Muscheln im Sand
Das Haus an der Düne ist genauso, wie es in der Anzeige beschrieben worden war. Er tritt durch die hölzerne Tür, die weiß angestrichen ist, und platziert im Zimmer am Ende des Flures die beiden Koffer links und rechts von seinen dünnen Beinen. Auf der Hinfahrt hatte er „Fan von dir" gehört. Er knüpft den Mantel auf und setzt sich hin. Er war angekommen. Die raue Ostseeluft würde ihm gut tun, das wusste er. Er hatte schon lange von der Küste geträumt, vom feinen Strand, von den Leuchttürmen, die rot und weiß gestreift gewesen waren, blau, die in die Welt hinausstrahlten, den sandigen Dünen, das alles ist schließlich wahr geworden. In der Wohnung umgeben ihn blaue Farben: die Wände sind hellblau gestrichen, weiße Möbel stehen neben einer Couch mit hellblauen Kissen. Die großen Fenster der Veranda blicken hinaus in die Weite und auf die See, auf die Möwen, die am Himmel fliegen, auf die Wellen, die sich brechen und auf den Strand, der nur wenige Meter entfernt ist. Es ist ein kleines Haus, in dem er sich befindet. Es hat eine Etage, einen kleinen Dachboden, zwei Fenster, die aus ihm herausblicken, schwarze Schindeln halten den Regen fern, aber es reicht. Es liegt ganz ruhig und einsam am Strand, und obwohl der Strand die Düne zusehend bedroht, steht es weiterhin standfest an Ort und Stelle. Das Wetter ist sonnig, es weht ein Wind, es ist, wie er es sich vorgestellt hat.
Er geht hinaus, er setzt sich in den Sand und vergräbt seine Hände. Er atmet tief ein. Sein schwarzer Mantel, die Mütze, der Schal und die Handschuhe spenden ihm Schutz und Wärme. Der Wind braust um seinen Körper und die Sonne scheint hinab.Im Sand liegen Muscheln und er betrachtet sie. „Muscheln sind wirklich faszineirend", denkt er sich. Das Leben, das in ihnen war, ist verschwunden. Er denkt und träumt. Er stellt sich vor, wie sie wieder am meeresgrund liegen würden, die Muscheln, wie sie den Boden schmückten, wie sie von unten die Wellen betrachteten und nicht an das Morgen dachten. „Kalkschalen", sagt er dann und lacht. Er nimmt eine in die Hand und betrachtet sie näher. „In dir war mal Leben" sagt er dann zu sich selbst. „Das ist alles, was von dir übrig geblieben ist". Sanft streichelt er über die Schale. „Sobald man dich sieht, bist du nicht mehr existent", er verdreht den Kopf und lächelt einmal ungläubig. „Du bist das Leben und ich spiele mit dir. Alles, was von dir übrig bleibt, ist diese Schale. An dich erinnert ein Fragment, dein toter Körper erstrahlt über alles, was kleiner ist als du, über die Körner des Sandes, deinen Ruhm kennst du nicht, aber alle wissen von dir", er legt sie zurück. „Erstaunlich, dass das Leben rühmt, wenn gestorben worden ist", sagt er abschließend. Sein Blick schweift wieder auf die Wellen, auf den Leuchtturm, der links von ihm steht, auf die Gräser der Dünen, die im Winde leicht wehen, auf die Wellen, die sich brechen, auf die Möwen, die kreisen und auf den Mann, ihm auf der rechten Seite entgegen kommt.
Er ist ganz braun. Sein markanter Körper glänzt in der Sonne. Er hat kaum etwas an. Um seinen Hals hängen Muscheln, die er verkauft. Er ist Muschelverkäufer, aber nur halbtags; dann hat er nichts mehr um seinen Hals, dann ist es nur noch leer, dann legt er die Muscheln ab und ist nur noch der, von dem man denkt, dass er es ist, dann fehlen die Muscheln, dann fehlt sein Gefühl für diesen Ort, dann ist er anders, dann interessiert er sich für andere Dinge. Er geht zu den anderen Besuchern und Besucherinnen des Strandes, manchmal kann er eine Muschel verkaufen, zählt das Geld, was man ihm gibt, geht weiter und die Prozedur wiederholt sich. Der Mann im Sand beäugt ihn, doch kurz bevor der Muschelverkäufer ihn erreicht, erklimmt er die Düne und verschwindet wieder dort, wo er hergekommen war: am Horizont. Ansonsten wird das Bild nur sehr spärlich zerbrochen, die Szene beruhigt sich wieder, nach dem der Mann mit den Muscheln gegangen ist, scheint es, als wäre alles wie immer gewesen, als hätte sich nichts verändert. Der Mann im Sand verfolgt ihn noch mit seinem Blick, er holt die Hände aus dem Boden, streift sie ab und macht sie sauber. Der Wind trifft ihn, aber er befreit ihn nicht, es ärgert ihn. Er atmet die salzige Luft ein, sieht auf den Leuchtturm, der ihm die Sicht versperrt, hört die kreischenden Möwen und fürchtet sich vor den Wellen, die immer bedrohlicher näher kommen. Schließlich geht er, streift sich den Sand von seinem Körper, tritt in einen alten Anglerhaken, flucht kurz, und geht in das kleine Haus, das hinter ihm auf der Düne steht. Er setzt sich hin und schreibt. Einst hatte er über Wünsche wie Träume philosophiert und darüber, wie verhängnisvoll doch die Hoffnung gewesen war. Er sieht aus den Fenstern und verliert sich in dem Blick, der sich vor ihm auftut. Er träumt, bis es dunkel wird.
Er läuft über die Promenade, die hinter seinem Haus entlanggeht. Um seinen Hals hängt ein Anhänger mit Aphrodite. Es dämmert und die ersten Laternen gehen an. Frauen und Männer haken sich ein und spazieren durch den Abend. Es wird ruhiger an der Ostsee, die ersten Sterne blitzen auf, aus den Fichtenwäldern rauscht der Wind. Die Budenbesitzer packen langsam ihre Stände zusammen und in den Häusern gehen erste Lampen an. Vor einem weißen Haus erscheint ein Ober im schwarzen Frack. Er lässt den Mann hinein, er legt den Mantel ab und wird an einen Tisch gesetzt. Er ist dankbar, der Fuß hatte wieder zu schmerzen begonnen. Er setzt sich hin und sieht in die Mitte des Raumes. Dicht an dicht sitzen die Menschen, sie unterhalten sich, es ist laut aber doch angenehm, sich inmitten des Trubels zu befinden, mehrere Kellner und Kellnerinnen laufen an den Tischen vorbei, sie tragen die Gerichte, Muscheln, auf ihren Tellern, laufen hin und her, gar elegant jonglieren sie die Gerichte auf ihren Händen. Die Frauen an den Tischen tragen teure Ohrringe, Silber und Gold zitieren ihre Körper. Die Herren sitzen in ihren hochbepreisten Anzügen, dessen Preis, aber Wert sie nicht mehr wahrnehmen können. Auch den Muschelverkäufer kann er erblicken. Er sitzt am anderen Ende des Raumes bei der Venus von Milo. Um ihn herum haben sich andere Männer und Frauen gesetzt, in dessen Mitte sich der Muschelverkäufer befindet. Sie alle lachen, sein weißes Hemd ist leich aufgeknöpft. Eine Frau trägt eine Federboa. Er beobachtet die Personenkonstellation noch lange.
Als er sein Essen bekommt, stehen vor ihm keine Muscheln. Er isst sie nicht gerne. Auf dem Tisch am Ende des Raumes platziert man Austern und Jacobsmuscheln. Der Muschelverkäufer verschlingt sie und obwohl er schützend seine Hand drunter hält, kleckert er leicht, er lacht. Die Muscheln steckt er sich in die Tasche, als die anderen nicht gerade hingucken. Sein schwarz gelocktes Haar, das ihm sehr gut steht, hängt lässig über seiner Stirn. Seine anmutig klingende Stimme erfüllt den vollen Saal und der Mann, der keine Muscheln isst, verlierst sich ein weiteres mal in dieser Gestalt. Er verdreht den Kopf und schmiegt sich in die Geräuschkulisse des Restaurants ein. Aus seinen Gedanken wird er geholt, als der Ober ihm seinen Teller wegnehmen möchte und fragt, ob alles geschmeckt habe. Er hätte die Muscheln probieren sollen, fügt er an. Der Mann nickt, lehnt dankend ab, sucht den Blick des Muschelverkäufers, guckt ihn ein letztes Mal an, bevor sich die Blicke treffen und der Mann am EInzeltisch aus seinem Portmonee einen blauen Schein hervorholt. Er legt ihn auf den Tisch, holt seinen Mantel, die schwarze Mütze und den gelben Schal und eilt zügig aus dem schönen Restaurant. Als er wieder über den gepflasterten Weg läuft, sucht er wieder nach dem Blick des Muschelverkäufers. Sie treffen sich nicht. Eine Träne rollt einsam über sein Gesicht. Es war wieder passiert. Er besinnt sich, schüttelt die Träne ab, als wäre nichts passiert und lächelt. Die Tropfen fallen auf den harten Stein, das Wasser trifft keine Strand, es versiegt im Boden. Es war wieder passiert.
Es ist sein letzter Tag. Er sitzt wieder am Strand. Er vergräbt wieder seine Hände im Sand und sieht wieder auf die Wellen, die vor ihm in den Fluten untergehen. Links steht der rot-weiß gestreifte Leuchtturm, hinter ihm steht das kleine Haus und das Dünengras weht im Wind. Wieder denkt er nach, wieder atmet er die Seeluft ein und wünscht sich, dass sie ihn verändern würde. Die Möwen kreisen und landen, Schwäne laufen umher, es ist alles wie immer. Der Muschelverkäufer hat sich wieder seine Produkte um den Hals gehängt und verkauft die Überreste eines Lebens, welches angespült wurde. Er hat es gefunden, ein Loch hineingebort, eine Schnur herumgewickelt und trägt es nun als Schmuck. Wenn es jemandem gefällt, verkauft er es. Die Muscheln, die neben dem Mann im Sand liegen, funkeln in der Sonne. Die Schalen schimmern im Sonnenlicht und wieder beäugt er sie. „Ihr seid etwas ganz besonderes", sagt er dann und fragt sich, ob sie auch eines Tages an der Kette des Muschelverkäufers hängen. „Für ihn werden sie nur eine Muschel sein", denkt er sich. „Doch ich, der euch ansieht, weiß, dass ihr alle ganz eigen seid", er kichert etwas und nimmt sich wieder eine Msuchel zu sich. Ihr weißer Kalk bleibt an seinen Fingern kleben. Er putzt sie etwas, pustet einmal drüber, um den Staub abzubekommen. Er lächelt. Er legt sie zurück. Er guckt in den Himmel. Er kneift ein Auge zu, weil die Sonne am Himmel ohne Wolken scheint. „War es das?", fragt er sich. Am Ende hatte er die Muscheln zurückgelegt. Er saß, mit dem Händen im Sand, und hatte ihr nichts hinterlassen. „Und so sehr es mich interessiert, wo du hergekommen bist", sagt er zu sich selbst, „so sehr interessiert es mich, was mit dir geschehen wird." Er atmet die Seeluft ein und lächelt. „Ob du auch eines Tages an der Kette vom Muschelverkäufer hängen wirst? Wirst du dann auch einfach zu jemand anderen herüber gereicht als ein kleines Souvenir? Wer dich bekommt", sagt er dann, „der wird in dir eine Erinnerung sehen, das behaupte ich ohne Zweifel." Er guckt auf den Fuß und die Wunde, die ihn ziert. „Aber es geht nicht um deine Geschichte", stellt er dann fest. „Es geht nicht darum, wer du bist, was du erlebt hast, wie schlau du warst, dass du nun hier bist. Im Endeffekt geht es darum, dass du hübsch genug bist, dass sich jemand deine Gestalt aussucht. Eines Tages wirst du um jemandes Hals hängen und das nur, weil jemand dich als schön genug empfand. Er nimmt dich, weil er dich will; nicht, weil er eine Bedeutung in dir sieht." Er greift in die Tasche seines schwarzen Mantels und holt den Fischerhaken hervor. „Manchmal sticht man sich", er verdreht seinen Kopf. „Aber trotzdem behalte ich ihn. Er wird in eine meiner Kisten kommen, die auf dem Dachboden verstaut sind, und mich an diese Erzählung erinnern." Nachdenklich lächelt er. Er sieht wieder in den Himmel. Wieder kneift er ein Auge zu. „Wer Gutes vollbringt, der soll Gutes bekommen", träumt er dann. „Manchmal können wir nicht entscheiden, was mit uns passiert und warum wir dort sind, wo wir hinkommen. Manchmal werden wir an einen Strand gespült und dann trifft man Muschelverkäufer oder eben mich." Vor ihm streiten sich ein paar Möwen um ein Stück Brot. „Manchmal bekommen wir nicht das, was wir wollen", er verzieht sein Gesicht und beobachtet die keifenden Vögel. „Vielleicht sind es gerade jene Momente, die unser Leben ausmachen, die unser Leben in eine neue Bahn lenken. Es sind jene Momente, die wir als unangenehm empfinden. Denkst du das nicht auch?", er lacht. „Wo wohl deine zweite Hälfte ist?", fragt er sich und sieht umher. Er kann keine passende Muschelhälfte finden. Er sucht weiter.
Der Muschelverkäufer ist nur wenige Meter entfernt. Wieder ist er leicht bekleidet, wieder sitzt er mit seinem Mantel am Strand. Wieder kauft ein Pärchen eine Muschel und wieder zählt der Verkäufer seine Einnahmen. Er läuft und sieht auf den Boden, ob er gute Muscheln findet. Er stapft mit seinen Fußen im Sand. Der Mann im Mantel beäugt ihn wieder und verdreht seinen Kopf. Wieder spricht er ihn nicht an. Der Muschelverkäufer kommt näher, sein Blick sucht etwas. Sicher will er passende Muscheln für seinen Verkauf finden. Er braucht Muscheln, die schön genug für ihn sind, die groß und komplett erhalten sind. Weil die Sonne ihn blendet, hält er seine Hand schützend vor seine Augen. Er sieht sich um, sieht den Mann im Sand, verzieht kurz sein Gesicht, sucht weiter nach Muscheln und läuft vorbei.
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