25. Wir wissen, dass du unschuldig bist
kapitel fünfundzwanzig ——— Wir wissen, dass du unschuldig bist
༄ Hannah
HANNAH WAR NIE eine gute Schauspielerin gewesen. Es hätte James auffallen müssen, dass bei jedem Lächeln etwas Trauriges in ihren Augen lag; es hätte ihm auffallen müssen, dass sie sich zwar wirklich für ihn gefreut hatte, als er ihr davon erzählt hatte, wie es als Begleitung von Lily bei der Weihnachtsfeier des Slug-Clubs gewesen war, aber sich gleichzeitig gewünscht hatte, es wäre alles wie vorher.
Es war zwei Wochen her, seit sie endlich den Mut gefasst hatte (oder hatte fassen wollen), James zu sagen, dass sie begonnen hatte, mehr für ihn zu empfinden, als es geplant gewesen war und auch, wenn Hannah genauso gerne bei James war, wie in der Zeit zuvor, versuchte sie, Stück für Stück zu verdrängen, was sie für ihn empfand. Ihre Gefühle für ihn hatten sich so schnell entwickelt... vielleicht war es nur etwas Kurzfristiges gewesen. Etwas, das wieder vorbeiging, auch, wenn sie sich immer noch wünschte, es wäre anders ausgegangen.
Trotzdem ging es ihr besser, irgendwie, und als James ihr geschrieben hatte, dass er sie in den Weihnachtsferien sehen wollte, hatte sie nicht Nein sagen können — es war immerhin James. Er ahnte vermutlich nichts von dem, was in ihr vorging und hatte irgendetwas davon geschrieben, dass er mit ihr über Remus reden wollte.
Hannah wollte überhaupt nicht daran denken, wenn sie ehrlich war. Sie wollte weder an Remus denken, noch an James. Doch als James ihr mit einem strahlenden Grinsen die Haustür öffnete, musste auch sie lächeln. Es fühlte sich zu gut an, in seiner Nähe zu sein, egal was passiert war.
„Hey." sagte sie mit einem Lächeln, das James verschmitzt erwiderte.
„Hey, Hannahlein."
Hannahlein. Am Anfang hatte sie über diesen Namen die Augen verdreht, irgendwann war ihr warm ums Herz geworden, wenn er ihn gesagt hatte und jetzt... jetzt tat er auf eine seltsame Weise weh.
„Mum, Dad, Hannah ist da!" verkündete James lauthals, als sie in der Diele seines Hauses standen und Hannah sich mit großen Augen umsah. Die Einrichtung wirkte sehr geschmackvoll und schick, aber gleichzeitig sehr warm, da überall kleine Dekorationen herumstanden und den Flur viel einladender wirken ließen.
Hannah sah zu James. „Dein Flur ist größer als meine ganze Wohnung." merkte sie trocken an und auch, wenn ihre Aussage ein wenig übertrieben war, drückte sie gut aus, dass sein Haus deutlich größer als die Wohnung war, in der sie mit ihrer Mutter lebte. Eigentlich hätte sie es sich denken können: James war Reinblut und die waren meistens nicht arm.
„Naja..." begann James. „Mein Vater hat da so einen Trank erfunden und bitte lach nicht-"
„Wieso? Sind es Verhütungstränke?" warf Hannah belustigt ein und fing sich einen kurzen Blick von James ein.
„Nein. Red mit Remus über Verhütungstränke." meinte er, bevor er fortfuhr. „Er hat das Seidenglatte Haargel erfunden." Kaum, dass er das sagte, fiel ihr Blick auf seine Haare, die kreuz und quer abstanden.
„Du meinst den mit dem „Zwei Tropfen zähmen selbst die zotteligste Frisur"-Slogan?" Sie machte dramatische Gesten in der Luft und ohne, dass sie darüber nachdenken konnte, begann sie herzhaft zu lachen. Während James gespielt genervt die Augen verdrehte, kam eine ältere, rotblonde Frau aus einem der Nebenräume, die ihre Haare streng zurückgebunden hatte, aber ein sehr freundliches Lächeln auf dem Gesicht trug, als sie Hannah sah.
Hannah, die bis eben noch James ausgelacht hatte, verstummte schlagartig und versuchte, so vernünftig wie möglich zu wirken, als sie ihr die Hand schüttelte.
„Ich bin Hannah." stellte sie sich vor. Aber das hat James ja schon durchs Haus gerufen, dachte sie und fragte sich, was sie noch sagen könnte.
„Ich bin Euphemia, James' Mutter." entgegnete sie in diesem Moment auch schon und Hannah lächelte erleichtert, da scheinbar nur ihr die Situation so angespannt vorkam. „Ich muss zugeben, ich freue mich dich kennenlernen."
„Wirklich?" fragte Hannah überrascht nach und spürte, wie ihr Herz begann schneller zu schlagen — auch wenn es dumm war. Ihr Kopf wanderte zu einem Was-wäre-wenn-Szenario, in dem James sie nun als seine Freundin vorgestellt hätte.
„Oh ja, er hat in höchsten Tönen von dir geredet."
„Mum..." warf James etwas verlegen ein. „Hannah wird noch ganz rot."
Hannah hob eine Augenbraue und sah schließlich wieder zu Mrs. Potter, die sie fragte, ob sie schon gegessen hatte. James versuchte ihr irgendwelche Handzeichen zu machen und wedelte mit der Hand vor dem Hals herum, doch es war schon zu spät und Hannah hatte Nein gesagt. „James und ich wollten ja sowieso los und uns dann unterwegs irgendetwas kaufen... dachte ich."
„Irgendwo irgendetwas kaufen, papperlapapp." unterbrach Euphemia ihre Antwort und ehe, dass Hannah sich versah, wurde sie in das große Esszimmer geschoben und James lehnte sich mit einem vielsagenden Blick neben sie, als seine Mutter wieder verschwand.
„Jetzt kannst du teilhaben an einem weltberühmten Potter-Mittagessen." meinte er und Hannah runzelte die Stirn. „Meine Mum kocht wahnsinnig viel. Aber dafür weiß ich, wie man die besten Cupcakes der Welt macht."
„Die Vorstellung, wie du mit Schürzchen und einem Kochhut Cupcakes backst, ist pures Gold wert." begann sie mit einem Lachen. „Und ich denke, du solltest glücklich darüber sein, dass deine Mutter so viel Zeit damit zubringt, dich satt zu kriegen. Meine hat überhaupt keine Zeit dafür, weil sie arbeiten muss."
James' Blick wurde kurz nachdenklich. „Du hast wahrscheinlich recht." meinte er. „Sirius sagt auch immer, dass meine Familie eine Traumfamilie ist."
Interessiert sah Hannah zu ihm. „Stimmt, Sirius wohnt ja auch bei dir, richtig?" fragte sie und James nickte, bevor er die Augen aufriss.
„Gut, dass du ihn erwähnst: Den sollte ich mal wecken, damit er sein Frühstück nicht verpasst."
Hannahs Blick wurde bei seinen Worten immer irritierter und sie sah mit gerunzelter Stirn auf die Uhr. „James... Wir haben doch fast 14 Uhr." meinte sie und James nickte zustimmend.
„Eben, Sirius steht frühestens um 14 Uhr auf." Er grinste schief, als Hannah nicht im Geringsten verstand, wie man so lange schlafen konnte. „Ich wecke ihn mal — kann sein, dass es etwas dauert, aber wenn ich in zwanzig Minuten nicht da bin, darfst du nachsehen, ob ich umgebracht wurde."
Hannah stieß ein verzweifeltes Lachen aus. „Alles klar." meinte sie belustigt und sah James hinterher, der aus dem Esszimmer verschwand und die Treppen hinaufpolterte. Er war wirklich ein guter Freund... Allein die Tatsache, dass er Sirius so selbstverständlich bei sich aufnahm, bewies doch, wie sehr er sich um die Menschen kümmerte, die ihm etwas bedeuteten. Und auch von seinen Eltern war es eine unglaubliche liebe Entscheidung.
Etwas hilflos sah Hannah sich im Esszimmer um und setzte sich schließlich auf einen der Stühle, in der Hoffnung, es war nicht James' Platz — James hatte auf jeden Fall einen Lieblingsplatz, den er mit seinem Leben verteidigte.
Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um, da sie dachte, James würde zurückkommen, aber es war ein älterer Mann, der höchstwahrscheinlich sein Vater war, da er in einem ähnlichen Alter wie Euphemia zu sein schien. Hannah vermutete, dass sie ihn erst recht spät bekommen hatten.
„Hallo." grüßte Hannah ihn ein wenig unbeholfen und er erwiderte ihr Lächeln so herzlich wie seine Frau ein paar Minuten zuvor.
„Du bist also diejenige, die meinem Sohn das Herz gestohlen hat." sagte er und Hannah klappte der Mund auf.
„Äh..." begann sie verdattert. „Nein, ich bin Hannah, nicht Lily."
„Oh." Er schien zu überlegen. „Stimmt, Lily — rote Haare, Hannah — braune Haare. Er hat das erwähnt. Wie auch immer, ich bin Fleamont."
Hannah lachte erneut, auch wenn es etwas unbeholfen klang und versuchte ihre Anspannung ein wenig zu überspielen, als Fleamont sich an den Tisch setzte und den Tagespropheten aufschlug. Als er aber merkte, dass Hannah ein wenig nervös war, ließ er die Zeitung sinken und begann, mehr mit ihr zu reden.
„Du bist in Ravenclaw, richtig?" fragte er und Hannah nickte eifrig, froh darüber angesprochen zu werden. „Die Quidditchkapitänin oder Vertrauensschülerin?"
„Die Vertrauensschülerin." entgegnete sie mit einem Lächeln und Fleamont grinste entschuldigend.
„Du musst wissen, es ist wirklich schwer, bei James mitzukommen, wenn er mal zu erzählen anfängt." meinte er und Hannah nickte zustimmend.
„Oh ja, allerdings." sagte sie und ein belustigtes Funkeln lag in ihren Augen, als sie an James dachte und ihr Blick kurz nachdenklich wurde. „Meine beste Freundin ist Quidditchkapitänin. Sie schwört, gegen James zu gewinnen, wenn Ravenclaw gegen Gryffindor spielt."
Endlich fühlte Hannah sich ein wenig wohler und auch Fleamont legte seine Zeitung zur Seite. „Ich muss zugeben, ich war nie der größte Quidditchfan, aber wir werden sehen, wer letzten Endes gewinnt, nicht wahr?" meinte er und Hannah erwiderte sein verschwörerisches Lächeln.
„Jo liegt mir den ganzen Tag mit Quidditch in den Ohren — es ist schön zu sehen, dass es doch Zauberer gibt, die nicht stundenlang über Quidditch diskutieren können." sagte sie mit einem Lachen und Fleamont nickte zustimmend.
„James möchte unbedingt zum Finale der Quidditchweltmeisterschaft nächstes Jahr und ganz unter uns..." Fleamont senkte die Stimme. „Ich habe die Karten schon, aber kein Wort zu James. Das soll seine Geburtstagsüberraschung werden."
Hannah riss die Augen auf. „Es ist unmöglich, James etwas zu verheimlichen."
„Wegen des Blicks, den er immer macht, wenn er etwas wissen möchte?" fragte Fleamont und imitierte den Hundeblick, den James schon einmal aufgesetzt hatte, als er Hannahs Hausaufgaben hatte sehen wollen.
„Genau der." meinte Hannah und die beiden begannen zu lachen, während James ins Esszimmer kam und einen irritierten Blick mit ihr austauschte.
„Hey Dad." meinte er fragend und hinter ihm kam Sirius in den Raum gepoltert. Seine chaotischen Locken standen zerzaust in alle möglichen Himmelsrichtungen ab und generell sah er aus, als hätte er die bisherigen Ferien nur im Bett verbracht.
„Lancaster." sagte er überrascht und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. „Sag nicht, du hast deine nervige kleine Freundin mitgebracht."
Hannah verengte die Augen, doch bevor sie Jo verteidigen konnte, setzte James sich neben sie. „Du sitzt auf meinem Lieblingsplatz." meinte er leise und Hannah grinste leicht. Sie hatte es gewusst. „Aber ich lass' dir das durchgehen."
Als Euphemia mit schwebenden Töpfen, die ihr folgten, ins Esszimmer kam, gähnte Sirius herzhaft. „Frühstück." murmelte er und Hannah schüttelte belustigt den Kopf.
„Ach, Lancaster." sagte Sirius plötzlich. „Sag niemandem auf Hogwarts, dass ich so aussehe, nachdem ich aufgestanden bin. Es könnte für manche ein Schock sein, dass ich nicht immer so umwerfend bin."
„Ich bin mir sicher, es gibt genug Mädchen, die wissen, wie du morgens aussiehst." entgegnete Hannah trocken, ohne länger darüber nachzudenken und hielt unsicher inne, als sie Euphemias Blick auf sich spürte. „Äh..." begann sie, aber in diesem Moment hörte sie Fleamont schon herzhaft lachen und auch Euphemia lächelte sichtlich amüsiert. „Also nicht, dass ich..."
„Jaja, Hannah..." begann James und versuchte sie davon abzuhalten, weiterzureden. „Wir wissen alle, dass du unschuldig bist."
Sie verdrehte leicht die Augen, konnte aber nicht leugnen, dass sie sich äußerst wohl bei den Potters fühlte — und bei James.
Das machte die Dinge nicht leichter.
༄ Theodora
SANFT GELOCKTES ROTBRAUNES HAAR, stechend grüne Augen und elegante Kleidung: Man erkannte Theodora Lestrange, wenn man sie sah.
Doch sie erkannte sich selbst nicht mehr. Wer war sie? War sie stolz auf die Person, die sie war? Theodora warf einen Blick in den Spiegel, vor dem sie stand und wandte sich mit einem verzweifelten Seufzen ab. Als sie einatmete, fühlte sie sich, als wäre ihre Brust enger geworden.
Das bin ich nicht, dachte sie zum wiederholten Mal, ich will nicht mehr Theodora Lestrange sein.
Theodora Lestrange war ein grausames Mädchen gewesen, das über das Leid von Muggelstämmigen gelacht hatte, wenn Mulciber oder Avery die „unwürdigen" Erstklässler willkommen gehießen hatten; eine falsche Freundin, die Menschen ihre Zeit nur wegen ihres Namens und nicht wegen ihrer Persönlichkeit geschenkt hatte.
Sie wusste nicht, wann sie begonnen hatte, sich eine eigene Meinung zu bilden — eine Meinung, die sich nicht mit der ihrer Eltern oder ihrer Brüder glich. Vielleicht war es der Morgen, an dem sie im Tagespropheten die Todesanzeige von Amatis Dearbone und ihrem Mann gesehen hatte, der ein Muggel war. Die Zeitung hatte über ihr Kennenlernen und ihre Traumhochzeit berichtet und über ihr dreijähriges Kind, das bei dem Angriff nicht bei seinen Eltern, sondern bei seiner Tante gewesen war, die auf es aufgepasst hatte, während seine Eltern tapfer gekämpft hatten. Wie wird ihre Schwester sich wohl fühlen? Wie wird ihre Tochter sich fühlen?, hatte sie sich gefragt, als sie diese Zeilen gelesen hatte und sich innerlich zurechtgewiesen: Sie waren nur Halbblüter.
Aber sie fühlten Liebe und hatten Familie wie jeder andere Mensch. Vielleicht hatten sie sogar mehr Licht in ihrem Leben als reinblütige Familien wie ihre.
Theodoras Weg war vorherbestimmt, seit dem Tag, an dem sie geboren worden war. Sie müsste nicht unbedingt eine Todesserin werden — viele reinblütige Frauen unterstützten ihre Ehemänner, wurden aber nicht selbst tätig — aber heiraten, Kinder bekommen und die Familie stolz zu machen... das waren die Dinge, die alle von ihr erwarten würden.
Manchmal kam sie sich vor wie ein Aushängeschild. Jeder Laden stellte die schönsten Kleider und Schmuckstücke ins Schaufenster, damit jeder, der ihn nur von außen sah, glaubte, er wäre prachtvoll und seriös wie er schien. Nun, hoffentlich betraten sie ihn nie.
Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass sie alle dort unten saßen und ihre nächsten Ziele besprachen — ihre nächsten Opfer und Pläne.
Mit zitternden Händen fuhr sie sich mit der Bürste durch ihre Haare und ließ sie schließlich sinken, um sie auf ihrer Kommode abzulegen, als sie Schritte auf der Treppe hörte, die in das erste Obergeschoss des Anwesens der Lestranges führte. Sie hörte, wie sich die Tür des Zimmers neben ihr öffnete und wieder schloss.
Sie hatte Rabastan immer als ihre engste Bezugsperson in diesem Haus betrachtet, aber die Wahrheit hatte auch sie irgendwann erreicht: So liebevoll und humorvoll er mit seiner Schwester umging, genauso grausam und blutrünstig ging er mit seinen Opfern um. Sie konnte es in seinen Augen sehen, wenn er von einem Angriff der Todesser zurückkam. Früher einmal war auch er sensibler gewesen, aber heute freute es ihn, Tod zu verbreiten.
Theodora fragte sich, ob auch sie so werden würde — ob sie ihre Zweifel wieder ablegen und ein Monster werden würde. Sie hatte es bei vielen anderen Reinblütern beobachtet: Bis zu einem gewissen Alter glaubten sie an die Worte ihrer Eltern und betrachteten sich selbst als etwas besseres, bis die Phase kam, in der sie sich eigene Meinungen bilden wollten und die Ansichten ihrer Eltern hinterfragten. Doch irgendwann erkannten sie alle, dass der für sie vorherbestimmte Weg der richtige war, bis auf ein paar Ausnahmen: Andromeda Black hatte vor wenigen Jahren ihre Familie hinter sich gelassen, um einen muggelstämmigen Zauberer zu heiraten und auf irgendeine Weise bewunderte Theodora sie und ihren Mut, mehr als sie Sirius Blacks Flucht vor seinen Eltern bewunderte.
Er war ein Gryffindor durch und durch, aber Andromeda war ihr nicht so unähnlich... auch sie hatte ihren Eltern und Schwestern einmal geglaubt, genauso wie Theodora ihren Brüdern geglaubt hatte. Sie hatte tatsächlich all die Ansichten hinter sich gelassen, hatte erkannt, dass jeder Mensch gleich und auf Augenhöhe war und ihren Mann nicht als eine Ausnahme betrachtet, wie Voldemort es tat, wenn er Halbblüter in seine Reihen ließ.
Würde Theodora sein wie die Schwester ihrer Schwägerin oder würde sie, wie die meisten Reinblüter, ihre Zweifel beiseite legen und eines Tages genauso kühl die Berichte lesen können? Selbst wenn es so wäre, wollte Theodora dann überhaupt zu dieser Person werden?
Wurde man kälter, je mehr man den Tod sah, über ihn las und ihn verursachte? Würde auch sie herzlos werden, wenn genügend Zeit vergangen war?
Theodora ballte ihre Hände zu Fäusten und spürte, wie sich die Fingernägel in ihre Haut gruben. Sie liebte ihr Leben und ihre Familie. Aber sie liebte ihre Ansichten nicht. Nicht mehr.
Sie öffnete ihre Zimmertür, sah sich auf dem Flur um und blieb unentschlossen beim Zimmer ihres Bruders stehen. Er war ihre Welt gewesen — immer.
Doch jedes Mal, wenn sie ihn nun sah, sah sie nicht nur den Menschen, der mit ihr gespielt hatte, als sie klein gewesen war und der sie beruhigt und Avery zurechtgewiesen hatte, als er sie ohne ihr Einverständnis geküsst und zu Dingen hatte drängen wollen, für die sie nicht bereit gewesen war, sondern auch den Menschen, der Muggel, Muggelstämmige und all diejenigen folterte und ermordete, die nicht auf seiner Seite standen.
Ihr Vater hatte gesagt, es sei kein Mord, Unwürdige zu töten. Einmal hatte Theodora geglaubt, es stimmte und Muggel wären nichts mehr als nervige Mücken, die man ohne schlechtes Gewissen zwischen den Händen zerklatschen durfte. Aber sie waren mehr als das: Sie hatten gute Literatur, Musik und eine ganze Welt aufgebaut, in der sie selbstständig und völlig ohne Magie gut leben konnten. Theodora hatte wissen müssen, wer genau die Menschen waren, von denen ihr Vater voller Abscheu sprach und ob sie die Abscheu verdient hatten, die er ihnen entgegenbrachte.
Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie es nicht hatten — und sie wollte nicht, dass sie in ein paar Jahren vergessen würde, was sie an diesem Tag darüber gedacht hatte.
„Bellatrix..." hörte sie eine Stimme von unten und ihr gefror das Blut in den Adern, als sie erkannte, dass es seine Stimme sein musste. Sie erstarrte auf der Stelle und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Bisher war sie ihm noch nie in Person begegnet und es hatte ihr gereicht zu wissen, wann und ob er sich in ihrem Haus befand.
„Mein Lord." Theodora hatte Bellatrix noch nie so unterwürfig erlebt, wie wenn sie mit oder über ihren dunklen Lord sprach. Ihr war klar, dass die Ehe zwischen ihr und Theodoras Bruder keine aus Liebe geschlossene Ehe war und dass Rodulphus sie vielleicht tatsächlich liebte, aber Bellatrix' Treue und Liebe nur Voldemort gelten würde. Es war lächerlich.
„Du bist eine meiner engsten und treusten Anhänger, Bellatrix." begann Voldemort und Theodora bewegte sich keinen Zentimeter von ihrem Platz. Sie wusste nicht, wie sie sich seine Stimme vorgestellt hatte, aber ihr fielen keine Worte ein, um sie zu beschreiben. „Deswegen werde ich dir eine wichtige Angelegenheit anvertrauen."
„Alles, was Ihr verlangt, mein Lord."
Theodora konnte nicht anders als ihre Augen zu verdrehen, auch wenn sie wusste, dass sie vor Voldemort genauso herumkriechen würde, wenn er vor ihr stände.
„Bewahre diesen Kelch für mich auf. An einem sicheren Ort, an dem du ihn mit allen Mitteln beschützen wirst. Er darf niemandem in die Hände fallen." fuhr der dunkle Lord fort und Theodora versuchte, so leise wie möglich auszuatmen.
„Ich werde ihn mit meinem Leben beschützen." sagte Bellatrix ehrfürchtig und kurze Zeit herrschte Stille.
„Genau das erwarte ich von dir." entgegnete Voldemort und seine Stimme jagte Theodora einen Schauer über den Rücken. Er verließ nur wenige Augenblicke später das Anwesen der Lestranges und als auch Bellatrix' Schritte sich entfernt hatten, klopfte Theodora hastig an der Tür ihres Bruders an.
„Rabastan?" fragte sie leise und als er die Tür öffnete, lag sofort Wärme in seinen Augen.
„Theodora." erwiderte er und sie ging an ihm vorbei. Sie wusste nicht, was sie fragen wollte und wieso sie überhaupt hier war, aber Rabastan ergriff sofort das Wort.
„Hast du darüber nachgedacht, ob du dich ihm auch anschließen möchtest?" fragte er mit ehrlichem Interesse und Theodora schluckte nervös. Wenn sie einen Muggelstämmigen heiraten würde, würde ihr Bruder sie noch als seine Schwester betrachten oder sie ohne zu zögern töten, wenn er sie sah? Sie fühlte sich verwirrt.
„Ja, das habe ich." antwortete sie schließlich. „Und ich denke nicht, dass es das Richtige für mich ist."
Rabastan nickte. „Es wird niemand von dir erwarten. Mutter hat sich ihnen nicht angeschlossen und Narzissa auch nicht."
„Ich denke, meine Aufgaben liegen mehr dabei, meinen zukünftigen Mann zu unterstützen und für die Familie da zu sein." log Theodora, auch wenn es ihr schwerfiel, diese Worte zu sprechen. Sie wollte nicht nur eine Ehefrau sein, aber es war besser, als sich den Todessern anzuschließen.
Ihr war klar, dass es zwei Leben gab, die sich nicht miteinander verbinden lassen würden: Ein Leben, in dem sie frei über sich selbst entscheiden würde, ohne zu lügen und Morde zu befürworten und eines, das genau das Gegenteil war, aber in dem sie ihre Familie an ihrer Seite haben würde.
Und so sehr es ihr Unbehagen bereitete, war vielleicht die Zeit für Theodora Lestrange gekommen, sich zu entscheiden.
༄ Hannah
„WIESO GRINST DU SO unheilvoll?" fragte Hannah skeptisch, als James sie durch die Winkelgasse zog.
„Weil wir uns jetzt einen netten Nachmittag machen werden... zu dritt."
Hannah blieb der Mund offen stehen, als James mit entspannter Miene weiterging, während ihr Herz für einen kurzen Moment stehenblieb. Er meinte doch nicht...? Nein.
„Du hast Lily eingeladen?" fragte sie, beinahe hoffnungsvoll, doch als James den Kopf schüttelte, seufzte sie angestrengt.
„Nein, deinen zukünftigen Ehemann." meinte er wie selbstverständlich und Hannah hob die Augenbrauen.
„Harrison Ford?" fragte sie trocken und fing sich einen empörten Seitenblick von James ein.
„Erstens: Geh meinem besten Freund nicht fremd. Zweitens: Wer ist das überhaupt?"
„Erstens: Wenn wir zusammen wären, würde ich das nicht." begann sie und verdrehte die Augen. Sie konnte sich besseres vorstellen, als mit James und Remus an einem Tisch zu sitzen, wo sie seit Dezember versucht hatte, höchstens einzeln mit beiden zu reden, weil sich alles andere seltsam anfühlte. „Zweitens: Hast du diesen neuen Film gesehen? Star Wars? Mein Vater hat mich gezwungen, ihn mit ihm zu sehen und der war nicht mal so schlecht. Und Harrison Ford spielt Han Solo."
„Was ist Han Solo für ein Name?" fragte James, bevor er irritiert den Kopf schüttelte. „Ich weiß, was Filme sind, aber wirklich gesehen habe ich keinen."
„Dann gehen wir ins Kino." schlug Hannah offen vor und war froh, dass ihre Mutter ein Muggel war, wodurch sie nicht wie James kaum etwas über Filme oder Musik außerhalb der Zaubererwelt wusste.
„Da kriegst du mich nie im Leben hin."
„Ich finde Ihren Mangel an Glauben beklagenswert." meinte Hannah mit einem leichten Grinsen und als James ratlos aussah, klopfte sie ihm auf den Arm. „Schau den Film und du wirst verstehen."
„Ich könnte ihn mit Lily sehen." Seine Augen begannen zu leuchten und Hannah wich zurück, als hätte sie sich verbrannt — und vielleicht hatte sich ihr Herz ja an seinen Worten verbrannt.
„Klar." meinte sie und als sie nicht hinsah, warf James ihr einen bedauernden, nachdenklichen Blick zu. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, ließ es aber sein.
Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus und während Hannah sich eine Strähne ihres braunen Haares hinters Ohr strich, hörte sie James neben sich lachen, als sie an Flourish & Blotts vorbeikamen. „Du kannst dich nicht hinter dem Bücherstand verstecken, Moony."
Hannah sah auf und erkannte Remus hinter einem der Ständer mit Büchern, die vor dem Laden standen. Sie las nicht wirklich viel, hin und wieder, wenn sie etwas interessierte, aber grundsätzlich las sie viel mehr Magazine mit den neusten Nachrichten, in der Hoffnung, etwas von Stars oder neuer Musik zu erfahren (und wenn neue Lieder von guten Musikern rauskamen, bestellte sie die neusten Platten, um sie hören zu können), aber wirkliche Leidenschaften wie Lesen, Quidditch oder Kunst hatte sie nicht, wenn man von den Postern in ihrem Zimmer absah, die hauptsächlich von Bands aus der Zauberer- und Muggelwelt waren.
„Ich dachte, es funktioniert und ich könnte deiner Gesellschaft doch noch einen Tag entgehen, Krone." entgegnete Remus mit dem Anflug eines Grinsens und erwiderte James' Begrüßung schließlich, bevor er mit einem Lächeln zu Hannah sah.
„Hey, Hannah." sagte er und runzelte leicht die Stirn, als er James einen kurzen Blick zuwarf.
„Hey, Remus." erwiderte Hannah unbeholfen, doch James begann zu grinsen und legte jemals einen Arm um Remus und sie, bevor er sie mit sich zog.
„Da sind wir also: Meine Wenigkeit und meine beiden weltbesten Freunde."
Hannah sah verwirrt aus. „Weltbeste Freunde?" fragte sie, doch bevor sie seine Worte in Frage stellen konnte, stieß James ein „Pst" aus, was Hannah dazu brachte, die Augen zu verdrehen. „Sag nicht Pst zu mir."
Als sie an Florean Fortescues Eissalon vorbeikamen, blieb James stehen und schob sie nebeneinander zu einem der Tische. Auch, wenn es Winter war, hatte der Eisladen geöffnet und dank Wärmezaubern kam es ihr gar nicht vor, als wäre es Winter. Hannah lächelte unbeholfen und unterdrückte ein Seufzen. Sie hätte am liebsten den ganzen Tag mit James verbracht.
Sie mochte Remus immer noch — natürlich tat sie das — aber wenn sie bei ihm war, war sie meistens angespannt und nervös.
„So..." begann James, als Hannah und Remus nebeneinander saßen und stumm den Kopf über ihn schüttelten. „Ich befürchte, ihr müsst hier alleine warten. Währenddessen bestelle ich Eis, bewundere die Inneneinrichtung und halte ein kleines Schwätzchen mit Fortescue. Also, Ihre Bestellungen bitte?"
Hannah warf ihm einen ungläubigen Blick zu. War das sein ultimativer Plan, das mit ihr und Remus voranzubringen? Er hatte so etwas in der letzten Schulwoche angedeutet... Sie hätte die Zeichen sehen müssen.
Natürlich hatte James sie nicht einfach so eingeladen...
„Ich weiß nicht." begann Hannah ungeduldig, während James ihr unauffällig zuzwinkerte. „Stracciatella oder... wenn es Banana Split gibt, bring Banana Split mit."
„Irgendwas mit Schokolade." Remus klang verzweifelt, wenn Hannah sich nicht irrte, doch James grinste nur und verschwand im Eissalon.
Sie schwieg peinlich berührt und spielte an der Eiskarte herum, die vor ihr lag und deren laminierte Ecke leicht ausgefranst war. „Also ich weiß echt nicht, was James hier versucht." meinte Hannah, um die Stille irgendwie zu unterbrechen.
„Naja, es ist recht offensichtlich, oder nicht?" meinte Remus locker. „Er versucht uns zu verkuppeln."
Bei dieser Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit der er diese Worte aussprach, verschluckte Hannah sich beinahe an der eigenen Luft und schaffe es noch im rechtzeitigen Augenblick, entspannt zu lachen. „Man weiß bei seinen Plänen wirklich nie, ob sie funktionieren."
„Wir werden sehen, ob dieser hier funktioniert, hm?" Bei seinem schelmischen Grinsen blieb Hannahs Herz stehen. Hatte er gerade...? Wäre Hannahs Gehirn eine Stadt und die elektrischen Impulse, mit denen ihre Nervenzellen miteinander kommunizierten, Menschen, würden diese Bewohner wahrscheinlich gerade panisch schreiend durch die Stadt rennen.
Hannah blinzelte. Ihr Augenlid zuckte.
„Hast du einen Schlaganfall?" fragte Remus nach, sowohl unsicher als auch belustigt über ihre Reaktion.
Hannah starrte ihn an, während ihr Puls sich erhöhte. Sie hatte zwei Jahre auf ihn gestanden und jetzt sagte er so etwas?
Als er fragend die Hand nach ihr ausstreckte, wich Hannah mit einem kurzen Schrei zurück. Sie hasste ihre Reflexe. „Sorry." sagte sie hastig, immer noch durch den Wind. „Ich wollte nicht schreien. Also mein Gehirn wollte es, aber ich hatte keine Kontrolle darüber, was es getan hat. Wenn du verstehst, was ich meine... Manchmal macht es sich selbstständig und sagt Dinge — seltsame Dinge. Mein Leben besteht aus solchen Momenten... und diese Momente werden von anderen unangenehmen Momenten zusammengehalten."
Remus hob eine Augenbraue. „Versteh' schon." meinte er mit einem Grinsen.
„Banana Split!" verkündete James plötzlich aus dem Nichts und tauchte mit einem großen Teller auf, den er zwischen Hannah und Remus stellte. „Mit zwei Löffeln."
„Aber..." Hannah sah mit großen Augen auf den Löffel, den James ihr ins Gesicht hielt. „Wir sollen uns den teilen?"
James schlug ihr mit dem Löffel leicht auf die Nase. „Ihr seid groß — ihr schafft das schon." Als er weiterhin gefährlich mit dem Löffel vor ihr herumfuchtelte, griff Hannah hastig nach ihm — selbst, wenn James nur mit Besteck bewaffnet war, war er gefährlich. „Außerdem ist teilen besser für die Figur."
Sie legte mit einem vorwurfsvollen Blick den Kopf schief. „Sagt derjenige, der sich den Riesenbecher geholt hat?"
„Schau mal." sagte James mit einem breiten, aufgeregten Grinsen und sah aus wie ein Kind an Weihnachten. „Ich habe extra einen Smiley mit Streuseln bekommen."
Ungläubig blieb Hannah der Mund offen stehen. „Ich bin so stolz auf dich." meinte sie trocken.
„Jetzt setz dich und iss dein Eis, damit noch was aus dir wird." fügte Remus hinzu und James setzte sich mit einem breiten Grinsen hin, um sein Eis zu löffeln. Hannah sah unschlüssig zu Remus.
„Du kannst übrigens die ganze Banane haben." sagte er, schob seine Hälfe zu ihr und James verfolgte mit regem Interesse das Gespräch zwischen den beiden.
„Ich meine, ich liebe Bananen, aber du musst mir sie deswegen wirklich nicht abgeben." widersprach Hannah.
„Ich nehm nur das Eis, alles gut."
Als Hannah einen Löffel nahm, fuhr sie fort. „Aber mit der Banane schmeckt es doch am besten." diskutierte sie weiter und James rieb sich mit der Hand über die Stirn.
„Hannah, sei lieb und nimm Remus' Banane."
Bevor sie den nächsten Löffel essen konnte, wurde sie bei James' Worten knallrot im Gesicht und begann loszuprusten, als das Vanilleeis auf ihrem Pulli landete. Auch Remus lachte nun, aber Hannah mied es, ihn anzusehen.
„Hannah..." begann James vorwurfsvoll. „Es ist so schlimm mit dir. Du denkst die ganze Zeit nur an Sex."
„Das ist doch gar nicht wahr." protestierte Hannah hilflos und versuchte, sich wieder einzukriegen.
„Ich weiß, es ist schwer, wenn die Pubertät dann doch mal einsetzt-"
Hannah warf ihm einen beleidigten Blick zu.
„-aber es gibt auch noch andere Dinge im Leben. Remus, du weißt gar nicht, wie schlimm es mit ihr ist."
Sie schüttelte den Kopf und warf ihre Serviette auf James, doch er hörte nicht mehr auf zu reden.
„Also, ich erzähle ihr mein Vater hat etwas erfunden und sie solle nicht lachen — woran denkt sie? Verhütungstränke."
„Kann doch sein." verteidigte sie sich und Remus grinste nur, als er zu ihr sah.
Hannah wollte sich am liebsten vergraben, aus vielerlei Gründen. Unter anderen Umstände wäre das wirklich ein schöner Tag gewesen — und wäre alles wie im September, hätte Hannah sich vermutlich unglaublich darüber gefreut, hier mit Remus zu sitzen. Und auch jetzt, musste sie automatisch lächeln, wenn er zu ihr sah... aber es tat ihr weh, dass James so gelassen hier saß und sie verkuppeln wollte, als wäre sie nur eine Freundin.
(Würde sie doch nur das nachdenkliche Lächeln bemerken, das er ihr immer wieder zuwarf...)
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