Laut

Laut

„Mann, tut mir echt leid, aber ich kann nicht mitkommen", sagte Paul. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass meine Mutter ausgerechnet an diesem Tag ihren Geburtstag feiern will. Das hat sie ja immerhin nicht ein halbes Jahr vorher festgelegt." „Da kann man nichts machen", stimmte er zu. „Familie ist Familie." Paul war eigentlich der gewesen, mit dem er am Wochenende auf ein Konzert hatte gehen wollen. Eigentlich hatten sie zu fünft fahren wollen, aber dann waren zwei abgesprungen und der dritte hatte sich nie wieder bezüglich des Themas geäußert. Dennoch wollten er und Paul nicht auf das Konzert verzichten.

Dass Paul jetzt aber auch absagen musste, damit hatten sie nicht gerechnet. „Du klingst ja gerade so, als wärst du froh, dass ich nicht mitkommen kann", fiel Paul auf und verengte die Augen. „Gibt es da etwas, was ich wissen sollte? Du hast doch wohl nicht etwa schon Ersatz für mich gefunden?" Er musste grinsen und nickte. „Doch, das habe ich." „So schnell? Kenne ich sie?", wollte Paul wissen.

„Nein", antwortete er ausweichend. „Dir war ja aber schnell klar, dass es um ein Mädchen geht." „Dass du nicht gerade deine Großmutter auf so ein Konzert mitnehmen willst, erklärt sich mir von selbst", erklärte Paul. „Also brauche ich meine Karte bei Ebay nicht einzustellen in der Hoffnung, dass sie noch jemand kauft?" „Nein, ich nehme sie gerne", antwortete er. „Das Geld gebe ich dir beim nächsten Mal. Ich habe jetzt nicht so viel dabei." „Alles klar", meinte Paul. „Dann wünsche ich euch viel Spaß!" Verschwörerisch zwinkerte er als würde er wissen, was Sache war.

Er grinste zurück und dachte sich, dass Paul eben nicht wusste, was Sache war. Oder er wusste es nur halb. Oder doch etwas mehr als halb. Das war ihm jetzt aber egal. Er hatte die Karte. Am Samstag fand in der Stadt, im Fußballstadion, ein Konzert statt und zu dem hatte er sie einladen wollen. Sein Plan war eigentlich gewesen, mit Paul zu sprechen, dass sie noch eine dritte Karte kauften und notfalls die anderen umtauschten, um zusammenhängende Plätze zu bekommen. Doch da sich das ja jetzt erledigt hatte, konnte er sie auch so einladen. Er wusste, dass es auf den ersten Blick komisch war, jemanden zu einem Konzert einzuladen, der nicht hören konnte. Letztes Jahr war er jedoch schon einmal zu einem Konzert in diesem Stadion gewesen und er wusste, dass der Sound auf diesen Plätzen nicht der beste war.

Ziemlich übersteuert und basslastig, für sie aber bestimmt das richtige. Er freute sich schon auf ihr Gesicht, wenn er ihr mitteilte, was er für sie ergattert hatte. Ob sie sich überhaupt freute? Er würde sie fragen und wenn, dann würde er eben beide Karten verkaufen. Gerade erwischte er die Straßenbahn noch und zehn Minuten später stand er vor ihrem Wohnhaus. Er musste klingeln, doch er hatte den Knopf kaum losgelassen, da summte es schon.

Die Stufen zu ihrer Wohnung sprang er fast hoch und stieß dabei mit dem Ehepaar zusammen, das neben ihr wohnte. Die Frau ließ ihre Handtasche fallen und strauchelte. Er fing sie auf und hielt verwirrt inne. „Oh, Entschuldigung, das habe ich nicht gesehen. Tut mir fruchtbar leid. Alles in Ordnung mit Ihnen? Wirklich, ich habe Sie übersehen", stammelte er und half der Frau wieder auf die Beine.

„Junger Mann, jetzt machen sie mal nicht so viel Wind", meinte die Frau. „Es ist doch nichts passiert." Sie hob ihre Handtasche wieder auf. „Das kann doch mal passieren." „Es sollte aber nicht so oft vorkommen", meckerte der Mann. „Beim nächsten Mal könnte etwas passieren, was nicht so glimpflich ausgeht."

„Nun komm schon, Erwin", sagte seine Frau. „Wir wollten doch nur Kuchen kaufen für unseren Besuch nachher." Er ging zur Seite, um dem Ehepaar Platz zu machen. Der Mann warf ihm im Vorbeigehen noch einmal einen grimmigen Blick zu. Dann lief er, diesmal etwas vorsichtiger, den letzten Treppenaufsatz nach oben. Er klingelte noch einmal an der Wohnungstür. Inzwischen wusste er, dass dann ihrer Wohnung ein Licht anfing zu blinken. Es dauerte einen Moment, dann machte sie auf.

Zur Begrüßung hielt er ihr das Ticket vor die Nase, das er gerade noch von Paul bekommen hatte. Für einen Moment sah er so ihr Gesicht nicht, doch als er die Karte wieder wegnahm, blickte sie ihn ungläubig und überrascht an. Als er am Tisch saß, kritzelte sie schnell auf einen Notizzettel Wo hast du das her? Geklaut war seine Antwort.

Dann erklärte er ihr, dass er eigentlich mit seinen Kumpels auf das Konzert gehen wollte, aber dass durch eine Verkettung unglücklicher Zustände jetzt keiner von ihnen mehr mitgehen konnte. Ich hoffe, dass die Verkettung unglücklicher Zustände alle am Leben gelassen hat. Skeptisch sah sie ihn an, die Stirn gerunzelt und eine Augenbraue hochgezogen. Du musst auch nicht mitkommen schrieb er.

Sie schüttelte schnell den Kopf. Sie würde gerne mitgehen, sagte sie, aber das Ticket sei viel zu teuer. Das musste er zugeben. Als das Konzert bekannt gegeben wurde, hatte er die Tickets gleich am ersten Verkaufstag gekauft. Erste Preiskategorie, Sitzplätze im Unterrang, nahe der Bühne und mit guter Sicht. Dass das nicht billig war, war ihm klar, aber er hatte gespart.

Daran soll es jetzt nicht scheitern. Immerhin lade ich dich ein, es ist so gesehen ein Geschenk. Ein Geschenk, dass ich nicht annehmen kann. Ich habe die CDs in deiner Sammlung gesehen, du kannst mir nicht sagen, dass du die Musik nicht gerne hörst. Und so ein Konzert ist doch garantiert ein anderes Erlebnis als nur in der bearbeiten Studioversion. Nach einer längeren Diskussion darüber sagte sie schließlich, dass sie dann wenigstens die Straßenbahn und das Essen und Trinken zahlen würde. Also alle Kosten, die neben dem Ticket noch anfielen. Darauf einigten sie sich und dann konnten es beide kaum noch erwarten, dass es endlich Samstag wurde.



„Wie sieht es eigentlich mit eurer Nachbarin aus?", fragte Katrin. Erwin und Siglinde hatte Besuch bekommen. Katrin und Peter, ein befreundetes Ehepaar. „Ihr sagtet doch, dass sie Studentin ist. Wie oft war die Polizei schon wegen der zu lauten Partys hier?", wollte Peter wissen. „Och", antwortete Siglinde. „Es ist ein ganz nettes, freundliches Mädchen. Wir können uns nicht über sie beschweren. Selbst wenn sie mal ein paar Freunde einlädt, dann übertreiben sie es nicht. Man kann ja nicht erwarten, dass die Jugend ganz lieb und fromm rumsitzt, um uns nicht zu stören."

„Über die etwas lautere Musik kann man da schon mal hinwegsehen", ergänzte Erwin. „Es kommt schließlich nur ganz selten vor." „Und wer ist der junge Mann, der uns vorhin auf der Treppe entgegenkam?", fragte Katrin. „Hat der etwas mit ihr zu tun?" „Das ist ihr Freund", antwortete Siglinde. „Auch ein ganz netter, freundlicher Kerl. Die beiden passen gut zusammen. Vielleicht wird ja aus den beiden nochmal mehr."


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Soundtrack: Lena- Lifeline


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