Kaum zu hören
Kaum zu hören
Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz, der breiten Fensterbank. An das Fenster gelehnt, hätte sie hinter sich auf die Straße blicken können, die drei Etagen unter ihr lag. Aber sie tat es nicht. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Es war ihr Wohnzimmer, ihr Schlafzimmer, ihr Arbeitszimmer. Die Küche befand sich in einer Nische um die Ecke, das Bad ebenso. Eine Einraumwohnung eben, wie jede andere auch. Klein, aber wenigstens bezahlbar.
Dennoch hatten all ihre Habseligkeiten Platz gefunden. Das alte Sofa, das sie schon seit Kindertagen begleitete und dessen Federung trotzdem nicht nachgeben wollte. Der Tisch mit der gesprungenen Glasplatte, ein Erbstück von einer Tante. Der alte Sekretär, der eigentlich dazu diente, Bücher zu wälzen, Texte zu lesen oder Facharbeiten zu schreiben. Meistens erledigte sie das jedoch im Fensterbrett sitzend, so gesehen diente der Sekretär nur als Ablage für Papierstapel, die sie irgendwann einmal sortieren musste.
Dieses irgendwann sollte möglichst bald sein, schoss es ihr durch den Hinterkopf, doch der Gedanke war schnell verloren, als ihr Blick weiterwanderte. Neben dem Sekretär stand eine niedrige Kommode, darauf der CD-Player mit den Boxen und ihre CD-Sammlung. Es waren unendlich viele Hüllen, die sich dort stapelten. Sie verwünschte es, dass sie so wenig Zeit hatte, sie alle anzuhören. Tage wie diesen gab es selten, äußerst selten. Tage, an denen sie einfach mal in ihrem Fensterbrett sitzen konnte, ohne einen Block oder ein Buch auf dem Schoß und einen Stift in der Hand zu haben.
Wenn das der Fall war, konnte sie die Musik nie so laut hören wie jetzt. Sie genoss es, wie der Bass dröhnte. Sie schloss die Augen, ihr Fuß tippte im Takt gegen die Wand. Alles um sie herum verschwand. Der Gedanke, einkaufen zu gehen, der Gedanke, die Papierstapel zu sortieren und der Gedanke, morgen wieder früh aufstehen zu müssen, um die Lesung besuchen zu können. Doch sie spürte einfach nur die Musik. Nach drei Liedern endete die CD jedoch und sie öffnete die Augen wieder. Die Anzeige auf dem Player stand still.
Sie seufzte, stand auf und öffnete das CD-Fach. Die Scheibe kam wieder ordnungsgemäß in die Hülle, diese wieder ordnungsgemäß in die Reihe der anderen CDs. Wenn doch nur die Stapel auf dem Sekretär so ordentlich wären... Was soll's, dachte sie. Vielleicht konnte sie ja nach dem Einkaufen schon einmal einen Teil durchsehen. Wenn sie jedoch nicht in den Feierabendverkehr geraten wollte, musste sie sich beeilen. Sie schnappte sich ihre Jacke, die Handtasche und den Wohnungsschlüssel. Dann zog sie die Tür hinter sich zu, schloss zwei Mal um und ging die Treppe nach unten.
„Du kannst aufhören zu klopfen, Erwin", sagte die Frau. „Der Spuk ist vorbei!" „Es wurde aber auch endlich Zeit", stimmte Erwin zu. „Irgendwann haben wir noch ein Loch in der Wand." „Du musst ja auch nicht jedes Mal mit dem Besen davor klopfen, wenn sie wieder ihre Musik hört", erwiderte die Frau. „Siglinde, das verstehe ich nicht. Eben nennst du es noch Spuk, jetzt hast du auf einmal Verständnis dafür", sagte Erwin verwirrt. „Was denn nun?"
„Ich habe nie behauptet, dass ich Verständnis dafür habe", erklärte Siglinde. „Ich finde nur, wir sollten die Macken der anderen etwas ruhiger nehmen. Uns nicht jedes Mal darüber aufregen. Es geht doch nun schon anderthalb Jahre so, inzwischen müssten wir uns doch daran gewöhnt haben."
„Wir haben uns aber leider noch nicht daran gewöhnt", sagte Erwin und setzte sich wieder zu seiner Frau auf das Sofa. „Das ist ja das Problem. Die Macke, so wie du es nennst, ist wohl einfach..." „Willst du sagen, komisch? Anders?", half ihm Siglinde aus. „So in etwa würde ich es beschreiben", stimmte Erwin zu. „Wir haben uns damals so sehr gefreut, dass endlich wieder ein junger Mensch in dieses Haus zieht. Selbst, wenn es nur die kleine Einraumwohnung ist", erinnerte sich Siglinde.
„Damals wussten wir aber noch nicht, dass dieser junge Mensch so speziell ist", erwiderte ihr Mann. „Wir werden es weiterhin ertragen müssen. Du willst ja nicht zur Hausverwaltung gehen. Dann hätten wir vielleicht Ruhe, aber du klopfst ja lieber mit dem Besen gegen die Wand", erklärte Siglinde. „Ich werde einmal die anderen Nachbarn fragen, was sie davon denken", überlegte Erwin. „Wenn sich die anderen auch gestört fühlen, dann unternimmt die Hausverwaltung vielleicht eher etwas dagegen als wenn nur wir beiden Alten klagen."
„Vielleicht haben sie anderen, im Gegensatz zu uns, aber auch einfach schon realisiert, dass das eine neue Generation ist", meinte seine Frau. „Wie dem auch sei, jetzt haben wir unsere Ruhe." „Vorerst zumindest", sagte Erwin säuerlich und griff zur Fernbedienung.
***
Soundtrack: Herbert Grönemeyer- Musik nur, wenn sie laut ist
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