44. Nein nein, wir sind nur Freunde (und andere Lügen), Pt.2

   




kapitel vierundvierzig ——— Nein nein, wir sind nur Freunde (und andere Lügen), Pt.2


    ༄ Hannah

    EINE VON HANNAHS GRÖßTEN SCHWÄCHEN war ihre Schwierigkeit damit, sich mit ihren Problemen zu konfrontieren. Wenn sie nicht wusste, wie sie mit einer Situation umgehen sollte, versuchte sie sie zu meiden und sie zu verdrängen, bis sie sich vielleicht von alleine löste. Sie war sich darüber bewusst, dass das keine lobenswerte Eigenschaft war, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Überraschte es sie überhaupt, dass es Mittwoch war und sie seit dem Wochenende nicht mehr mit Remus geredet hatte? Gut, sie hatte ihre Essenszeiten verschoben, um nicht zur gleichen Zeit wie er in der Großen Halle zu sitzen — vielleicht wäre das nun wirklich nicht nötig gewesen.

Es war nur so, dass Hannah Angst vor dem Gespräch danach hatte. Das Gespräch danach war nämlich so etwas wie das letzte Gericht — es war das alles entscheidende Gespräch. Und für das alles entscheidende Gespräch musste man ein wenig mehr Klarheit über sich selbst haben, wenn man es nicht später bereuen wollte. Für sie war es gerade das Gute gewesen, dass sie in diesem Moment nicht hatte darüber nachdenken müssen.

Also vergrub sie sich in ihren Schulbüchern und lernte für die UTZ-Prüfungen, wo sie nur konnte. Zugegeben, sie lernte noch nicht, aber sie wiederholte alles Prüfungsrelevante, um später alles zusammengefasst zu haben, wenn sie dann mit dem Lernen begann.

„Kann ich deine Zusammenfassungen haben, wenn du fertig bist?" fragte Jo, während sie Hannah beim Schreiben beobachtete. Sie sah zu ihr auf.

„Klar." entgegnete sie. „Willst du keine eigenen machen?"

Jo lachte über ihre Frage. „Du bist doch in allen Fächern, die ich habe: Verwandlung, Zauberkunst, Verteidigung gegen die dunklen Künste und Zaubertränke. Bis auf Zaubertränke wird das eh nicht so schwer. Wahrscheinlich übertreiben alle nur, was die Prüfungen angeht."

„Darauf will ich mich nicht verlassen." entgegnete Hannah schlicht und schloss das Buch vor ihrer Nase, um zum nächsten überzugehen.

„Wann reden wir eigentlich mit Remus?" fragte Jo weiter.

„Du meinst, wann rede ich mit Remus." korrigierte sie sie und Jo verdrehte die Augen.

„Ich bin doch immer da." sagte Jo. „Ich bin wie ein toter Verwandter sozusagen. Nicht sichtbar, aber immer da."

Hannah sah sie mit offenem Mund an und machte eine belustigte Geste. „Gut zu wissen." sagte sie langsam und sah auf den Tisch vor ihr. „Das wird auch noch nach der Schule so sein, oder?"

Jo legte den Kopf schief. „Willst du mich loswerden? Falls ja, schaffst du das sowieso nicht, also versuch es gar nicht erst."

„Nein." sagte Hannah sofort und redete sich ihre Sorgen Stück für Stück von der Seele. „Ich habe nur ein bisschen Angst, dass alles nach der Schule... anders wird. Mit dem Krieg und... du weißt schon."

Diesmal wirkte selbst Jo ernst. „Ich habe Angst um meinen Dad. Todesser haben es auf Auroren abgesehen — und auf ihre Familien." meinte sie und Hannah atmete tief durch.

„Sei vorsichtig, ja?" fragte sie, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen könnte, was halbwegs angemessen war.

„Du aber auch." Sie machte eine kurze Pause. „Und red endlich mit Remus."

„Ja, ich weiß." entfuhr es Hannah hilflos. „Ich werde einfach versuchen, dass es nicht allzu unangenehm wird."

„Ich wette zehn Galleonen, dass es sehr unangenehm wird."

Hannah betrachtete Jo schweigend. „Ehrlich gesagt wette ich nichts dagegen."

„Was ist eigentlich das Problem? War er so schlecht?" fragte Jo und bei ihrer ernsten Stimmlage begann sie automatisch zu lachen. Sie liebte Jo für nichts mehr, als dass sie sie so leicht auf andere Gedanken bringen konnte. „Okay, das Lachen kann man jetzt beidseitig interpretieren, aber ich denke—"

„Du hast ihn doch sogar geküsst." meinte Hannah und Jo zeigte mit dem Finger auf sie.

Das", begann sie sofort sich zu verteidigen, „war nur eine Sekunde—"

„Fünf." korrigierte Hannah sie und Jo verdrehte die Augen.

„Genauso wenig wie du Sirius geküsst hast, war das mit Remus und mir auch kein richtiger Kuss."

„Wie auch immer." kam Hannah bei der Erwähnung von Sirius zum Thema zurück und seufzte schwer. „Das Problem ist, dass ich mich schlecht fühle wegen der Sache mit James."

„Die Sache mit James... Jaja." wiederholte Jo. „Aber in erster Linie gab es diesen Kuss mit Remus ja, weil es sich richtig angefühlt hat, oder?"

„Ja..." entgegnete Hannah langsam. „Ja, das stimmt." Sie atmete frustriert aus. „Okay, du hast recht, ich rede jetzt mit ihm. Genau jetzt. Ich werde jetzt aufstehen und—" Während sie sprach, erhob sie sich von ihrem Stuhl, hob demonstrierend die Hände und drehte sich um, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. Als sie sich jedoch umdrehte, wurde sie fast von den Füßen gerissen.

„Hannah." sagte Remus, kaum dass sie gegen ihn gestoßen war. „Hi."

„Hi." wiederholte sie und sah zu ihm auf.

„Hi." sagte Jo hinter ihr und Remus erwiderte ihren Blick kurz.

„Hi, Jo."

Okay, perfekt, das hatten sie hinbekommen.

„Können wir reden?" fragte er schließlich und Hannah lächelte mit einem hastigen Nicken.

„Wir gehen am besten raus, weil die Bibliothek ja nicht so der Ort ist für..."

„Ja." entgegnete Remus sofort, kaum dass sie eine kurze Pause machte und mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. Ihr Kopf fühlte sich wieder völlig leer an — sie wusste nicht einmal, was sie sagen sollte. Normalerweise hätte sie sich einen Text zurechtgelegt, aber selbst dafür war sie zu durcheinander. Wer wusste schon, was Remus sagen würde?

Sie folgte ihm aus der Bibliothek und fühlte sich unwillkürlich zu dem Tag zurückversetzt, an dem sie sich mit James gestritten hatte. Sie musste aufhören daran zu denken. Diese ganze Situation würde sich vereinfachen, sobald sie ihre Gefühle wieder geordnet hatte.

„Irgendwie haben wir es geschafft seit Samstag nicht mehr zu reden." begann er. „Und du warst irgendwie plötzlich ziemlich... verschollen."

Hannah stieß einen hilflosen Laut aus. „Ja, ich hatte so viel zu tun. Das war nicht mit Absicht. Die ganzen Hausaufgaben... ugh. Und ich habe mit ein paar Zusammenfassungen angefangen." Sie redete, ohne Luft zu holen. „Okay, okay. Die Wahrheit ist, dass ich nicht sonderlich gut mit... also ich wusste einfach nicht, was ich sagen soll. Oder machen. Aber wir könnten ja — also, ich wollte morgen noch die Hausausgabe für Verteidigung machen, wir könnten zusammen lernen, wenn du magst."

„Lernen..." wiederholte Remus und sah sie an, als versuchte er, eine verschlüsselte Nachricht zu dekodieren.

„Ich kann vorbei kommen. Zu dir. Also wir müssen uns ja nicht in die Bibliothek setzen..." Sie unterdrückte den Impuls, mit dem Kopf zu schütteln. Jo hätte ihre zehn Galleonen definitiv bekommen — vielleicht würde sie ja auch mit Wetten reich werden.

„Ah, ja, klar." entgegnete Remus und lächelte in sich hinein. „Wir lernen."

„Ja, genau." meinte Hannah sachlich.

Sagen wir es so: Remus hatte nicht damit gerechnet, dass Hannah am nächsten Nachmittag tatsächlich mit fünf Büchern in den Händen auftauchen würde, mit denen man jemanden erschlagen könnte, wenn man wollte. Er sah zu ihr hinunter, als sie mit einem breiten Lächeln zu ihm aufblickte, sich kurz umsah und schließlich an ihm vorbei in den Schlafsaal ging. Etwas perplex zog er die Augenbrauen zusammen, als sie sich wie selbstverständlich ans Ende seines Bettes setzte und ihre Bücher auf der Bettdecke verteilte.

„Du kannst dich auch an den Tisch hier setzen." bot er ihr an, doch Hannah lächelte nur und sah zu ihm auf.

„Ich mache 63% meiner Hausaufgaben im Bett, das ist schon okay."

„63?" wiederholte Remus.

„Grob geschätzt." Sie grinste leicht. Es fiel ihr plötzlich leichter, ihr schlechtes Gewissen zu überspielen. Sie schaffte es sogar, weniger daran zu denken, seit sie hier war. Remus setzte sich ihr gegenüber und Hannah zog die Augenbrauen zusammen, als sie zu ihm aufsah. „Wo sind denn deine Sachen?"

„Meine... Ja, ja, sicher." Remus sprang wie ein aufgescheuchtes Huhn auf, kramte seine Bücher hervor und setzte sich schließlich Hannah mit seinen eigenen Büchern gegenüber.

Sie redeten ein wenig über alle möglichen Lehrer — naja, hauptsächlich über Professor Slughorn und seinen Slug-Club — die bevorstehenden UTZ-Prüfungen, wie Sirius im zweiten Jahr von Professor Sprouts Lieblingspflanze gebissen worden war und davon, dass Hannah mal einen Hund wollte. Und einen Vogel. Aber einen, der sprechen konnte. Am liebsten einen Papagei. Oh, und sie sprachen über Jo. Es war noch nicht ganz März, aber seit Ravenclaw Slytherin besiegt hatte, war Jo ganz erpicht auf das Spiel zwischen Gryffindor und Hufflepuff. Wenn Gryffindor als Sieger hervorging, würde es sehr knapp für Ravenclaw werden und das Spiel im Mai gegen Gryffindor würde alles entschieden.

„Du solltest auf jeden Fall James' und Sirius' Getränke im Auge behalten, sollte Gryffindor nächste Woche gewinnen. Und ihr Essen. Und generell alles, was sie anfassen." meinte sie, während sie die theoretischen Aufgaben für Pflege Magischer Geschöpfe bearbeitete.

„Muss ich das nicht immer?" erwiderte Remus, bevor sein Blick fragender wurde. „Wieso genau?"

„Oh, wenn der Quidditchdämon in Jo die Überhand gewinnt." Hannah nickte betont ernst. „Aber ich glaube, ihre Augen würden dann rot werden und wir könnten sie rechtzeitig retten."

Remus lachte leicht und beobachtete sie schweigend dabei, wie sie ihre Hausaufgaben machte.

„Okay, das hätte ich und— alles okay?" fragte sie, als sie ihr Pergament zur Seite legen wollte und ihren Blick zu Remus hob, der die letzten Minuten überhaupt nichts gemacht hatte.

„Ich dachte nur..." begann er und schüttelte den Kopf über sich selbst. „Ich hab' eigentlich nicht erwartet, dass wir wirklich Hausaufgaben machen."

„Oh." Hannahs Augen weiteten sich. „Oh."

Remus sah ihr nicht in die Augen und lachte verlegen vor sich hin.

„Das ist... äh... sehr vorausdenkend von dir."

„Ich dachte—"

„Ja." beendete Hannah seinen Satz.

„Nein." entgegnete Remus. „Ja. Ich... Merlin, manchmal könnte ich echt einen Zeitumkehrer gebrauchen."

„Oh Mann, ich auch..." murmelte Hannah leise und als es ruhig wurde, sahen sich die beiden schweigend in die Augen. Sie konnte ihr Herz in ihren Ohren schlagen hören und schluckte schwer. Mit einem kurzen Zögern beugte Hannah sich schließlich nach vorne, nahm ihren ganzen Mut zusammen, strich eine kleine Locke aus seiner Stirn und küsste Remus sanft, bevor sie abwartend ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht verharrte und ihre Augen flackernd öffnete.

Remus sah sie an. „Ich wollte dich nicht ablenken." meinte er bedächtig.

„Schon passiert." entgegnete sie mit einem leisen Lachen und als er sich mehr nach vorne beugte, sank sie wieder in ihren Schneidersitz zurück und ließ sich von ihm küssen. Er schob ihre Bücher mit ihrem Pergament ein wenig zur Seite und fuhr mit einer Hand durch ihr Haar. Sie fühlte sich völlig benommen, aber sie dachte daran, was Jo gesagt hatte: Es fühlte sich gut an. Das tat es.

Während sie immer näher aneinander rückten und sie ihre Arme um seinen Hals legte, hielt er plötzlich inne. Hannah runzelte die Stirn, als er sich von ihr löste und den Kopf zur Seite drehte. „Das ist James." sagte er plötzlich und bevor Hannah fragen konnte, wie zur Hölle er das an den Geräuschen der Treppe erkennen konnte, die sie nun auch hörte, saß er innerhalb von drei Sekunden genauso auf seinem Platz wie vorher — er hatte sogar ein Buch in seiner Hand und hatte ihre Rolle Pergament wieder näher an sie heran geschoben. Sie griff schnell nach ihrer Feder und versuchte sich auf das Geschriebene zu konzentrieren, als die Tür aufging und tatsächlich niemand geringeres als James Potter im Türrahmen stand.

„Moo— Hannahlein, was machst du denn hier?"

Für einen kurzen Moment war Hannah überrascht über seinen Ausruf, doch dann dachte sie daran, was sie zu ihm gesagt hatte: Dass sie so tun sollten, als wäre nie etwas passiert. Und die Tatsache, dass James das tatsächlich gerade tat — und zwar so überzeugend, dass selbst sie hätte glauben können, dass es nicht gespielt war — traf sie unerwartet.

James kam auf die beiden zu, stützte sich auf dem Fußende direkt hinter Hannah ab, sodass sie die Wärme, die seine Arme und sein Oberkörper ausstrahlten, hinter sich spüren konnte, auch ohne hinzusehen. Sie erstarrte förmlich, als sie spürte, wie er sein Kinn auf ihrer Schulter ablegte, um zu sehen, was sie schrieb. „Binns bringt was über Grindelwald bei? Das liegt ja nicht mal fünfzig Jahre zurück."

Hannah atmete tief aus und legte ihre Feder wieder ab. „Naja, vielleicht ist er ja noch gar nicht so lange tot." brachte sie eine Antwort heraus, während James neben ihrem Ohr ein skeptisches Geräusch ausstieß. Als er sich wieder aufrichtete, entkrampfte sich ihr Körper und sie machte ein finsteres Gesicht, als James zwei Hände auf ihrem Kopf ablegte.

Remus sah auf und lachte leicht.

„Remus, ich glaube, Peter braucht uns jetzt." sagte James plötzlich so ernst, dass Hannah einen kurzen verwirrten Blick mit Remus austauschte. Schließlich drehte sie sich leicht herum, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Was ist passiert?" fragte Remus.

„Erinnerst du dich noch an die kleine Weatherbee?"

„Emilia?" schlug Hannah vor und bekam ein ernstes Nicken von James. „Deren Familie untergetaucht ist?"

„Sie haben sie gefunden." sagte er, kaum dass sie ihren Satz beendet hatte.

Hannah wurde schlecht. „Du meinst...?" Sie ließ ihre Frage im Raum stehen, während Remus sich mit einer Hand übers Gesicht fuhr.

„Scheiße." murmelte er und James atmete tief durch.

„Du sagst es." meinte er.

„Alle?" fragte Hannah leise.

James nickte. „Es ist noch keiner entkommen, wenn er jemanden tot wollte."

„Wo ist Peter?" fragte Remus nach einer kurzen betretenen Pause.

„Unten. Es wurde eben erst offiziell."

Remus nickte und als er gerade zum Aufstehen ansetzte, drehte er sich noch einmal zu Hannah. Er wirkte jedoch nicht wirklich so, als wäre er mit seinen Gedanken bei ihr. „Hannah, ich muss zu Peter, du— du verstehst das."

„Ja." sagte Hannah etwas atemlos. „Ja, klar."

James sah auf den Boden und nickte. Sie hatte sie noch nie so ernst erlebt — aber ihr war gerade selbst nicht danach, etwas zu sagen. Als Remus vorging und James ihm folgen wollte, drehte er sich noch einmal zu ihr um. Erst da realisierte Hannah, dass sie immer noch hier bei den Gryffindors war und nicht einfach sitzenbleiben und ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte, während sie gegen eine Wand starrte.

„Kommst du?" fragte James leise und Hannah sah zu ihm auf. Es fühlte sich besonders an, plötzlich alleine in diesem Raum mit ihm zu sein. James sah ihr in die Augen und beobachtete sie, als sie aufstand und auf die Tür zuging. Sie wurde etwas langsamer, als sie an ihm vorbeikam und warf ihm einen unsicheren Blick zu. Als er sie jedoch weiter schweigend ansah, ging sie weiter.

„Läuft wohl gut mit Remus, hm?" fragte James plötzlich und Hannah hielt mitten im Türrahmen inne. Nach dem, was sie gerade erfahren hatte, war ihr wirklich nicht nach Worten. Es fröstelte ihr bei dem Gedanken daran, was ihnen allen nach der Schule bevorstehen würde. Hogwarts war so sicher — sie neigte oft dazu, es zu vergessen.

„Mhm." entgegnete sie und James nickte schweigend.

„Cool." sagte er schließlich und Hannah hob den Blick, um ihn anzusehen.

„Ich habe das Praktikum bekommen." platzte es aus ihr heraus, da sie wirklich nichts anderes herausbekam. „Beim Tagespropheten."

James sah sie an und seine Mundwinkel hoben sich leicht, als er das hörte. „Das ist toll." entgegnete er mit sanfter Stimme. „Nur..."

Hannahs Blick wurde fragender, als er nach den richtigen Worten suchte.

„Journalist im Moment zu sein ist nicht ungefährlich. Sag nichts, was dich zur Zielscheibe macht. Sie haben Leute für weniger umgebracht."

„Haben wir die Gefahr nicht heute in jedem Beruf?" fragte Hannah zurück, bevor sie die Schwere dieses Thema nicht mehr herunterspielen konnte. „Ich werde auf mich aufpassen."

„Gut." entgegnete James und legte eine Hand auf ihren Arm, ohne ihr in die Augen zu sehen. Erst nach ein paar Sekunden sah er wieder zu ihr auf. Hannah atmete tief durch. „Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass dir etwas passiert."

Für einen Moment brachte sie bis auf ein trauriges Lächeln überhaupt nichts heraus. „Ich weiß." sagte sie dann leise. „Ich auch nicht."

. . .

    Hannah erkannte endlich, dass sich etwas ändern musste, als sie auf ihrem Rückweg Lily auf der Marmortreppe begegnete und ihr erster Gedanke der daran war, was für eine Begrüßung sie murmeln sollte. Schließlich hatten sich die Dinge ja geändert. Es war Zeit mit Lily zu reden. Hannah vermisste sie — und das merkte sie gerade heftiger als die ganzen letzten Tage.

„Lily." rutschte es aus ihr heraus, als sie ein paar Treppenstufen vor ihr ankam und zu ihr hinunterlief. „Ich..."

Lily sah sie fragend an. „Ich hab' gehört, du und James seid wieder Freunde?"

Hannah runzelte die Stirn. „Hat er das erzählt?" fragte sie verwundert und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie wusste selbst nicht, was ihr gerade durch den Kopf ging. Es war einfach schwierig zu verstehen.

„Heute beim Frühstück." meinte Lily. „Aber er hat nicht viel erzählt." Sie atmete tief durch. „Ich wollte nur, dass ihr redet und ehrlich miteinander seid. Ich habe nie gewollt, dass wir—"

„Ich auch nicht." unterbrach Hannah sie schnell und lächelte leicht, als Lily sie mit einem sanften Blick betrachtete.

„Vielleicht hätte ich vorher mit dir reden sollen." meinte sie. „Aber ich glaube, niemand ahnt, wie stur du bist und du hättest mir das wieder ausgeredet."

„Man kann dir etwas ausreden?" Hannah machte ein ungläubiges Gesicht und Lily grinste.

„Nur mit Gewalt." sagte sie schlicht und Hannah sah schockiert aus.

„Willst du mir damit sagen, dass ich gewalttätig bin, Lily Evans?" Sie legte sich eine Hand ans Herz und Lily lachte.

„Damit will ich sagen, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist, der keine Gewalt braucht." Sie zwinkerte ihr zu. „Was...?" fuhr sie etwas ernster fort und Hannah sah sie nervös schlucken. Sie wusste nicht, was in Lily vorging und wie sie im Moment zu James stand. Aber in diesem Moment erkannte sie, dass auch ihr die Angelegenheit mit James ernsthaft nahe ging. „Was ist dabei rausgekommen?"

Hannah atmete tief durch. „Es wäre nicht nötig gewesen." sagte sie und ihr Herz fühlte sich seltsam schwer an. „Ich schätze es sehr, dass du so an mich — an uns — gedacht hast, aber... Remus und ich haben übrigens irgendwie... naja."

Bei diesen Worten wich Lilys nachdenklicher Miene ernsthafte Überraschung. „Du und... Remus?" entfuhr es ihr. „Das... oh. Oh mein Gott." Sie schien halb mit sich selbst zu sprechen und Hannah zuckte verlegen mit den Schultern.

„Ja..." begann sie. „Ich weiß auch nicht. Und James und ich haben wirklich geredet und um ehrlich zu sein war er erst ziemlich sauer, aber... wir haben das erklärt. Obwohl... keine Ahnung. Es ist jetzt wieder okay. Auch wenn..."

„Auch wenn?" fragte Lily, als sie nicht zu Ende sprach.

Hannah war kurz davor gewesen, die Wahrheit zu sagen, aber sie bremste sich rechtzeitig. Es fühlte sich falsch an. „Nichts... es ist nur dementsprechend komisch, weißt du?"

„Mhm." Lily nickte und als sie nachdenklich auf die Stufen unter sich sah, fragte sich Hannah, ob es nicht doch ein Fehler war, es so klingen zu lassen, als wäre rein gar nichts passiert — denn es war so viel passiert, das niemals ihren Kopf verlassen würde.

    ༄ Lily

    ALS LILY DIE TREPPEN ZUM ASTRONOMIETURM hinaufstieg, fühlte sie sich, als würde sie etwas Verbotenes tun. Sie wusste nicht, was genau es war, das sie hier hinführte — und die Gryffindor in ihr mochte das.

Regulus saß auf einem der Plätze, die eigentlich für die Schüler vorgesehen waren, wenn sie hier Unterricht hatten und für einen kurzen Moment hätte Lily ihn im Dunkeln fast nicht gesehen. Seine blau-grauen Augen hoben sich beinahe gruselig von dem dunklen Platz, den er gewählt hatte, ab und Lily zuckte ein wenig zusammen, als sie ihn schließlich entdeckte.

„Hey." sagte sie und ging auf ihn zu. „Keine Kerzen und Rosen? Du enttäuschst mich."

„Hm." entgegnete Regulus mit einem Lächeln. „Beim nächsten Mal, Liebling."

Lily hob amüsiert eine Augenbraue und setzte sich ihm gegenüber, wobei sie seinen Umhang neben ihn warf. Regulus richtete sich auf, um ihr besser in die Augen sehen zu können und für ein paar Augenblicke schwiegen sie beide.

„Was machen wir hier?" stellte sie die gleiche Frage wie an ihrem Geburtstag, doch dieses Mal reagierte Regulus weitaus gefasster auf sie.

„Du wolltest mir meinen Umhang bringen." erinnerte er sie und Lily schnaubte, schüttelte aber mit dem Kopf.

„Ich weiß." meinte sie. „Aber dafür wäre das hier nicht nötig gewesen."

Sie sah ihm aufmerksam in die Augen und fragte sich, ob sie seine Gesellschaft so sehr suchte, weil sie ihn so schwer lesen konnte. Waren es nicht die geheimnisvollen Dinge, die den Reiz ausmachten?

„Dann sagen wir, ich versuche, deine schrecklichen Astronomiekenntnisse zu verbessern." sagte er mit einem rauen Lachen.

„Ist es nicht ein seltsamer Gedanke?" fragte Lily nach einer kurzen Pause und Regulus sah sie abwartend an. „Dass wir dieses ganze Universum haben — mit was weiß ich wie vielen Lichtjahren und Kilometern — und wir werden es nie ganz kennen? Wir kennen ja nicht einmal unseren eigenen Planeten komplett."

„Vielleicht denkst du einfach zu viel." meinte Regulus trocken und Lily verdrehte die Augen. „Was nicht heißt, dass ich es nicht mag, dabei zuzuhören."

„Natürlich."

Regulus beobachtete sie, ohne den Blick abzuwenden und seltsamerweise war diese Art von Stille nicht seltsam — im Gegenteil. Sie war faszinierend und nahm Lily völlig von sich ein. Sie atmete tief ein, als er nach unten sah und langsam seine Hand nach ihrer ausstreckte, ohne ihr in die Augen zu schauen. Seine Haut fühlte sich kühl an und Lily sah auf ihre Hände hinab, als sie mit ihrem Daumen über seinen Handrücken fuhr.

Regulus sah sie bei dieser Geste forschend an, als würde er sich Stück für Stück vortasten wollen. Lily wusste nicht einmal, ob sie noch atmete. Es war seltsam — bei Regulus zu sein fühlte sich für sie an, als wäre sie auf einer völlig anderen Welt: einer Welt, auf der die Gesetze dieser nicht zählten.

Sie fing schon wieder an, Entschuldigungen für jemanden zu machen, das wusste sie — aber vielleicht war Regulus es wert.

„Wir können keine Freunde sein." meinte Lily und zog ihre Hand zurück. Ihr Mund fühlte sich trocken an. „Nicht in einer Welt wie dieser."

„Du hast Angst, dass wieder das gleiche wie mit Snape passiert." stellte Regulus fest und musterte sie aufmerksam. „Vergleichst du mich mit ihm, wenn du bei mir bist?"

Sie wandte kopfschüttelnd den Blick ab und atmete tief durch. „Ich führe keine Strichliste zwischen dir und ihm oder dir und Sirius oder James oder wem auch immer, ob du es glaubst oder nicht." versuchte sie es, die Stimmung aufzulockern und sah Regulus leicht in sich hinein lächeln.

„Wenn du eine Strichliste zwischen Snape und mir führen würdest..." meinte er. „Welche Unterpunkte wären da so?"

„Für Bescheidenheit sieht es wohl schon mal schlecht für dich aus." sagte Lily schelmisch. „Aber fürs Aussehen kriegst du den Strich auf deine Seite."

Regulus hob eine Augenbraue. „Evans..." Er machte eine geehrte Geste. „Ich kann es ja kaum glauben."

Sie verdrehte die Augen. „Du bist wirklich verwirrend, weißt du das? Mal nennst du mich Evans, mal Lily. Ich kann nicht sagen, was das über deine Stimmung aussagt." Sie zeigte mit dem Finger auf ihn und er hob verteidigend die Hände.

„Evans erinnert mich einfach zu sehr an meinen besten Freund." meinte er schlicht. „Und in manchen Situationen wäre es zu komisch, diese Verbindung zu haben."

„Eben war die Verbindung also nicht komisch, ja?" zog sie ihn auf und Regulus stieß ein gespielt genervtes Geräusch aus.

„Du bist anstrengend." meinte er. „Zurück zur Liste..."

„Die nicht existiert." warf Lily ein und Regulus wurde plötzlich ernster und sah sie an, als wäre ihm etwas anderes in den Sinn gekommen.

„Du weißt, dass ich dich nie so nennen würde, wie er es getan hat, oder?" sagte er und es hörte sich fast an wie ein Versprechen.

Lily atmete angestrengt aus. „Niemand scheint verstehen zu wollen, dass es nicht darum ging, dass er mich einmal so genannt hat." sagte sie fest. „Er wollte es nicht gegen mich verwenden, aber das heißt nicht, dass er etwas gegen das Wort an sich hat. Er glaubt daran. Das ist das Problem. Und ich habe es jahrelang nicht sehen wollen, habe Entschuldigungen dafür gemacht, dass er Leute wie Avery oder Mulciber bewundert und sich für dunkle Magie interessiert. Ich meine, am Anfang wusste ich auch nicht, was dunkle Magie überhaupt wirklich bedeutet. Er glaubt an das, woran die Todesser glauben. Ich bin für ihn nur eine Ausnahme — und das ist falsch. Schrecklich falsch sogar."

Regulus wich ihrem Blick aus und sah auf den Boden. „Ich bin nicht besser als er." sagte er schließlich.

„Glaubst du immer noch an ihn?" fragte Lily, doch sie bekam keine Antwort. „Regulus, glaubst du—"

„Nein." brach es aus ihm heraus und Lily sah ihn aus großen Augen an. Es sollte sie erleichtern oder zufrieden stellen, aber ihre Überraschung war größer.

„Ich könnte dir helfen." sagte Lily leise und Regulus sah ihr mit einem zwiegespaltenen Ausdruck in die Augen, bevor er den Blick abwandte und gequält den Kopf schüttelte.

„Das hier — diese Freundschaft — ist zu gefährlich."

„Für mich?" fragte Lily und ließ ihn nicht aus den Augen. „Oder für dich?"

Endlich ruhten seine Augen wieder auf ihr. „Für uns beide." antwortete er schließlich und Lily wusste nicht, woran es lag, dass ihr Herz bei diesen Worten so schwer wurde. „Wären wir in einem Buch, wärst du die Gute in der Geschichte. Und ich der Böse. Oder der missverstandene Held, der zu viele Fehler gemacht hat, um gut zu sein."

„Dann sollten wir vermutlich damit aufhören, uns zu sehen." Ihre Stimme klang hohl, während sie ihm weiterhin fest in die Augen sah. „Wenn es nicht gut für uns ist."

„Das sollten wir vermutlich." stimmte Regulus, ebenfalls ohne sie aus den Augen zu lassen oder Anstalten zum Gehen zu machen.

Lily sah ihn an und ihre Brust hob und senkte sich immer flacher. Sie wusste nicht, was gerade passierte und sie beobachtete, wie Regulus' Blick langsam über ihr Gesicht wanderte. In seiner Nähe fühlte sie sich seltsam verletzlich und... bloßgestellt. Als hätte er die Gabe, auf den Grund ihrer Seele zu sehen.

Erst, als seine Fingerspitzen ihre Wange streiften, erwachte Lily aus ihrer Trance. Ihre Gedanken kehrten in die echte Welt zurück — in eine Welt, in der so etwas unmöglich, ja sogar undenkbar war.

Und zu James. James, von dem ein Teil von ihr immer noch hoffte, dass er sich für sie entscheiden würde. Vor allem nach ihrem Gespräch mit Hannah.

James war der Gute der Geschichte. Und Lily hatte das Gefühl, dass sie nach all der Zeit genau das verdient hatte. Wenn sie ehrlich war, wusste sie doch jetzt schon, dass das mit Regulus — egal, was es war (und eigentlich wollte sie genau das gar nicht wissen) — zu nichts führen würde. Es würde enden wie eine griechische Tragödie. Der Held beging einen schicksalhaften Fehler und am Ende konnte er nichts mehr tun, um die Katastrophe zu verhindern. Sie befürchtete, dass Regulus dieser schicksalhafte Fehler sein könnte. Zumindest jetzt. Es war nicht der richtige Augenblick — vielleicht würde er nie da sein.

„Pass auf dich auf." sagte Lily sanft und obwohl es ein Abschied sein sollte, hoffte sie, dass es keiner sein würde.

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