Kapitel 11 : Der erste Kuss
„Wo warst du verdammt nochmal?", höre ich Alina empört rufen. Desto näher ich komme, desto mehr erkenne ich ihr wütendes Gesicht, welches doch auch nach Besorgnis aussieht. Ihre Augen suchen mein Gesicht nach einem Ausdruck ab, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was für ein Ausdruck mein Gesicht trägt, denn in mir drin herrschen so viele Emotionen. Wut. Trauer. Hass. Verzweiflung.
„Oh Gott, was ist passiert?", fragt Lucy erschrocken. Mit schnellen Schritten kommt sie auf mich zu und hebt vorsichtig meinen rechten Arm. Meine rechte Seite des Kleides ist voll mit Blut, durch meine erneute offene Wunde. Ich spüre meinen Daumen immer noch pochen, aber schenke es keine Beachtung.
„Maddy, was ist los?", möchte nun auch Cole wissen, der ebenfalls zu mir kommt Cole und eine meiner blonden Strähnen aus dem Gesicht streicht. Verzweifelt schaue ich den Personen an meiner Seite in die Augen, aber aus mir meinem Mund kommt kein Wort.
Lucys Augen wandern zu miner Wunde und ich tue dieses nun auch, weshalb ich zu einem Beschluss komme, den ich ausspreche. „Ich muss zu Judith", unterbreche ich die Stille und möchte mich auf den Weg machen, doch Cole zieht mich am Arm zurück.
„Bevor du auch nur einen Schritt machst sagst du uns zu erst wo du warst und was passiert ist." Mit zusammen gezogenen Augenbrauen blickt er mir tief in die Augen und in mir kommt das Gefühl von Schuld auf. Ich weiß nicht, wie lange ich hinter dem Container saß und geweint habe, aber ich habe durch diese Aktion das Abendessen und somit die letzte Mahlzeit des Tages verpasst. Mein Magen erfreut sich nicht über diesen Fakt, doch mein Hunger ist sowieso vergangen. Die Sonne geht schon unter und mir wird bewusst, wie lange ich meine Freunde in Unwissenheit über mein Dasein gelassen habe.
„Ich brauchte nur ein bisschen Zeit für mich.", gebe ich schließlich leise von mir und schaue auf den staubigen Boden. Die Tränen steigen wieder in meinen Augen auf und der Boden unter mir wird immer verschwommener. Ein unkontrolliertes Schluchzen ertönt und ich als Cole seine Arme um mich legt bemerke ich, dass es von mir kommt.
Doch nicht nur Coles Arme merke ich auf mir, sondern auch die von all den anderen. Gemeinsam stehen wir hier und umarmen uns. In diesem Moment bin ich froh meine Freunde bei mir zu haben.
Ich bin auch nicht mehr die einzige, die angefangen hat zu weinen. Auch Lucy beginnen die Tränen hinunterzulaufen und Jennifer ebenfalls. „Och Leute, hört doch auf zu weinen.", unterbricht Alina das schluchzen mit einem kleinen, aufmunternden Lachen und wir alle lösen uns voneinander. „Wir schaffen das Leute. Wir finden eine Lösung uns es hier so gemütlich wie möglich zu machen, bis wir einen weg zur Flucht gefunden habe."
Unglaubwürdig starre ich Alina an, die in dem Moment so viel Stärke ausstrahlt. Mut und Kraft steigt auf einmal in mir auf und ich wüsche mir meine tränen mit meinem linken Ärmel weg, der nicht mit Blut gekennzeichnet ist.
„Ich hab euch lieb.", sage ich schließlich und bekomme wertgeschätzte Blicke zurück. Lucy, die neben mir steht, ist immer noch am schluchzen und ich bin dabei ihr eine ihrer dunkelbraunen, kurzen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu wischen, als mir mein roter Daumen wieder in mein Sichtfeld gerät und mich der Schmerz erneut überströmt.
„Du musst damit zu einem Arzt!", sagt Cole hinter mir, wessen Blick ebenfalls auf meinem Daumen liegt. Ich schüttele den Kopf. „Nein. Ich muss zu Judith.", erwidere ich und schaue Cole in die Augen.
„Ich komme mit dir mit." Ich will ihm gerade erwidern, doch da fällt er mir bereits ins Wort. „Ich lasse dich nicht wieder alleine hier rum laufen. Wer weiß, was passiert sein könnte. Ich weiß nicht mal wer diese Judith ist, also ist die Info für mich nicht sehr hilfreich. Ich komme mit!", spricht er klar und deutlich. Für ein paar Sekunden bleibe ich wie angewurzelt stehen und schaue Cole in die Augen, um zu bemerken, dass er sehr überzeugt ist mit seiner Aussage.
„Okay.", äußere ich mich nach der aufgetretenen Stille. gemeinsam bewegen wir uns von unserem Schlafplatz in die Richtung von Judiths kleinem Haus.
Auf dem Weg dorthin schaut sich Cole ganz genau die Umgebung an. „Ich war noch nie hier", äußert er sich, während sein Blick auf die vielen Häuser gerichtet ist, an denen wir vorbei schlendern.
„War ich bis vor kurzem auch noch nicht.", gebe ich zu.
„Woher kennst du diese Judith eigentlich?", fragt er neugierig und schaut mich von der Seite an.
„Sie sitzt neben mir bei unserer Arbeit.", beantworte ich ihm die Frage. Zufrieden mit der Antwort nickt er und nimmt vorsichtig meine linke Hand in seine rechte Hand. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meinen Lippen und gemeinsam schlendern wir an den Häusern vorbei.
„Überschneiden sich hier die Sektoren oder warum tragen hier so viele andere Farben als wir?", fragt Cole mich flüsternd und sieht dabei neugierig zu den fremden Menschen. Die verschieden gekleideten Menschen laufen an uns vorbei und beachten uns gar nicht. „Ich denke mal alle Sektoren teilen sich den Ort hier, also ja."
Endlich gelangen wir zu Judiths Haus. Ich klopfe an der Holztür und Judith öffnet sie mit einem Lächeln. „Hallo Maddy, komm' doch rein!", begrüßt mich die braunhaarige Frau freundlich und hält die Tür auf.
„Danke. Das ist übrigens Cole.", stelle ich ihr ihn vor während ich ihr Haus betrete.
„Freut mich dich kennenzulernen. Komm' gerne mit rein.", sagt Judith und Cole folgt mir ebenfalls ins Haus.
„Dankeschön. Freut mich ebenfalls.", erwidere Cole und geht neugierig in das Haus hinein. Judith schließt die Tür und dreht sich zu mir. Ihr Blick wandert auf meinen Daumen und sie reißt die Augen auf.
„Ach du meine Güte, was ist denn mit Dir passiert? Vorhin sah das ganze aber nicht so schlimm aus.", äußert sie sich geschockt. Vorsichtig nimmt sie meine Hand hoch und begutachtet meinen verletzten Daumen. „Also... nun ja... ich..", stottere ich hervor und weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Bei meinem Aufprall mit Leonie heute morgen oder der letzte? Oder das dreckige Material? Oder die harte Arbeit?
Ich versuche einen richtigen Satz hinzubekommen, doch dann fängt Judith an zu rufen. „Moritz?"
Die Schlafzimmertür öffnet sich und ein kleiner, schüchterner Moritz tritt heraus. „Magst du mir den großen Verbandskasten aus dem Schrank hinten holen? Und ein Tuch mit einem kleinen Eimer Wasser?" Moritz nickt und macht sich auf den Weg zu dem Schrank, welcher hinten im Haus steht.
„Setzt euch.", sagt Judith und deutet auf den Tisch vor uns, an dem ich auch schon das letzte Mal mit ihr saß. Ich schaue zu Cole, welcher mit geschocktem Gesichtsausdruck Moritz hinterher guckt, ehe er seinen Blick zu mir schweifen lässt. Genauso müsste ich auch ausgesehen haben, als mir bewusst wurde, dass hier Kinder sind. Mit traurigen Augen nicke ich Cole zu und setze mich anschließend an den Tisch, was Cole mir gleich tut.
„Wollt ihr etwas trinken?" „Ja, bitte.", stoße ich sofort hervor. Ich habe so großen Durst durch die Hitze und dadurch, dass ich das Abendessen verpasst habe.
„Einen Moment.", sagt sie und geht um kurz danach wieder mit zwei Bechern Wasser wiederzukommen. Im gleichen Moment kommt auch der kleine Junge mit dem Verbandkasten zu uns und stellt diesen auf den Tisch.
„Ich hol noch den Rest, Mama.", versichert er seiner Mutter mit einer süßen kindlichen Stimme und verschwindet wieder.
„Er ist wirklich süß.", sage ich und trinke den Becher mit Wasser im nu aus.
„Ja, das ist er.", erwidert Judith darauf und lächelt mich verträumt an, bis sie plötzlich wieder ernst wird. „Nun, erzähl was passiert ist!"
Sie setzt sich vor mich auf den Stuhl, begutachtet meinen Daumen und ich beginne von heute morgen zu erzählen. Jedes Detail, jedes Gespräch und jede Begegnung mit Leonie, sowie die anstrengende Arbeit erwähne ich ihr gegenüber. Wie ein Wasserfall sprudelt Information aus mir heraus und ich frage mich wirklich, wie ich von vorhin, der kleinlauten Maddy, zu der jetzt aufgeweckten Maddy umwandeln konnte. Gespannt lauscht mir Judith, sowohl auch Cole, zu, bis ich nach gefühlten Ewigkeiten meinen Frust hinausgelassen habe.
„Warum hast du nichts gesagt?", höre ich die männliche Person hinter mir sprechen und ich drehe mich nach hinten, um in seine Augen zu gucken, die mir so oft das Gefühl von Zuhause verschaffen.
„Wie ich vorhin schon erwähnt habe, ich brauchte meine Ruhe.", sage ich mit einer sehr ruhigen Stimme und widme mich wieder zu Judith.
„Ich glaub es nicht. Das die sich das alles traut... Oh man, da hofft man echt sie wird noch ihre gerechte Strafe bekommen!" Als Judith aufhört zu sprechen kommt Moritz mit einem Becher Wasser und einem Tuch und legt dieses ebenfalls auf den Tisch.
„Danke dir mein Schatz.", spricht Judith zu ihm und gibt ihrem Sohn einen Kuss auf den Kopf. Sie gibt ihm so viel Liebe. Liebe, die ich auch gerne verspüren würde von meiner Mutter. Meine Mutter...
„Das kann jetzt ein bisschen brennen." Ein unangenehmes Gefühl and meinem Daumen holt mich zurück in die Realität, bevor ich weiter an meine Mutter und meine Familie denken kann, die so weit entfernt von mir ist.
Judith desinfiziert meinen verletzten Daumen gründlich und wickelt einen neuen Verband drum. Diesmal noch fester. Sie hat ebenfalls versucht mein Kleid zu reinigen. Eine Menge Blut ist zum Glück herausgekommen, aber trotzdem ist noch ein leichter Schimmer von etwas rotem auf meinem Kleid zu erkennen.
Völlig begeistert und dankbar umarme ich Judith und bedanke mich ohne Ende bei ihr. Da es schon spät ist brechen Cole und ich direkt wieder auf um zu unserem Schlafplatz zu gelangen.
„Also, Moritz ist Judiths Sohn?", fragt mich Cole etwas unsicher und ich nicke ihm zu. „Wow, das muss hart sein hier. Mir sind Kinder vorher gar nicht aufgefallen."
„Mir auch nicht."
Wir schlendern an den Häusern vorbei und können schon die Scheune und unseren Schlafplatz erkennen. Plötzlich packt mich Cole an meinen rechten Arm und zieht mich zwischen einen der vielen Container, die wieder aufgetreten sind, und dem Drahtzaun. „Cole, was soll-", mehr kommt nicht meinem Lippen, denn da liegen seine Lippen schon auf meinen.
Geschockt und irritiert reiße ich die Augen auf, bis ich reflektiert habe, was hier gerade geschieht. Langsam schließe ich die Augen, lege meine Hände um seinen Nacken und erwidere den Kuss.
Nach ein paar Sekunden trennen sich unsere Lippen wieder und ich beiße mir auf die Lippe, um ein breites grinsen zu verbergen, was sich auf meine Lippen schleichen möchte.
„Ich wollte das schon so lange machen und ich hatte mir so viele bessere Situationen vorgestellt, aber ich konnte nicht mehr warten.", flüstert er leise, während unsere Stirnen aneinander liegen. Ich bekomme gerade kein Wort heraus und meine Augen schwanken die ganze Zeit zwischen seinen wunderschönen grünen Augen und seinen weichen dünnen Lippen. Ich setze gerade an ihn erneut zu küssen, als ich plötzlich die Stimme eines Offiziermannes wahrnehme. „Hey, was macht ihr da?"
Schnell lasse ich meine Hände von Cole und er nimmt seine Hände von meiner Taille, ehe er sich wieder meinen Arm schnappt und anfängt zu rennen. Ohne, dass ich etwas anderes tun kann, fangen meine Beine ebenfalls an zu rennen. Lachend laufen wir in die Richtung unseres Schlafplatzes und ich kann nur leise den Offiziersmann hinter uns rufen und fluchen hören.
Voller Adrenalin und mit einem breiten Grinsen stoßen wir auf unsere Freunde. „Was ist denn mit euch los?", fragt Dennis, doch wir kommen gar nicht erst zum antworten, denn ich kann mich nur auf das wunderschöne Lächeln kontrollieren, welches sich auf Coles Lippen abspielt.
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