher auf der anderen Straßenseite angekommen, machten sie sich auf den Weg zum Einkaufszentrum. Er hatte die Hände wieder in den Hosentaschen vergraben und wusste nicht so richtig, ob ihr auffiel, dass er ihr immer wieder Blicke zuwarf. Irgendwie sah man ihr nicht an, dass sie anders war. Aber dennoch hatte sie eine Einschränkung, die sicherlich viele Probleme mit sich brachte. Eines hatte er gerade live erlebt...
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Soundtrack: Dido- Life For Rent
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