Kapitel 8 : Der erste Todesfall
„Danke!", entgegne ich der Frau freundlich, welche mir meinen rechten Daumen verbunden hat.
„Gerne!", reagiert die braunhaarige Frau darauf und schenkt mir ein Lächeln. Vorsichtig packt sie alles zurück in den Verbandskasten und bringt es zurück in einen alten modrigen Holzschrank.
„Darf ich fragen, wie du heißt?", möchte ich zögerlich von ihr wissen und schaue sie fragend an, als sie wieder zu mir zurück kommt. „Natürlich. Ich heiße Judith, und du?", antwortet sie ruhig und setzt sich neben mich auf einen Stuhl an den kleinen dunklen Holztisch, an dem man aus einem Fenster zu den anderen kleinen Holzhäusern gucken kann.
„Madeline, aber nenn' mich gerne Maddy.", erwidere ich und beginne ein wenig zu lächeln, was Judith erwidert.
„Wie ist das mit deinem Daumen passiert?" Judith deutet auf meinen linken Daumen, der nun einen weißen Verband aufweist.
„Ich bin nicht wirklich geschickt im nähen.", antworte ich unschuldig und zucke mit meinen Schulter.
„Mach' dir keine Sorgen. Mir erging es am Anfang genauso, doch mit der Zeit wird besser.", versucht sie mich zu bezeugen und legt ihren Arm auf dem Tisch ab.
„Wie lange bist du denn schon hier?", platzt es aus mir heraus. Eigentlich möchte ich solche Fragen gar nicht stellen, aber in meinem Kopf sind so viele Fragen, dass manche einfach ausgesprochen werden müssen. Judiths kleines Lächeln auf den Lippen verschwindet und ihre Gesichtsausdruck wird etwas ernster.
„Seit 7 Jahren", gesteht sie und streicht ihr graues Kleid auf ihrem Schoß glatt.
„7 Jahre?", gebe ich unglaubwürdig von mir wieder und ziehe meine Augenbrauen erschrocken nach oben.
„Ich weiß es ist eine sehr lange Zeit, aber man gewöhnt sich irgendwann an die Umstände.", sagt sie trüb, lehnt sich zurück in ihren Stuhl und schaut aus dem Fenster.
„A-Aber die können dich doch nicht schon seit 7 Jahren hier drin gefangen halten.", rede ich aufgebracht und fuchtele mit den Arme durch die Gegend. Wie lange werde ich dann hier drin bleiben?
„Wie man sieht können sie es doch", erwidert sie und zuckt mit den Schultern. Sie wirkt so entspannt bei der Aussage. Vielleicht hat sie sich nach 7 Jahren mit all dem abgefunden.
„Kannst du mir vielleicht einen Rat geben, wie ich es hier besser aushalten kann?", frage ich verzweifelt und lächle schief, während Judith kurz auflacht.
„Verbessern würde ich es nicht nennen, aber besser aushalten."
Ich setze mich auf und höre Judith bei jedem Wort genau zu.
„Ich würde dir den Rat geben , den jeder hier befolgt - also, fast jeder. Leg dich mit niemanden an! Egal ob der Meister, die Offiziersmänner oder mit einer Person von uns. Jegliches aufsehen vermeiden ist das A und O. Sonst passieren noch Sachen, die nicht so schön sind... Unterstellt werden kann dir hier schnell vieles und auch wenn viele Gefangene hier so schwach und erschöpft wirken sind sie dennoch sehr gefährlich. Das hat man heute bei Maike gesehen. Man muss nicht mit allen Leuten hier reden. Du bist manchmal sogar besser dran, wenn du alleine bist.", erzählt Judith und schaut mir direkt in die Augen. Ein unwohles Gefühl breitet sich in meinem Magen aus.
„Ist Maike die, die die Offiziersmänner heute mitgenommen haben?", hake ich nach und Judith nickt als Antwort. „Meinst du Maike wurde das von jemanden von hier angetan? Hat jemand aus unserem Sektor ihren Stoff zerstört?"
Judith nickt erneut und holt tief Luft, ehe sie erneut anfängt zu sprechen. „Das ist nicht zum ersten Mal vorgekommen. Schon 3 Mal wurden Stoffe zerstört. Glaub mir, keiner von hier würde sich auch nur trauen so einen unfertigen Stoff abzugeben."
Fragend runzle ich die Stirn "Aber wieso passiert das?"
„Naja, also das ist jetzt nur eine Theorie, aber es gibt hier quasi eine Anführer Gruppe. Die hat eigentlich so gut wie jeder Sektor. Mal weniger stark ausgeprägt und mal stärker ausgeprägt. Bei uns besteht die aus 4 Leuten. Lux, Robert, Sarah und Leonie. Leonie ist so die bekannteste in ganz Mountry. Man sagt sogar sie möchte das hier eines Tages mal regieren. Wie auch immer sie das machen will, oder warum, ist mir jedoch ein Rätsel." Judith stoppt kurz, zuckt mit ihren Schultern und schüttelt leicht ihren Kopf. " Jedenfalls hat Maike immer versucht sich bei denen einzureihen. Allerdings hatte sie Stress mit Leonie und es scheint, als würde Leonie es ihr auswischen wollen mit dem zerstören ihres Stoffes. Ich glaube auch, dass die Gruppe...", erzählt Judith die ganze Zeit weiter und ich höre ihr gespannt zu, bis sie plötzlich von einer kleinen, aber dennoch lauten Stimme unterbrochen wird.
„Mama", ruft eine Kinderstimme und mein Blick geht in Richtung Tür, aus der gerade ein kleiner Junge das Haus betritt.
Völlig erstarrt schaue ich den braunhaarigen Jungen an, dessen graue Klamotten voller Erde sind, sowie auch sein Gesicht. Er rennt auf Judith los und setzt sich auf ihren Schoß. Judith küsst ihn auf die Stirn und fängt an mit ihm zu reden, doch ich fange gar nicht an deren Gespräch zu lauschen. Zu viele Gedanken kreisen gerade in meinem Kopf. Mir wird gerade etwas klar, was mir hier vorher noch nie aufgefallen ist und was mich gerade total perplex macht.
Hier, in Mountry, wo Leute gefangen genommen werden und so gut wie versklavt werden, gibt es Kinder. Kleine, süße, unschuldige Kinder, die hier absolut nichts verloren haben. Der kleine Junge dreht sich zu mir und sieht mich etwas beängstigt an. Schnell richtet er seinen Blick wieder zu Judith, die ihn ermutigt zu nickt und ein paar Worte zuflüstert.
Er steht kurz danach vorsichtig auf, stellt sich vor mich hin und reicht mir zögerlich seine Hand. „Ich bin Moritz.", stellt er sich mit seiner lieblichen Kinderstimme vor. Ich lächle ihn an und lege meine Hand in seine kleine Hand, um diese zu schütteln.
„Ich bin Maddy. Freut mich dich kennenzulernen, Moritz.", erwidere ich.
Die Angst verschwindet aus Moritz blauen Augen und ich sehe auch ein kleines, niedliches Lächeln auf seinen Lippen.
„Schätzchen, magst du schon mal die Eimer holen, die wir zum Baden brauchen?", spricht Judith zu Moritz, der nickt und wieder aus der Tür verschwindet. Ich schaue ihm nach, bis ich Judith einen fragwürdigen Blick zuwerfe.
„Moritz ist..."
„Mein Sohn.", vervollständigt sie meinen Satz.
„Dein Sohn.", wiederhole ich nochmal Judiths Aussage, wobei ich in meiner Position verharre.
„Tut mir leid, dass ich es dir nicht eher gesagt habe, aber das Thema schien mir nie passend gewesen.", erklärt sie sich und lächelt schief.
„Wie alt ist er?", möchte ich wissen und setze mich wieder auf.
„Moritz ist 5 Jahre alt.", beantwortet sie mir meine Frage.
„Also hast du ihn hier bekommen?", frage ich direkt heraus. Judith nickt daraufhin und schaut auf den Boden. „Aber wie.. also.. wer.. hat er...", stottere ich vor mir hin ohne auch nur einen richtigen Satz rauszubekommen.
„Wurdest du schonmal bestraft? Weißt du, was da passieren kann?" Judiths Frage macht mir ein wenig Angst. Zögernd schüttele ich meinen Kopf. Sie atmet tief ein, bis sie beginnt zu sprechen. „Nun ja, ich möchte dir keine Angst machen, aber es ist wie es ist. Manche Strafen sind nicht so schlimm, also nicht so schlimm wie die anderen. Allerdings gibt es auch Strafen die ins sexuelle gehen.", erzählt Judith und ich muss schlucken.
Ich habe mir schon viele Gedanken darüber gemacht, wie die Strafen aussehen könnten und ob sie eventuell auch ins sexuelle gehen, besonders wegen den Fragen des Offiziersmannes am ersten Tag, aber ich konnte und wollte mir die Frage selber nie beantworten. Doch jetzt, da mir bewusst wird, dass das wirklich passiert, wird mir ganz mulmig.
„Eines Tages wurde ich wegen etwas bestraft, sexuell. Dabei ist Moritz entstanden. Er ist hier in Mountry geboren." Ungläubig starre ich sie mit offenem Mund an. "Es ist für dich vielleicht jetzt ein Schock, aber du gewöhnst dich irgendwann an die Umstände."
„Aber... also... Was ist mit dem Vater?"
„Sein Vater ist jemand aus Sektor 1. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Ist allerdings auch besser so. Ich möchte auch nicht, dass..." Ihr Blick wandert zur Tür, durch die Moritz mit zwei großen grauen Eimern hereinkommt. Sie lächelt ihm zu und er stellt sich neben seine Mutter. „Ich hab leider keine Zeit mehr. Wir müssen jetzt Wasser zum Baden holen gehen. Da ist nämlich jemand ganz schön voll mit Erde." , sagt Judith und strubbelt Moritz' Haar, welches voll mit Erde ist. Ich nicke verständnisvoll und wir stehen beide auf.
„Danke nochmal fürs verarzten.", erwähne ich noch schnell. „Hat mich gefreut", sage ich zu Moritz und gehe aus dem Haus.
Ich schlendere an den anderen kleinen Holzhäusern vorbei, wobei ich daran denke, wie Judith mich in ihrem herumgeführt hat. Die Häuser bestehen nur aus einem etwas größerem Zimmer, welches das Wohnzimmer, Esszimmer und eine kleine Küche beinhaltet. Ebenfalls gibt es noch ein kleines Badezimmer, welches allerdings nur aus einem Plumpsklo und einer Wanne zum Baden, die aber keinen Wasseranschluss hat, besteht Ein weiteres kleines Zimmer ist das Schlafzimmer, was nicht viel Platz aufweist.
Auf meinem Weg zurück begegnen mir Leute, die mir vorher noch nie begegnet sind. Das erkenne ich jedoch nicht an den Gesichtern, da ich noch lange nicht alle Personen aus meinem Sektor kenne. Das erkenne ich anhand der Farben der Klamotten von den anderen Leuten. Bei uns im Sektor laufen alle mit grauen Klamotten herum, doch hier begegnen mir Leute mit Klamotten die grüne, braune, schwarze und graue Farben tragen. Je weiter ich mich zu meinem Sektor bewege, desto mehr verschwinden auch die anderen Farben und ich befinde mich wieder in der gewohnten grauen Umgebung.
Kurz vor meinem Schlafplatz kommen mir bereits meine Freunde entgegen. „Hey, wohin habt ihr es denn so eilig?", möchte ich wissen und sehe meine Freunde an.
„Wir machen uns auf dem Weg zu den Duschen.", beantwortet mir Alina meine Frage. Auf einmal steigt mir mein eigener stinkender Geruch in die Nase und ich versuche mit aller Mühe mein Gesicht nicht zu verziehen,
"Ich komme mit!", beschließe ich und gemeinsam gehen wir los zu den Duschen. Die Duschen, sowie auch die Toiletten, befinden sich zwischen dem großen L-Förmigen Hauptgebäude und den Containern. Holzzäune sind drumherum aufgestellt, die schon ziemlich modrig sind und nur ein wenig Privatsphäre von außen hergibt.
Vorfreude bildet sich in mir auf, da ich es kaum erwarten kann meinen aufgeheizten Körper unter den eiskalten Wasser abkühlen zu lassen.
Wir sind fast bei den Duschen angekommen, als sich plötzlich eine große Menschenmenge vor dem zweiten Container aufbaut. Menschen fangen an zu schreien und eine große Unruhe bricht aus. Wir sieben gucken uns alle an, ehe wir zusammen zu der großen Gruppe laufen und drängeln uns durch die Menge, um zu sehen, was passier ist.
Ich gelange nach vorne und schreie erschrocken bei dem Anblick, welcher sich vor mir erstreckt, auf. Maike, die heute Mittag mitgenommen wurde, wegen ihres kaputten Stoffes, liegt nackt und mit vielen Narben verseht auf dem Boden. Regungslos. Tod.
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