Zusatzkapitel 43

Wütend starrte Mondfeder seine Eltern an. Verzweifelt suchte er in ihren Augen nach irgendeinem Anzeichen von Schuld - oder zumindest Angst davor, was er ihnen antun könnte. Bereuten sie denn gar nichts? Der Zorn lag wie ein großer Stein in seinem Magen, den er seit dem Tag seiner Verbannung nicht losgeworden war. Nie hatte er vergessen, wie Schwinger und Schwinge ihn in der Höhle des Lebens zurückgelassen und verboten hatten, jemals wiederzukommen.

Erinnerungen an seine ersten Nächte in der dunklen Höhle kehrten zurück. Wie er einsam durch das gewaltige Höhlenlabyrinth geirrt war und nur mit Glück jedes Mal den Teich gefunden hatte. Niemand hätte es mitbekommen, wenn er sich verlaufen hätte und letztendlich sogar gestorben wäre. Wie konnten sie mir das nur antun? Haben sie mich überhaupt jemals als etwas anderes als einen Fehler gesehen!

Knurrend bohrte er seine Krallen in die Erde. Hätte Eisbart ihn damals nicht während dem Ritual kauernd in einer Ecke entdeckt, würde er vermutlich immer noch in den Höhlen wohnen. Doch das hatte er und so kam Mondfeder als junger Kater zu den Verstoßenen. Er lernte zu jagen, zu kämpfen und selbst die erfahrensten Krieger zu überlisten. Es war also keine große Überraschung, als er bereits nach nur wenigen Monden seinen vollwertigen Namen erhielt.

Zu seinem Glück hatte ihn jedoch nie jemand nach seiner Herkunft gefragt. Als Eisbart ihn ins Lager gebracht hatte, hatten wohl alle vermutet, er wäre ein Junges der Adler - womit sie ja auch richtig lagen. Mit der Zeit hörte das Getuschel über ihn schließlich auf und Mondfeder hatte den Groll gegen seine Eltern fast vergessen, als Eulenstern eines Tages eine Prophezeiung erhalten hatte.

Er wusste noch genau, wie ratlos alle Katzen den ersten Mond darüber gegrübelt hatten, wer wohl schützenden Flügel sein könnten. Mondfeder selbst hatte anfangs mit den anderen Krieger gewettet, wer den Verstoßenen wohl etwas schlechtes wollte, bis er eines Nachts eine weitere Botschaft erhalten hatte. Adlers Kralle und Blütes Dorn werden Blut vergießen. Ob das des Schmetterlings Schwester oder des Lichtes Wächter liegt in der Pfote des Katers des Mondes.

Die Worte hallten im Kopf des silbergrauen Katers wider. Auch wenn er zuerst nicht verstanden hatte, was diese Worte bedeuten sollten, wusste er nun, was zu tun war.

Und wäre diese Närrin nicht so unfähig gewesen, selbst die einfachsten Aufträge auszuführen, würde ich bereits meine Rache ausgeübt haben. Wie kann sie nur von meinem eigenen Fleisch und Blut sein? Verächtlich schweiften seine Gedanken zu Blütenpfote, die ihn aus entsetzten Augen anstarrte. Sie ist genauso nutzlos wie Dämmerwolke. Hätte sie sich nicht auf die Seite ihrer Mutter und ihres Bruders geschlagen, würde sie jetzt meine neue rechte Pfote sein.

Mit gesträubtem Fell erwiderte Mondfeder den Blick seiner Eltern. "Ihr habt mir nie eine Chance gegeben und deswegen gebe ich euch jetzt auch keine! Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, dass ihr mich loswerden wolltet." Trotz seiner Versuche, ruhig zu bleiben, zitterte seine Stimme unter dem Zorn in seiner Brust, der wie Flammen an ihm leckten. Er erwartete, dass die anderen Katzen ihn mit schreckgeweiteten Augen ansehen würden, stattdessen fiel sein Blick auf einen kleinen weiß-grau getigerten Kater in der vordersten Reihe, der auf etwas hinter ihm starrte.

Bevor Mondfeder überhaupt einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurde er plötzlich von einem schweren Gewicht nach unten gedrückt.

Vor Überraschung war er nicht einmal in der Lage, sich abzufangen, und sein Kopf prallte mit Schwung auf dem harten Steinboden auf. Ein dröhnender Schmerz schoss durch ihn hindurch. Was passiert hier gerade?

Spitzte Krallen bohrten sich in seine Schulter und er biss seine Zähne aufeinander, um nicht laut aufzujaulen. Rasch versuchte er, sich unter dem Gewicht seines Gegners freizukämpfen. Zu seiner Verwirrung gelang ihm das schneller, als er gedacht hatte. In wenigen Herzschlägen stand er wieder auf den Pfoten, während sein Blick zu seinem Gegenüber wanderte, der sich ebenfall aufgerichtet hatte. Sein Atem stockte, als er das goldene Fell, die funkelnden Bernsteinaugen und das scharfgeschnittene Gesicht wiedererkannte.

"Mottenflügel?", keuchte er ungläubig. "Du kannst nicht hier sein. Das ist unmöglich!"

Ich habe sie doch umgebracht. Wie ist es möglich, dass sie hier vor mir steht?  Doch jetzt blieb keine Zeit zum Nachdenken; er musste Mottenflügel aus dem Weg räumen, sonst hätte er nie die Chance, sich zu rächen. Während er wütend seine Zähne bleckte und in Angriffsstellung ging, wichen die umstehenden Katzen zurück und bildeten einen Kreis um ihn und die goldene Kätzin.

"Sei vorsichtig.", rief Adlerpfote Mottenflügel zu, woraufhin diese ihm dankbar zunickte. In ihren Augen schimmerte tiefste Zuneigung für ihren Sohn, der Seite an Seite mit Blütenpfote neben den anderen stand.

Mondfeder fuhr erbost seine Krallen aus. Die Wunde in seiner Schulter schmerzte kaum, sie würde ihm im Kampf also keine Probleme machen. Die Ohren des silbergrauen Katers zuckten, als hinter ihm ein nervöses Piepsen ertönte. "Warum helfen wir ihr denn nicht?" "Sei still, Sturm! Das ist ein Teil unserer Gesetze, das müsstest du doch wissen.", erwiderte eine Stimme barsch. Mondfeder lachte innerlich laut auf. Dieser lächerliche Zweikampf! Ihre eigenen Gesetze werden ihnen zum Verhängnis. Und wenn ich meine Macht einsetzten könnte, wäre dieser Kampf hier schon längst entschieden. Wieso wusste ich nicht, dass sie mich nach einer Verwendung im Reich der Adler verlassen würde?!

Ein Fauchen entfuhr Mondfeder und er bewegte sich langsam auf Mottenflügel zu, die seinen Blick standhaft erwiderte. Ein seltsames Leuchten lag in ihren Augen. Was sie wohl gerade denkt?...Nein! Ich darf mich nicht ablenken lassen! Ich liebe sie nicht und das habe ich noch nie!

Schmerzhaft erinnerte er sich an den Tag, an dem er in Eulensterns Bau geplatzt war und Mottenflügel zum ersten Mal wirklich gesehen hatte. Wie ihr sanfter Blick seinem begegnet war. Das Klopfen in seiner Brust wurde schneller, als seine Gedanken weiter wanderten, bis zu jener Nacht, in der sie im Wald übernachtet hatten. Ich möchte nicht, dass du sauer auf mich bist., hatte er ihr damals gesagt. Das Bild der goldenen Kätzin, wie sie verlegen auf den Boden gestarrt und das Thema gewechselt hatte, blitzte in seinem Kopf auf.

Trauer bohrte sich in sein Herz.

Nein! Nein! Nein! Verzweifelt versuchte er, diesen Gedanken abzuschütteln. Ich muss mich konzentrieren.

Blitzschnell zischte er nach vorn, wobei er mit seiner Vorderpfote auf Mottenflügles Brust zielte. Der Zorn fuhr durch ihn hindurch und er hatte das drängende Bedürfnis, ihn an jemandem auszulassen. Doch zu seiner Enttäuschung wich die Kätzin noch rechtzeitig zur Seite, sodass er nur ihr Fell striff.

Schnell wirbelte er herum. Mottenflügel warf einen kurzen Blick auf ihre Schulter, an der ein Fellbüschel fehlte, dann sah sie wieder zu Mondfeder.

Sie ist kein Gegner für mich., triumphierte Mondfeder. Siegessicher sprang er, um auf dem Rücken der Kätzin zu landen. Doch plötzlich rollte Mottenflügel unter ihm hindurch und stand hinter ihm, während er vor Überraschung auf dem harten Boden aufprallte. Er wollte gerade frustriert auf die Pfoten springen und sich erneut auf sie stürzen, aber da spürte er bereits Krallen an seinem Nacken. Was...?

Schockiert taumelte er herum. Er sah Mottenflügel an, die ihn aus vor Entsetzen geweiteten Augen anstarrte. "Es tut mir leid."

Für einen kurzen Moment hielt Mondfeder verwirrt inne, als er auf einmal etwas warmes seinen Hals hinunterfließen spürte. Er blickte zu Boden und entdeckte eine rote Pfütze. Blut? Mein Blut! Bestürzt sah er wieder zu Mottenflügel, die ihn traurig musterte. Wütend wollte er etwas sagen, doch plötzlich fingen seine Beine stark an zu zittern und er brach zusammen. Was passiert hier? Während er verzweifelt versuchte, auf die Pfoten zu kommen, trat Mottenflügel an ihn heran.

Geh weg! Ich...Ich schaff das noch! Du hast noch nicht gewonnen! Die versammelten Katzen fingen an zu tuscheln, bis ihr Geflüster in erleichtertes Rufen ausatete.

"Es tut mir wirklich leid.", murmelte Mottenflügel mit erstickter Stimme und legte ihre Schnauze an seine. Die sanfte Berrührung jagte Mondfeder eine Gänsehaut ein. Für ein paar Herzschläge sog er ihren süßlichen Duft ein und vergaß, dass er hier in der kalten Höhle mit einer klaffenden Wunde am Boden lag. Er fühlte sich zurückversetzt an einen der vielen Sonnenaufgänge, an denen er gemeinsam mit seiner Gefährtin aufgewacht und ihren Jungen beim Spielen zugesehen hatte.

Langsam schloss er seine Augen. "Mir auch.", seufzte er so leise, dass er hoffte, Mottenflügel könnte es nicht hören. "Ich liebe dich."

Eine Welle der Zufriedenheit legte sich über ihn. So lange hatte er diese Worte sagen wollen, doch etwas hatte ihn abgehalten. Was war es gewesen? War er blind vor Rachsucht? Wie hatte er nur seinen Zorn über zwei Katzen, die nicht einmal wirklich kannte über die Liebe zu seiner Gefährtin stellen können? Endlich erkannte er, wie dumm er gewesen war. Doch jetzt konnte er in Frieden gehen, mit der Gewissheit, dass seine Familie zu ihrem alten Leben zurückkehren und all das hinter sich lassen würde.

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