Kapitel 40
Kalter Wind pfiff durch Löwes Fell, als er den steilen Abhang hinunterlief. Es tat gut, nach der langen Nacht auf den harten Steinen wieder zu rennen. Seine Pfoten flogen fast über den gefrorenen Sand und trugen ihn bis zu den ersten Bäumen, die den Waldanfang bildeten. Frische Luft strömte durch seine Lungen, die von der Morgensonne aufgewärmt waren. Was für ein schönes Gefühl. Nach und nach verlangsamte Löwe seine Schritte. Die Kälte des Blattfalls drang zum Glück nicht durch sein dichtes Fell, sodass er nicht so wie die anderen Katzen frieren musste.
Seine Gedanken schweiften zu den seltsamen Katzen, die ihn gestern aufgenommen und ihm eine Heimat gegeben hatten. Wo ich wohl herkomme? Diese Frage quälte ihn seit seiner Ankunft in der rätselhatfen Höhle. Warum nur konnte er sich an nichts erinnern? Es war wie ein Fluch, der auf seinen Schultern lastete.
Ein paar der Adler hatten ihn gefraft, ob er noch etwas wusste. Ob er vielleicht Brennnessel kannte. Sie alle schienen so aufgeregt und tuschelten ständig darüber, wieso Mottenflügel ihre Erinnerungen behalten hatte und er nicht.
Mottenflügel...Dieser Name war in Löwes Kopf hängengeblieben. Die seltsame Kätzin mit dem goldenen Fell hatte ihn nicht nur ständig Adlerpfote genannt, sondern war auch gestern überraschend verunglückt. Die beiden Wächter Schwinger und Schwinge waren mit ihr draußen gewesen, als Mottenflügel plötzlich den Abhang hinabgestürzt war und sich so sehr verletzt hatte, dass sie immer noch bewusstlos im Seherbau untergebracht war. Obwohl die Kätzin auf Löwe irgendwie verrückt wirkte, tat sie ihm leid. Sie hatte ihm schließlich nie etwas getan und im Gegensatz zu einigen anderen Katzen war sie immer freundlich und respektierte ihn.
Dennoch fragte Löwe sich weiterhin, was er mit Mottenflügels vermutlichen Verwandten Adlerpfote zu tun hatte.
Gedankenversunken setzte Löwe sich auf den harten Boden.
Der Wind strich sanft durch sein Fell, als wolle er ihn aufmuntern. Ich bin nicht traurig., dachte er zu sich selbst. Ich bin nur verwirrt.
Plötzlich ertönten Pfotenschritte und der braungescheckte Kater wirbelte überrascht herum. Vor ihm stand Federflug, die stille Seherin der Adler. "Du bist es nur.", murmelte er erleichtert.
"Das höre ich öfters.", seufzte Federflug und setzte sich neben ihn. Löwe spürte, dass er sie gekränkt hatte, doch sagte nichts weiter. Er hatte bisher nur einmal mit ihr gesprochen; und das, als sie ihn gefragt hatte, ob wusste, wo Aal war. Für ein paar Herzschläge herrschte Schweigen. Unbehagen breitete sich in dem jungen Kater aus und er überlegte, sich doch zu entschuldigen, damit er die Stimmung lockern konnte, als Federflug plötzlich zu reden begann.
"Ich muss dir etwas sagen.", hob sie an und drehte ihren Kopf in die Richtung aus der sie gekommen war. Verheimlicht sie etwas? Löwe musterte die weiße Kätzin durchdringend. Hat sie Angst, dass jemand zuhört?
"Bist du mit jemanden hier?" Federflugs Frage bestätigte Löwes Vermutung. Mit einem knappen "Nein" und einem Kopfnicken forderte er sie zum weitersprechen auf. Die Augen der Seherin huschten unsicher von Löwe zur Höhle des Lebens, die sich nicht weit entfernt von ihnen aus der Erde emporstreckte. Wer soll sich denn schon in dieser beklemmenden Dunkelheit rumtreiben? Das ist doch Mäusedung. Sind denn alle hier verrückt?
"Was ich dir jetzt sage, ist sehr ernst und von höchster Wichtigkeit. Verstanden?" Federflug richtete ihren Blick jetzt voll und ganz auf den jungen Kater.
Nur mit Mühe konnte Löwe seinen Körper dazu zu zwingen, nicht zurückzuweichen. Es schien, als ob nicht mehr Federflug vor ihm stünde. Stattdessen wirkte sie wie eine Wächterin selbst. Die Neugier brannte in seinen Pfoten und forderte Antworten. Antworten auf all die Rätsel, die Federflug mit ihrer Geheimnistuerei aufwarf. "Ja.", presste er heraus.
"Es gibt einen Grund, warum du hier bist.", sagte die weiße Kätzin und starrte Löwe mit durchdringenden Augen an. "Die Wächter fürchten schon seit Blattwechseln jenen Tag, an dem das Feuer zu brennen beginnt und Adler und Blüte auf die Probe ihres Schicksals gestellt werden. Und wenn ihr die falsche Wahl trefft, könnte das Feuer die Mächte vereinen und zerstören."
Löwe sah sie mit aufgerissenen Augen an. Je länger er ihr zugehörte, umso unschärfer wurde das Bild in seinem Kopf und gleichzeitig versuchten die vielen Fragen, es weiter zu zerstören.
"Was für ein Feuer? Es ist Blattfall, da wird es wohl kaum zu einem Brand kommen." Er sah Federflug zweifelnd an.
Die Seherin schüttelte verärgert den Kopf und schnippte tadelnd mit der Schwanzspitze. "Ich rede von keinem echten Feuer. Es geht um Mondfeder - deinen Vater."
Mein Vater? Das kann nicht sein! Ich weiß doch nicht mal, wer mein Vater ist. Ich kenne nicht ihn, nicht meine Mutter, nicht meine Geschwister - wenn ich überhaupt welche habe. Warum sollte es gerade an mir liegen, das Feuer aufzuhalten? Der braungescheckte Kater verengte seine Augen zu Schlitzen. "Wer ist >ihr<?", hakte er nach.
"Brennnessel und du", erwiderte Federflug knapp. "Ihr beide müsst Mondfeder aufhalten. Eure Mutter hat ihn bis gestern bändigen können, doch nun ist es ihm gelungen, sie zu besiegen."
"Unsere Mutter? Brennnessel ist meine Schwester!?"
Alles fühlte sich so surreal an. Eben hatte er noch gedacht, Federflug wolle bloß Kräuter sammeln gehen und bräuchte ihn zum tragen; und jetzt hatte er eine besiegte Mutter, eine Schwester, mit der eine Wahl des Schicksals treffen sollte, und einen Vater, der irgendwelche Mächte zerstören wollte.
In diesem Moment fühlte Löwe sich hilflos. Als wäre er allein, genau wie damals, als seine Schwester sich von ihm abgewandt und ihn aus ihrem Leben verbannt hatte. Die Trauer, die sich um sein Herz klammerte, wurde jedoch sofort von Entsetzten verdrängt. Ruckartig wurde ihm alles klar.
"Ich kann mich erinnern!", rief er laut, obwohl Federflug noch immer neben ihm saß. "Ich kann mich an alles erinnern. Blütenpfote, Mottenflügel, Mondfeder, Dachsfang, die Rache! Und an meinen Namen. Ich heiße Adlerpfote, nicht Löwe!"
Aufregung pochte in den Pfoten des Katers, als er sich an Federflug wandte. "Ich muss zu Mottenflügel und ihr alles erklären."
Doch ehe er loslaufen konnte, versperrte die Seherin ihm den Weg. "Das kannst du dir sparen.", miaute sie traurig. "Mottenflügel ist tot."
Der Schock fuhr durch Adlerpfotes gesamten Körper. Seine Muskeln versteiften sich und mit aufgerissenen Augen starrte er die weiße Kätzin an. "Was? Das kann nicht sein.", krächzte er mit heiserer Stimme. Plötzlich traf ihn die Erkenntnis. Dort, wo eben noch Freude und Aufregung in seiner Brust pulsiert hatten, klaffte jetzt ein gewaltiges Loch des Schreckens. Sein Vater hatte seine Mutter ermordert und nun sollte er ihn mit seiner Schwester aufhalten. Das schaffe ich doch nie! Adlerpfotes Gedanken fingen an zu rasen. Ich muss mit Blütenpfote sprechen.
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