Kapitel 42

Langsam öffnete Mottenflügel ihre Augen. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Was ist passiert? Wo bin ich? Unter ihrem Fell spürte sie nacktes, kaltes Gestein. Verwirrt erhob sie sich und ließ ihren Blick durch die Gegend schweifen, der jedoch sofort an einem kleinen Teich hängen blieb. "Die Höhle des Lebens.", hauchte sie. Plötzlich wehte ihr ein bekannter Geruch in die Nase und sie wirbelte herum. Doch niemand war dort. "Halber Mond?" Mottenflügels Ruf brach fast unter dem Zittern in ihrer Stimme.

Lauf! Lauf! Du musst dich beeilen!

Wie ein Blitz fiel der goldenen Kätzin ruckartig alles ein. Meine Jungen! Vielleicht sind sie in Gefahr. Ohne zu überlegen stürzte sie los. Die Wunden an ihrer Flanke existierten nicht mehr. Nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben.

So schnell wie Mottenflügel konnte, preschte sie den steinigen Weg zum Lager der Adler entlang, durchquerte die schmalste Stelle des Sees und stolperte fast über ihre eigenen Pfoten, als sie den kleinen Anstieg hinaufstürmte. Ihr Herz raste so sehr wie noch nie. Was würde sie erwarten? War Mondfeder schon da? Hoffentlich bin ich nicht zu spät!

Unsicher spähte die goldene Kätzin an der Höhlenwand vorbei und schnappte entsetzt nach Luft, als ihr Blick auf einen silbergrauen Kater mit weißen Flecken fiel. Sein Fell war gesträubt, seine tiefgrünen Augen starr auf die Menge aus Katzen vor ihm gerichtet. Mondfeder! Er ist hier! Das Verlangen, ihn ihre Kralle spüren zu lassen, verließ Mottenflügel schlagartig. So lange hatte sie ihren Gefährten nicht mehr gesehen. Seit ihrem scheinbar für immer haltenden Traum nicht mehr. Der Gedanke an ihre gemeinsame Zeit versetzte Mottenflügel einen Stich.

Trotz all der vielen schlechten Worte, die unter den Wächtern gefallen waren, hatte sie doch nie aufgehört, Mondfeder zu lieben. Und nie hätte sie sich vorstellen können, dass dies ihr Wiedersehen sein würde.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als ein erstickter Schrei den Steinboden erzittern ließ. Erschrocken riss Mottenflügel den Kopf herum und entdeckte eine zierliche Kätzin, die mit weit aufgerissenen Augen vor Mondfeder stand. Blütenpfote braucht meine Hilfe. Mottenflügel straffte sofort ihre Schultern, bereit, ihre Tochter mit ihrem Leben zu verteidigen, als plötzlich Adlerpfote aus der Menge hervortrat. "Lass meine Schwester in Ruhe!", knurrte der ehemalige Schüler mit brüchiger Stimme.

>>Meine Schwester<< Hatte er das wirklich gesagt? Wusste er doch alles? Aber wie war das möglich? Mottenflügels Pfoten pochten vor Aufregung. Konnte es sein...?

"Ich habe nicht vor, ihr etwas zu tun.", miaute Mondfeder, scheinbar genauso verblüfft wie alle anderen auch. "Wir sind doch eine Familie."

Adlerpfote fauchte wütend und legte drohend seine Ohren an. "Wir sind ganz sicher keine Familie! Du hast unsere Mutter getötet! Du hast unser Leben zerstört! Haben wir dir je etwas bedeutet?" Trotz seiner tapferen Worte spürte Mottenflügel die Enttäuschung ihres Sohnes. Es tut mir so leid, dass ihr ohne Vater aufwachsen musstet. Ich werde alles wieder gut machen, das verspreche ich!

Mit einem gekränkten Blick auf den braungescheckten Kater trat Mondfeder zurück. "Wie kannst du nur denken, dass ich sie getötet habe?"

Jetzt ergriff Blütenpfote das Wort. "Weil wir dein wahres Gesicht kennen, Mondfeder. Du hast sie nie geliebt! Du wolltest von Anfang an nur-" Doch der silbergraue Kater schnitt ihr das Wort ab.

"Du weißt nichts von dem, was ich will!", zischte er. Seine Augen sprühten vor Zorn Funken. "Ich hätte wissen müssen, dass du scheitern würdest. Ich hätte deinem Bruder diese Aufgabe anvertrauen sollen und nicht dir. Diese dämliche Prophezeiung! Sie hat mich in die Irre geleitet."

Mondfeders Worte waren für Mottenflügel so unverständlich, als würde er ihr etwas gegen den Wind zurufen. Nichts von all dem ergab einen Sinn. Was hat die Prophezeiung damit zu tun? Was hat er mit Blütenpfote vereinbart? Was will er wirklich? Gebannt sah die goldene Kätzin zu, wie Blütenpfote unsicher von einer Pfote auf die andere trat, während ihr Bruder ihr einen verwirrten Blick zuwarf. "Wir klären das später.", flüsterte er ihr zu, ehe er sich mit zu Schlitzen verengten Augen an Mondfeder wandte. "Warum bist du dann hier?"

Der Krieger knurrte wütend. "Das geht dich nichts an. Wo sind die Wächter?"

Die Adler tauschten untereinander verängstigte Blicke aus und Mottenflügel sah, wie Asche Mondfeder misstrauisch musterte. Ob sie wohl Freunde waren?

"Wo sind die Wächter!", rief Mondfeder jetzt mit Nachdruck. Als keiner ihm eine Antwort gab, sträubte er verärgert sein Fell. "Wenn ihr mich nicht zu ihnen führt, werde ich-"

"Wirst du was?"

Schwingers schneidende Stimme unterbrach ihn abrupt. Mottenflügel riss den Kopf herum und entdeckte den alten Kater, der Seite an Seite mit Schwinge die Sternenhöhle verließ. "Wie kannst du es wagen, hier wieder aufzutauchen?" Bei Schwinges Worten ging ein überraschtes Raunen durch die Katzen. Auch Mottenflügel blinzelte irritiert. Woher kennen sie sich? War er etwa schon mal hier?

"Wie ich es wagen kann?!" Mondfeder funkelte die Wächter zornig an. "Ihr habt mich doch zum Sterben ausgesetzt, als wäre ich ein altes Stück Krähenfraß."

Schwinge erwiderte seinen Blick standhaft. "Und es war die richtige Entscheidung. Einen Sohn wie dich großziehen zu müssen, wäre eine Schande für uns gewesen."

Sohn? Hat sie gerade Sohn gesagt! Aber das ist unmöglich! Mondfeder kann nicht ihr Sohn sein. Das ist...Das ist...Mottenflügel fehlten die Worte. Nichts ergab Sinn. Ihre Lungen zogen sich zusammen, während sie verzweifelt nach einer logischen Erklärung suchte. Mondfeder kann nicht ihr Sohn sein! Wie kam er dann zu den Verstoßenen? Und warum hat er mir nie davon erzählt?

Die Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr zu: Er hat dich nie wirklich geliebt. Er hat dich nur benutzt! Wiederstrebend schüttelte sie sich. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen. Ich muss verhindern, dass Mondfeder jemandem etwas tut! Langsam pirschte sie sich von hinten an die versammelten Katzen heran. Mondfeder, der zufrieden den schockierten Ausdruck auf den Gesichtern der Adlern betrachtete, brach schließlich die Stille. "Was macht ihr nun?", rief er mit höhnischer Stimme. "Eure tollen Wächter haben das Gesetz gebrochen. Sie haben mich, ihren Sohn, weggeworfen, nachdem ihnen klar wurde, dass sie einen Fehler begangen hatten. Sie sind es nicht würdig, zu-"

Doch plötzlich schlängelte sich eine weiße Kätzin zwischen den Katzen hindurch und blieb vor Mondfeder stehen. "Sei still!", zischte sie den Krieger an.

Überrascht erkannte Mottenflügel Federdlug. Die sonst so sanfte Seherin hatte ihre Ohren angelegt, ihr langes Fell war gesträubt. "Haben sie einen Fehler gemacht? Ja. Haben sie richtig gehandelt? Vielleicht nicht. Doch ich vertraue ihnen und es ist mir egal, was du ihnen hier vorwürfst! Denn alles, was Schwinger und Schwinge getan haben, war für unsere Sicherheit. Und niemand kann das Band zwischen uns einfach so zerstören - erst recht niemand wie du."

Mottenflügel sah die junge Kätzin beeindruckt an. Der Mut, den sie aufgebracht haben musste, um sich einem älteren Krieger entegen zustellen, verdiente ihren Respekt und auch den der anderen Katzen. Mondfeders Schnurrhaare bebten vor Zorn. "Wie kannst du es wagen?", kreischte er. Blitzschnell holte er aus und fuhr Federflug mit seinen Krallen übers Gesicht. Die weiße Kätzin schrie auf. Vor Schreck wichen die Adler alle einen Schritt zurück; auch Federflug, deren eines Auge von roten Kratzern verziert war.

"Ich habe genug!" Mondfeders Stimme war schrill vor Zorn, als er sich an seine Eltern wandte. "Ihr und eure mäusehirnigen Mächte - wie sollen sie euch jetzt noch helfen?"

Blankes Entsetzen breitete sich in Mottenflügel aus. Das war nicht der Kater, den sie zum Gefährten genommen hatte. Dieser hier war ein Fremder, ein Wahnsinniger. Um so entschlossener bewegte sie sich auf Mondfeder zu, der weiterhin auf die Wächter einschrie. "Ihr habt mir nie eine Chance gegeben und deswegen gebe ich euch jetzt auch keine! Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, dass ihr mich loswerden wolltet."

Jetzt! Mottenflügel, die inzwischen nur wenige Schwanzlängen von dem silbergrauen Kater entfernt war setzte zum Sprung an. Da fiel ihr Blick auf Kiesel, das Junge von Glanzkiesel. In seinen Augen lag ein seltsames Leuchten. Aufmunternd nickte der weiß-grau getigerte Kater ihr zu und Mottenflügel begriff, dass er ihr das selbe sagen wollte, wie Halber Mond es schon vorher versucht hatte. Ich muss Mondfeder töten, um die Prophezeiung zu erfüllen und meine Jungen zu töten.

Ihr Herz pochte immer lauter, als sie ihre Beine unter ihren Bauch zog und ihre Blick auf den wutentbrannten Kater richtete. Dann sprang sie.

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