Kapitel 33
Mit leerem Blick sah Blütenpfote in den Himmel. Das sonst so strahlende Blau, wie sie es aus so vielen ihrer Tage als Junges kannte, war trüb. Dicke graue Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und Krähen flogen krächzend umher. Ihre funkelnden Augen stets auf den Boden gerichtet, um nichts, keine kleine Bewegung, zu übersehen.
In diesem Moment fühlte Blütenpfote sich wie eines ihrer Beutestücke. Alles hing davon ab, wie gut sie sich versteckte oder ob die schwarzen Vögel sie übersehen würden. Sie spürte, wie der eisige Wind um ihr Fell strich, als wolle er ihr sagen wollen, wie nah sie den scharfen Krallen war, die sie in die Lüfte tragen würden, um sie für immer in die Dunkelheit mitzunehmen. Jeder Gedanke warf neue Vorstellung auf. Neue Ideen, wie sie zum ersten Mal richtig töten würde.
Die Schülerin konnte es immer noch nicht glauben. Der Schock saß ihr tief in den Beinen, ihre Ohren taub, unfähig zu hören, was um sie herum passierte.
Seit sie ins Lager zurückgekehrt war, bangte sie um ihr Leben. Die funkelnden und verachtenden Augen der anderen Katzen machten ihr Angst. Sie konnte spüren, wie die Luft dünner wurde, wenn sie dem Blick von einem anderen begegnete. Jeder hasste sie mit jedem Haar in seinem Pelz. Jeder hielt sie für eine Verräterin, die Dämmerwolke und ihren eigenen Vater zu unrecht beschuldigte. Zwar wurde sie früher schon für ihre schneidende Art kritisiert, aber noch nie wurde sie angefeindet. Um so mehr ging sie Adlerpfote aus dem Weg. Sie konnte ihm nicht einmal in die Augen sehen.
Doch am meisten fürchtete Blütenpfote sich vor Mondfeder. Ihr Vater hatte sie zurück zu den Verstoßenen geschickt, gemeinsam mit einem Auftrag. Sie wusste, was sie riskierte, wenn sie gehorchte. Aber es war zu spät. Sie wurde gewählt.
Mondfeder und Dämmerwolke hatten die Wahlen für das Ritual sabotiert, damit sie gewählt wurde. Sie musste das Ritual gewinnen, so war ihre Aufgabe. Sie wusste, dass sie Blumenfuß niemals alleine besiegen konnte. Aber ich bin nicht allein.
Plötzlich ertönte Eulensterns lauter Ruf. Die hellbraune Kätzin mit den dunkelgrauen Streifen, wurde so schnell in die Gegenwart zurück gerissen, dass sie sich erstmal klar darüber werden musste, wo sie war. Sie saß auf der Lichtung im Lager, um sich die anderen Verstoßenen, die mit neugierigen Blicken auf den Anführerbau zuliefen. Sie warten auf die Ergebnisse der Wahlen., dachte Blütenpfote.
Nervös beobachtete sie, wie Fuchsherz und Blassfuß von ihrem Specht abließen und sich zu Gewitterflügel setzten, der sich gerade mit Dachsfang unterhielt. Weiter rechts tauchten Bleichgesang und Schellbeere aus der Kinderstube auf. Jetzt trat auch Eulenstern aus seinem Bau, doch hinter ihm stand noch jemand. Adlerpfote?
Schockiert starrte Blütenpfote ihren Bruder an. Was macht er da oben? Warum sieht er so traurig aus? Hat Eulenstern ihm alles erzählt? Lauter Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Beruhige dich, Blütenpfote. Du wirst es gleich erfahren. Gebannt beobachtete sie, wie ihr Anführer zu sprechen anhob. "Wie ihr wisst, sind die Wahlen für das Ritual gefallen. Ich stehe nun hier, um euch die zwei glücklichen Katzen zu nennen, die morgen Abend die Möglichkeit erhalten werden, sich den Adlern anzuschließen."
Blütenpfote spürte, wie sie an jedem seiner Wörter hing. Die Spannung um sie herum war deutlich zu spüren. Überall sträubten sich Felle. Unsicher suchte sie nach Blumenfuß, die mit großen Augen zu Eulenstern heraufsah. Mitleid bohrte sich in ihr Herz.
"Ich rufe die Adler an", fuhr Eulenstern fort, "Die Entscheidung der Verstoßenen zu willigen und diesen beiden Katzen auf ihrem Weg ins neue Leben zu beschützen. Am Ritual teilnehmen werden" Blütenpfote merkte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Sie kannte das Ergebnis zwar schon, aber noch nie hatte sie solche Angst verspürt.
"Blütenpfote und Adlerpfote!"
Für eine Weile herrschte Schweigen. Blütenpfotes Sicht verschwamm. Der Boden unter ihren Pfote drehte sich. Adlerpfote...Adlerpfote...Der Name ihres Bruders hallte immer und immer wieder in ihrem Kopf. Das kann nicht sein. Er kann nicht bei den Kämpfen mitmachen. Ich weiß genau, dass es Blumenfuß war! Wieso er?
Wie betäubt sah sie zu Mondfeder und Dämmerwolke. Die beiden Krieger tuschelten aufgeregt miteinander und es war nicht zu übersehen, dass auch sie nicht mit diesem Ergebnis gerechnet hatten.
Ich kann doch nicht meinen eigenen Bruder töten., rief Blütenpfote sich in Erinnerung. Natürlich kannst du. Oder willst du, dass Mondfeder dich tötet? Oder das Dämmerwolke dich wieder leiden lässt? Hast du etwa schon vergessen, wie es war? So ganz ohne eine Stimme in deinen Ohren? Ohne einen Ton auf deiner Zunge? Ohne einen Lichtschimmer in der endlosen Dunkelheit? Blütenpfote kniff die Augen zusammen. Nein! Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie mehrere Tage allein durch die dunklen Gänge geirrt war, ohne auch nur irgendein Zeichen zu sehen, oder zu hören.
Aber ich kann ihn nicht töten! Er ist mein Bruder! Verzweifelt versuchte Blütenpfote die Stimme aus ihrem Kopf zu verdrängen. Nun, dann heißt es wohl, du oder er. Nur einer kann überleben. Lass nicht zu, dass Adlerpfote alles zerstört. Was hat er je für dich getan?
Diese Worte trafen Blütenpfote härter als alles andere. Sie kam mit dem Verrat ihres Vaters und mit dem ihrer Mutter um. Aber nicht mit dem ihres Bruders. Sie wusste, dass Adlerpfote nicht für sie da war. Sie wusste, dass er sie für seinen Ruf und seine Freunde fallen lassen würde, auch nur ohne zu zögern. All die Monde hatte sie diesen Gedanken verdrängt, doch jetzt...
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