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"Lilly! Hast du den Wecker verschlafen?"
Ich rieb mir die Augen und stemmte mich hoch. Mein Schädel brummte und das Bild vor meinem Auge pulsierte gleichmäßig. Nach einer Minute ebbten die grellen Lichtblitze ab und ich konnte meine Umwelt wieder deutlicher sehen.
"Was? Nein - Ja - uhh", stöhnte ich.
Dave verschränkte die Arme vor der Brust. "Du hast gestern zu viel getrunken", stellte er fest.
Ich ließ mich in die Kissen fallen. "Geht dich 'n Scheiß an", presste ich hervor und unterdrückte ein weiteres Stöhnen.
"Marc will uns bei Lou treffen", drängelte Dave. Augenrollend drehte ich mich auf die andere Seite. Dann stemmte ich mich unter einem schweren Ächzen auf, sprang auf (und fiel fast um, da ich zu viel Schwung hatte) und sammelte meine Klamotten zusammen, um mich anzuziehen. Ich rauschte an ihm vorbei ins Bad, wohlwissend, dass wohl nur eine Katzenwäsche drin war und leider keine ganze Dusche. Fuck, da hatte ich wohl vergessen, mir den Wecker zu stellen.
Beim Bewegen taten meine Muskeln etwas weh, aber das ging relativ schnell vorbei. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich mich angezogen und mich einigermaßen ansehnlich gemacht.
Als ich durch den Flur stürmte und meine Jacke vom Haken riss, saß Dave mit verschränkten Armen am Küchentisch und schien es gar nicht mehr eilig zu haben.
"Frühstück?", kam nur von ihm.
Ich verzog das Gesicht. "Nein danke, ich kann später essen."
Dave zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er nahm sich seine Bauchtasche, die auf dem Sideboard im Flur lag und stemmte die Fäuste in die Seite. "Dann mal los."

Über die ganze Aufregung mit Tony Doyle's Blut konnte man fast die Leiche vergessen, die wir in dem VW-Bus gefunden hatten. Es war Jakob Pollax, ein Kumpel von Clayton. Durch das Handy konnten wir nachweisen, dass auch Tony Doyle Kontakt zum Mordopfer hatte. An den Fingern und der Kleidung fand Richie, der mittlerweile in Deutschland eingetroffen war, Schmauchspuren und andere explosive Bestandteile. Das legte nahe, dass er unser Bombenbastler war.
Parallel hatte Lou das Material der Tankstelle gesichtet. Sie war noch nicht fertig, aber sie hatte schon etwas gefunden.
Die Qualität war miserabel. Auf die Entfernung hatten wir keine Chance, auch nur annähernd ein Identifikationsmerkmal des Täters zu erkennen. Aber dafür wussten wir nun, dass die Leiche tatsächlich bewegt worden war. Der Täter hatte auf ihn geschossen. Dreimal hatte er abgedrückt, einmal Treffer in den Oberbauch, der zweite Schuss war ein glatter Durchschuss durch den Hals. Dabei war wahrscheinlich die Carotis-Arterie verletzt worden, wodurch er innerhalb weniger Minuten verblutete. Das Opfer sackte nach dem zweiten Schuss vermutlich kraftlos in sich zusammen. Der Täter trat daraufhin näher und zielte nochmals auf den Kopf, um sicher zu gehen. Danach durchsuchte der Täter die Leiche seelenruhig und schleifte ihn zum Auto, wo er ihn auf den Fahrersitz setzte. Er trat zurück, zündete sich eine Zigarette an und verschwand.
Apropos Zigarette, mich juckte es ebenfalls in den Fingern. Devan hatte mir meine Zigaretten abgenommen mit den Worten, ich würde sie wieder kriegen, sobald wir den Fall abgeschlossen hatten. Ich hatte ihn nur böse angestarrt. Am liebsten hätte ich ihn erschossen, aber das hätte Marc sicher nicht gefallen, also riss ich mich zusammen. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf die Tischplatte. Die innere Unruhe wurde immer größer und ich schwitzte. Ich bezweifelte, dass ich noch lange durchhielt. Um mich etwas zu beruhigen, versprach ich mir, wenn ich ins Hotel kam, würde ich eine Flasche Wein trinken oder auch was Stärkeres.

Ich war geistig ziemlich abwesend und deshalb froh, als Marc uns für den Tag heimschickte. Ich war sauer auf Devan und sprach kein Wort mit ihm. Wie unglücklich, dass ich die Schlüsselkarte hatte und nicht er. An irgendeiner Ecke hängte ich ihn ab. Als ich mir sicher war, dass er mir nicht folgte, schlich ich mich ins Hotel rein und rauf zu meinem Zimmer. Ich nahm diesmal die Treppen und beobachtete achtsam jede Bewegung um mich herum.
Eilig flitzte ich zu meiner Tür, schloss sie auf und drückte sie hinter mir schnell wieder zu. Glück gehabt.
Devan trommelte wie wild an die Tür. Aber das hatte ich erwartet. "Mach' auf, Lilly!"
Aber ich saß mit einer sehr geduldigen Flasche Wein auf der Couch und schaute Videos auf meinem Handy.
Irgendwann hörte das Getrommel auf, aber ich nahm es gar nicht so richtig wahr. Was machte ich nur? Ich trug nichts zu den Ermittlungen bei; was für eine VERSAGERIN. Tränen schossen mir in die Augen und ich konnte nicht mehr klar sehen. Die Weinflasche in meiner Hand wurde zu meinem Trostpflaster und ich setzte sie erneut an, nur um festzustellen, dass sie leer war. Meine Hand fiel herunter. Ein Wort pulsierte in meinem Kopf in einem rostigen Rot: VERSAGERIN! Ich war ein Monster, brachte nichts als Unglück und Verderben über alle, die mir nahestanden. Mein Magen rumorte. Ihm gefiel der Stress gar nicht, auch wenn es nur mentaler Stress war. Ich machte alles nur schlimmer! Alles fing an, sich zu drehen.
Auf einmal fand ich mich im Bad wieder. Ich kniete auf den kalten Fliesen und als ich mir über die Lippen leckte, schmeckte ich Magensäure. Ich hatte mich erbrochen. Schwankend erhob ich mich und taumelte zum Waschbecken, um mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen. Ich musste mich am Waschbecken festhalten und starrte in den Spiegel. Durch mein Heulen war mein Mascara verlaufen und lange Tränenspuren zierten meine Wangen. Ich sah aus wie ein Zombie. Wer war diese Person im Spiegel? Verdammt, ich hasste sie! Meine Lippen zitterten, als ich gegen einen erneuten Heulkrampf kämpfte. Was hatte sie mir angetan? Was würde sie mir noch antun? Ich konnte nicht zulassen, dass das passierte, nein, ich musste es verhindern! In einem verzweifelten Anfall ballte ich meine Hand zur Faust und mit einem dumpfen Aufprall traf sie auf dem kalten Glas auf. Es gab ein lautes Klirren und die Scherben lagen verteilt um mich herum auf dem Boden. Was hatte ich nur getan? Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und sank geschwächt zu Boden. Mit dem Rücken lehnte ich mich an die kühlen Badezimmerfliesen und hob eine Scherbe auf. Ich betrachtete mein Antlitz in dem zersprungenen Glas und erschrak mich einmal mehr, als mir bewusst wurde, dass ich mich selber anblickte. Diese starren, leblosen Augen passten gar nicht zu mir. Nein, ich wollte sie nicht haben. Sie passten nicht! Ich öffnete meinen Mund, konnte ihm aber erst nach einigen Augenblicken den Schrei zuordnen, den ich zeitgleich entlassen hatte. Ich drückte mir das Glas in die Armbeuge und schloss die Augen.

Dass Marc durch die Tür kam und panisch herumschrie, an mir rüttelte, bekam ich gar nicht so richtig mit. Alles war voller Blut, oh, so viel Blut!, und ich spürte, wie mir jemand den Arm abband und ein Handtuch auf die Wunde drückte. Marc, war es Marc?, nahm mich fest in den Arm und strich mir beruhigend übers Haar. Er flüsterte auf mich ein und hielt mich ganz fest, während mein Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. Oder war mir vielleicht einfach nur kalt? Mir war kalt; der Boden war eisig und ich nur in Unterwäsche und einem oversized T-Shirt gekleidet. Irgendwann half mir dieser Jemand neben mir auf und stützte mich, während wir in einen anderen Raum gingen. Jemand legte mir eine Decke um die Schultern. Da wurde es mir gleich wärmer.

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