Kapitel 44
Voller Entsetzten wanderte Mottenflügels Blick von ihren blutgetränkten Krallen zurück zu Mondfeders Halswunde. Der silbergraue Kater drehte sich zu ihr um, auf seinem Gesicht spiegelte sich ebenfalls der gleiche Schock wider, den sie selbst empfand. "Es tut mir leid." Jedes ihrer Worte kostete sie mehr Überwindung, als jeder Kampf, den sie hätte ausfechten müssen. Mondfeders schockierter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Verwirrung und er sah zu Boden.
Mottenflügel unterdrückte ein Schluchzen. Trauer bohrte sich wie ein Dorn in ihr Herz und sie hatte das dringende Verlangen, laut aufzuheulen. Du musst mir glauben! Ohne diese Prophezeiung hätte ich das nie getan! Aber was hast du dir auch dabei gedacht? Was ist nur mit dir passiert? Mondfeder blickte wieder auf, seine Augen ausdruckslos. Plötzlich brach er ohne jegliche Vorwahrnung zusammen und Mottenflügel schnappte fassungslos nach Luft.
Langsam machte sie einen Schritt auf Mondfeder zu, der mit verzerrtem Gesicht versuchte, wieder aufzustehen. Bleib liegen, bleib bitte einfach liegen., bettelte die goldene Kätzin stumm.
Die umstehenden Katzen fingen leise an zu flüstern. Schwinger und Schwinge nickten Mottenflügel aufmunternd zu und Kiesel lächelte schwach, als ob er ihr signalisieren wollte, dass sie das Richtige getan hatte. Habe ich das wirklich? Das Flüstern wurde lauter, bis so gut wie alle Mottenflügel anerkennden gratulierten. Die Kätzin schüttelte leicht den Kopf. Bitte, lasst das! Zögernd beugte sie sich zu Mondfeder hinunter, der inzwischen seine Augen geschlossen hatte. Sanft berührte sie seine Schnauze mit ihrer.
Erinnerungen schossen in ihr hoch. Es ist nicht zu leugnen, dass ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben. Aber wieso? Er hat so schlimme Dinge getan und ich habe so viele Gründe, ihn eigentlich zu hassen. "Es tut mir wirklich leid.", murmelte sie erneut, weil sie befürchtete, er könnte sie beim ersten Mal nicht gehört haben. Mondfeder öffnete seinen Mund, als wollte er noch etwas sagen - aber nein. Traurig sah die ehemalige Heilerin zur Seite.
Plötzlich hörte sie deutlich, dass Mondfeder etwas flüsterte. Nur was? Es war zu leise, als das sie etwas verstehen könnte. Hoffnungsvoll beugte sie sich wieder zu ihm hinunter, doch er war bereits verstummt. Was wolltest du mir sagen?
Die goldene Kätzin schloss ebenfalls ihre Augen und seufzte. Als sie sie wieder öffnete, bemerkte sie sofort, dass Mondfeders Brust aufgehört hatte, sich zu heben. Er lag regungslos da. Mottenflügel wurde von Kummer überwältigt und sie ließ sich neben ihn fallen. Das ist einfach nicht fair! Warum hast du mir das angetan? SternenClan, ist das immernoch deine Strafe für mich? Leise wimmernd presste sie ihre Schnauze in Mondfeders silbergraues Fell, das in der letzten Zeit seinen Glanz verloren hatte. Es war stumpf, ungepflegt und...kalt.
Auf einmal spürte Mottenflügel, wie weicher Pelz ihren striff, doch sie machte sich nicht einmal die Mühe aufzusehen.
"Du hast es geschafft." Schwinges Stimme ertönte neben ihr. Die Wächterin strich ihr vorsichtig mit dem Schweif über den Rücken und versuchte offensichtlich, sie zu trösten. Ja, aber zu welchem Preis?
Zitternd erhob Mottenflügel sich und erwiderte den Blick der getüpfelten Kätzin. Unsicher suchte sie in ihren blauen Augen nach einem Anzeichen von Trauer um ihren Sohn - doch da war nichts. Ausdruckslos neigte Schwinge den Kopf und trat zurück. "Komm, ruh dich erstmal aus. Wir reden später über alles, in Ordnung?"
Mottenflügel nickte schweigend. Sie war nicht in der Stimmung, anderen Katzen dabei zu zuhören, wie sie ihr zum Mord an ihrem eigenen Gefährten gratulieren. Sie werden niemals den selben Schmerz wie ich verspüren. Und so ließ sie sich ohne Widerworte von Schwinge zum Seherbau führen, wo sie langsam in ihr Nest glitt, ihren Kopf auf ihre Pfoten legte und die Augen schloss. Ich wünsche dir alles Gute, Mondfeder.
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Mit schlurfenden Schritten und hängendem Kopf trat Mottenflügel an die Seite von Asche, die ihr besorgt mit dem Schweif über den Rücken fuhr. "Du siehst immer noch ganz schön fertig aus.", bermerkte die rot-schwarze Kätzin und stieß einen tiefen Seufzer aus. "Es ist hart, dich so zu sehen."
Mottenflügel antwortete nicht. Sie starrte einfach weiter zu Boden, während Asche fortfuhr. "Vergiss ihn einfach! Er war sowieso keine gute Katze; das sollte es doch einfacher machen, nicht wahr?", fragte sie, obwohl die goldene Kätzin sich sicher war, dass sie keine Antwort erwartete. Du hast ja keine Ahnung...Jeder Verlust ist schmerzhaft, erstrecht wenn er deine Schuld ist. Wenn es dir erstmal so geht, wirst du verstehen, dass es egal ist, was diese Katze in ihrem Leben getan hat. Das einzige, was dann noch zählt, ist, dass sie tot ist und niemals zurückkehren wird.
Erneut spürte sie, wie Trauer sich in ihr ausbreitete. Er übermannte sie, bis sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Sie fühlte sich gefangen; gefangen in einem Fluss aus Erinnerungen an Mondfeder, aus dem es kein entrinnen gab. Jedes Mal, wenn sie an die Oberfläche gelangte, wurde sie von einer unsichtbaren Macht zurück in die Tiefen gezogen - ein endloser Kreislauf ohne Entrinnen.
Asche schüttelte ratlos den Kopf. "Du musst diese Last nicht allein tragen, Mottenflügel. Schließlich hast du uns gerettet, wir stehen dir zur Seite." Damit drehte sie sich um und lief in Richtung Sammlernester, die in einer Niesche neben dem Eingang zur Sternenhöhle ausgebreitet waren.
Ich könnte so nicht schlafen., sagte Mottenflügel sich stumm. So weit unten und dicht an dicht, dass jede Bewegung mich aus dem Schlaf schreckt. Im Heilerbau gab es immer nur Maulbeerglanz und mich. Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht, als sie an ihre ehemalige Clangefährtin dachte. Maulbeerglanz hatte nie ein schlechtes Wort über sie gesagt, geschweige denn sich gegen sie gewandt. Wie gern würde ich sie noch einmal sehen und ihr sagen, dass sie wie eine Schwester für mich war. Anders als Habichtfrost...Zwar wusste sie, dass ihr Bruder immer nur das Beste für sie gewollt hatte, doch konnte und wollte sie nicht verstehen, wie er sich so vom Bösen vergiften lassen konnte.
Aber jetzt war es ohnehin schon zu spät. Mottenflügel schloss ihre Augen. Ein neues Leben liegt vor dir! Und es ist an dir, es diesmal besser zu machen.
Auf einmal ertönten Pfotenschritte und die goldene Kätzin hob überrascht den Kopf. Sie erwartete Asche zu sehen, doch stattdessen sah sie in das Gesicht eines grauen Katers. "Schwinger?"
Der Wächter nickte wortlos. Dann gab er ihr mit einer Schwanzgeste zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte. Unsicher tappte Mottenflügel hinter Schwinger her, der geradewegs auf die Sternenhöhle zusteuerte. Nicht schon wieder...Ich habe langsam genug von diesem seltsamen Ort.
Obwohl es in der Höhle der Adler ohnehin schon kalt war, spürte Mottennflügel, wie ihr die frostige Kälte unter den Pelz kroch und sie zum Zittern brachte. "Was willst du von mir?", fragte sie Schwinger, der mit ausdruckslosem Blick geradeaus sah. Mit einem abwertenden Schwanzschnippen steuerte der alte Kater auf den kleinen See in der Mitte des Raumes zu. Mit angehaltenem Atem betrachtete Mottenflügel die Wasseroberfläche und bewunderte das Spiegelbild der Sterne. Sie sind so klein...Auch nur ein kleiner Grashalm auf einer riesigen Wiese. Doch mit etwas Glück wächst neben einem von ihnen eine wunderschöne Blume, die sein Leben auf immer versüßen könnte.
Seufzend wandte Mottenflügel sich ab. Ich war vor Monden auch noch so ahnungslos und jetzt...? Ihre Gedanken wurden von einem Räuspern unterbrochen und sie fuhr herum.
Vor ihr stand Schwinge, die sie mit misstrauischem Blick musterte. "Asche hat uns erzählt, dass du diesem Mäusehirn immer noch nachtrauerst.", knurrte sie. "Hör endlich auf damit! Er hat den Tod verdient."
Wut kochte in Mottenflügel auf und sie hatte vor, Mondfeder zu verteidigen, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie nur noch traurig über die Worte der getüpfelten Kätzin war. "Wie kannst du das nur sagen? Er war doch dein Sohn.", miaute sie leise. Schwinge blinzelte für einen Moment irritiert, fing sich aber sofort wieder. "Erwähn das nie wieder. Jetzt lass uns fortfahren." Ihre Stimme wurde kalt und mit einem warnenden Blick auf Mottenflügel tappte sie um den kleinen See herum. Schwinger nickte zustimmend. "Genau, wir sollten uns jetzt auf das wesentliche konzentrieren."
Die goldene Kätzin zuckte nur mit den Ohren und sah weg. Sie hatte in den letzten Monden so viel erlebt, sodass sie nun endlich etwas Zeit zum Durchatmen oder wenigestens zum Trauern haben wollte. Sie akzeptieren nicht, dass ich Mondfeder vermisse. Aber das kann mir egal sein!
Während sie missmutig den Steinboden betrachtete, fuhr Schwinger fort: "Es ist mir bewusst, dass du es nicht leicht hattest. Und ich verstehe auch, dass du am liebsten zu deinem alten Leben zurückkehren würdest." Mottenflügel horchte auf.
Mein altes Leben? Ich bin mir nicht einmal sicher, welches das ist...Mein Leben als Einzelläuferin? Als FlussClan-Heilerin? Oder als Mitglied der Verstoßenen? Ich habe an so vielen Orten gelebt, dass ich mir nicht einmal sicher bin, wo mein wirkliches Zuhause ist. Unsicher erwiderte sie Schwingers Blick, der ihr aufmunternd zublinzelte. "Ich kann sehen, worüber du nachdenkst. Aber es ist an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen." Die Worte des Katers verwirrten Mottenflügel immer mehr. "Wovon sprichst du? Was für eine Entscheidung?", entgegnete sie und legte fragend den Kopf schief.
Jetzt meldete Schwinge sich zu Wort. "Es mag ja sein, dass wir nur zwei alte Katzen in einer Höhle sind, doch unsere Vorfahren können weit aus mehr, als du dir vorstellen kannst. Sie haben den ersten Wächtern die fünf Mächte übergeben und sie dann den nächsten, bis wir sie erhalten haben. Allerdings lief bei einem der Rituale etwas falsch, sodass drei dieser Mächter verloren gegangen sind. Hätten wir gewusst, dass Mondfeder eine von ihnen bekommen hat, dann-" Sie stockte und starrte zu Boden, als würde sie ihren Satz in Gedanken zu Ende sprechen.
"Und was hat das jetzt alles mit mir zu tun?", hakte Mottenflügel nach, obwohl sie sich nicht einmal sicher war, ob sie die Antwort hören wollte.
Mit einem Blick auf die getüpfelte Kätzin neigte Schwinger den Kopf. "Das wird sich jetzt ziemlich verrückt anhören, aber du musst uns glauben." Er sah zu Mottenflügel. "Verstanden?"
Ich habe bereits so viele verrückte Dinge erlebt - mich kann nichts mehr abschrecken. Also nickte sie wortlos und wartete darauf, dass einer der Wächter fortfahren würde. Schwinge lächelte zufrieden. "Wenn ein Adler stirbt, prüfen unsere Ahnen im Totenreich, ob er es verdient hat, einer der ihren zu werden. Wenn ja, erhält er eine besondere Gabe, die es ihm erlaubt, die Dinge zu verändern." Mottenflügel kniff nachdenklich die Augen zusammen. "Was für Dinge?" Sie ließ ihren Blick von Schwinge zu Schwinger schweifen. Der graue Kater trat nervös von einer Pfote auf die andere und seufzte.
"Die Zeit. Sie können in die Vergangenheit eingreifen und sie verändern - egal welche."
Mottenflügel keuchte ungläubig. Das ist doch Blödsinn! Man kann die Zeit nicht manipulieren. Wie soll das überhaupt möglich sein? Kopfschüttelnd trat sie einen Schritt zurück. "Das ist unmöglich."
"Ist es nicht.", beharrte Schwinge und schlug mit dem Schweif. "Was meinst du, warum nur manche Adler den Zutritt zum ewigen Leben nach dem Tod erhalten? Weil sie eine unbeschreibliche Macht erhalten." Mottenflügel öffnete den Mund, fand jedoch nicht die passenden Worte. Mit so etwas Verrücktem hatte sie wirklich nicht gerechnet. "Und- und was heißt das jetzt?" Ihr Hals wurde ganz trocken und ihre Stimme heiser.
Schwinge schnippte mit der Schwanzspitze. "Na was wohl, du Mäusehirn? Du hast die Wahl, welches Leben du führen möchtest.", miaute sie spitz.
Die Augen der ehemaligen Heilerin weiteten sich. Welches Leben ich führen möchte?, wiederholte sie die Worte stumm. Unendlich viele Fragen prasselten wie Regentrofen auf sie nieder. Wie konnte das sein? Für welches Leben sollte sie sich entscheiden? Würde danach wirklich alles so sein wie vorher? Doch eine Frage brannte ihr besonders auf der Seele.
"Wird...Wird Mondfeder dann wieder bei mir sein?" Ihr Herz raste bei der Vorstellung, den silbergrauen Kater wiederzusehen. Ihre Ohren zuckten vor Aufregung hin und her, während sie gebannt auf eine Antwort wartete. Doch ihre Freude versickerte wie Wasser im Boden, als Schwinger schweigend den Kopf schüttelte. "Es tut mir leid, aber der Tod ist etwas, dass wir nie beeinflussen können.", erklärte er mitfühlend. Mottenflügel sah zu Boden. Der kleine Funke Hoffnung, dass alles wieder in Ordnung werden würde, erlosch.
"Ich muss darüber nachdenken." Ohne einen weiteren Blick auf die Wächter schob sie sich an Schwinger vorbei und verließ die Sternenhöhle. Ich habe wirklich die Wahl, welches Leben ich antreten möchte? Ich habe eine zweite Chance? Dieser Gedanke raubte ihr den Atem. Ich kann endlich alles richtig machen. Aber wo- oder besser gesagt: Wann?
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