Kapitel Zwei - Das Lazarett
Es ging gegen sechs, als Friedrich auf den Vorplatz einbog. Die Martinskirche war ein Gebäude aus rotem Backstein, das seit guten vierhundert Jahren fest verwurzelt mit dem Vorplatz und der angrenzenden Parkanlage. Ein paar Kilometer dahinter ließen sich die Anfänge des Waldes erkennen, zur anderen Seite ging es in die Stadt.
Die Eingangstür stand zur Hälfte offen. Zwei Nonnen eilten soeben heraus, zu beschäftigt, um Friedrich zu bemerken. Er war nur froh drum, obgleich er im Auftrag seines Vaters hier war, fühlte er sich doch fehl am Platz.
Nicht zuletzt durch die rötlich-braunen Flecken, die die beiden Ordensschwestern auf ihren Schürzen hatten. Friedrich schluckte.
,,Der macht mich verrückt", hörte er die linke Nonne, ein blasses Mädchen mit blonden, fast weißen Brauen und blasser Haut, zetern. ,,Was tut der überhaupt da? Wir kämen super ohne diesen Irren klar."
,,Reg dich nicht auf", erwiderte die andere und legte ihr eine Hand auf die Schulter, während sie ihr hinterhereilte. ,,So schlimm wird er schon nicht sein."
,,Ach ja? Weißt du was man sich erzählt?" Sie reckte ihr spitzes Kinn. ,,Angeblich soll er-"
Was man sich angeblich erzählte, konnte Friedrich jedoch nicht mehr verstehen. Ihre Schuhe klapperten hektisch über die Pflastersteine, während sie sich entfernten und in Richtung des Klosters verschwanden. Er blieb vor der Tür stehen, immer noch unschlüssig, was er nun tun sollte. Für einen kurzen Moment schien Umkehren eine gute Option. Wenn Ordensschwester mit Blut auf der Schürze aus der Kirche kamen, musste es ernst sein.
Doch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, kam eine weitere Person um die Ecke.
,,Ah, da bist du ja." Ein Mann mit dunklem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, schien wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Er trug eine schwarze Soutane und hielt ein kleines Gefäß in der Hand. Friedrich kannte diese Tube, darin befand sich Öl für die Krankensalbung. ,,Ich will gar nicht wissen, wo du dich so lange herumgetrieben hast."
,,Entschuldigung. Ich bin gerade erst aus Leipzig zurück, es war alles etwas durcheinander heute." Fast erwartete Friedrich von seinem Vater eine weitere Schimpftirade über Onkel Johann, der ein schlechter Umgang sei, doch er brummte nur etwas Unverständliches und winkte dann ab.
,,Jetzt bist du ja hier. Und es ist immer noch genug zutun. Die Ordensschwestern und zwei Ärzte aus der Stadt sind bereits hier und kümmern sich um die Verwundeten, aber es werden immer mehr Soldaten." Für einen kurzen Moment wirkte der Blick seines Vaters abwesend und eine tiefe Sorgenfalte hatte sich in seine Stirn gegraben. Doch mit einem Blinzeln hatte er seine Fassung wiedererlangt und nickte in Richtung der Tür.
Friedrich folgte ihm durch das schlicht gehaltene Portal¹ und den Vorraum ins Hauptgebäude. Obwohl er sich ungefähr hatte vorstellen können, wie es in einem Lazarett aussah, schlug ihm die Realität mit neuer Wucht entgegen, als er die Glastür hinter sich geschlossen hatte und seinen Blick durch das schweifen ließ, was einst die Martinskirche war.
Bänke, Altar und Lesepult waren entfernt worden. Auch einige der teuren Gemälde und das große Kruzifix fehlten. Stattdessen waren dutzende provisorische Krankenhausbetten in mehreren langen Reihen aufgestellt, sowohl im Kirchenschiff als auch dem Altarraum. Durch drei Torbögen, die einen Teil vom Hauptraum abtrennten, konnte man weitere erahnen. Der Geruch nach Blut und Tod lag in der Luft und vereinzelt waren Schreie und Klagen zu hören.
Dazwischen liefen Ordensschwester hin und her und kümmerten sich um die Patienten, von denen die meisten schlimm zugerichtet waren. Friedrich spürte, wie ihm bei dem Anblick von verdrehten Gliedmaßen und Kopfwunden ein flaues Gefühl im Magen aufstieg, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
,,Herr Pfarrer! Gott sei Dank, dass sie wieder hier sind!" Eine Nonne stürzte auf sie zu, der schwarze Schleier energisch wallend, während ihre blauen Augen wütend blitzten. Sie war in Begleitung eines Mannes, der zu alt für einen Schüler schien, jedoch zu jung war, um bereits Arzt zu sein. Ein Medizinstudent, tippte Friedrich. Im Gegensatz zur Schwester wirkte er nahezu gleichgültig, auch wenn Friedrich aus dem Blickwinkel sehen konnte, dass er die Augen verdrehte, als sie den Mund aufmachte.
,,Sie müssen ihm erklären, dass-"
,,Jetzt atmen Sie einmal ganz tief durch." Sein Vater, dessen Gesicht nun jegliche Härte verloren hatte und ganz in der Rolle als Pfarrer aufging, hob beschwichtigend die Hand. ,,Was ist denn los?"
,,Der Zustand des Soldaten Preuß hat sich stark verschlechtert", erklärte an ihrer Stelle der Student. ,,Schwester Hildegard meint, Sie müssten sofort die letzte Ölung vornehmen, bevor es zu spät ist." Der Unterton, der dabei in seiner Stimme mitschwang, gefiel Friedrich nicht.
Schwester Hildegard schien es ähnlich zu gehen, denn sie schnappte nach Luft. ,,Sie stellen es als geradezu lächerlich dar!"
Der Student schloss für einen kurzen Moment die Augen, als wolle er damit verhindern, sie noch ein zweites Mal zu verdrehen. ,,Nichts läge mir ferner", erwiderte er dann langsam, ,,aber bedenken Sie, dass der Patient unter einer Dosis Schmerzmittel steht, die rein gar nichts bewirken. Anstatt uns um Öle zu kümmern, sollten wir uns lieber darauf fokussieren, was da im Plan schiefläuft. So zögern wir seine Schmerzen nur heraus."
,,Doktor Mannheim hat den Behandlungsplan entwickelt." Schwester Hildegard fixierte ihn mit ihren habichtgleichen Augen. ,,Wollen Sie ihm die Eignung absprechen?"
,,Wenn er derjenige ist, der diese Masse an Morphium für sinnvoll hält, durchaus."
Friedrich zog die Augenbrauen hoch, während er dem Gespräch aus dem Hintergrund folgte und dabei zusah, wie sich Hildegard Gesicht langsam von hell- zu dunkelrot verfärbte.
,,All seine irdischen Leiden werden vorbei sein", zischte sie, ,,wenn er den Segen durch den Herrn erfährt."
,,Weise Worte, Schwester Hildegard", ging Pfarrer Staps eilig dazwischen und räusperte sich. ,,Dann werden wir am besten keine Zeit verlieren. Ich habe die Öle bereits bei mir."
Die Frau nickte erleichtert. ,,Gut. Ich führe Sie gleich hin." Doch nicht, ohne dem Studenten noch einen finsteren Blick zuzuwerfen, den dieser ignorierte. Friedrich konnte sie verstehen. Er konnte es noch nicht genau benennen, doch etwas an der Art des jungen Mannes störte ihn.
Dieser murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, als er Friedrich bemerkte. ,,He, du! Was tust du hier?"
,,Va- Der Pfarrer sagte, jede Hilfe werde gebraucht." Es verletzte beinahe ein wenig seine Ehre, dass er sich vor diesem Studenten als Sohn des Pfarrers für seine Anwesenheit in der Kirche rechtfertigen musste.
,,Meinetwegen. Er hat Recht. Komm mit, wenn du dich nützlich machen willst." Er ging ein paar Schritte voraus und wandte sich dann zu Friedrich um. ,,Keine Angst, die meisten Patienten wurden im Kampf verwundet. Ist auch nicht ansteckend."
Da war er wieder. Dieser arrogante Unterton, den er eben schon bei Schwester Hildegard hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, war er losgegangen, in einen hinteren Teil der Kirche. Friedrich sah ihm nach. Bei der nächsten Gelegenheit würde er so viel Abstand von diesem jungen Mann nehmen, wie möglich.
Doch fürs erste folgte er ihm; in erster Linie um zu beweisen, dass er keine Angst vor ein paar verwundeten Soldaten hatte.
Durch die gläsernen Fenster fiel gen Westen die Abendsonne und warf orange-rote Reflektionen an die gegenüberliegende Seite. Rot wie das Blut, das einem Patienten, an dem sie vorbeikamen, aus einer klaffenden Kopfwunde den kahl rasierten Kopf heruntertropfte, während eine Nonne gerade den Verband ansetzte.
Schnell wandte Friedrich seinen Blick ab und suchte sich einen Punkt geradeaus, den er fixieren konnte. Das letzte Gemälde der Passion Christi, die inform von dreizehn Ölgemälden an den Wänden nacherzählt wurde. Er hatte sich als Kind immer abgewendet, da ihm die deutlich sichtbaren, überstrecken Halsmuskeln Jesu, dessen Kopf leblos zur Seite geneigt war, und die grob in die Gliedmaßen eingeschlagenen Nägel Alpträume bereitet hatten.
Auch heutzutage jagde es Friedrich einen kalten Schauer über den Rücken, doch die gemalte Gewalt war immer noch besser auszuhalten, als die Reale. Er fragte sich, wie die Nonnen das den ganzen Tag lang aushielten.
Sonst schien sich alles an die neuen Umstände des Lazarettes angepasst zu haben. Die einzigen Überbleibsel waren die acht Apostel, deren kleine Skulpturen in etwa zwei Metern Höhe zwischen den Fenstern angebracht waren. Sie waren Pfarrer Staps schon länger ein Dorn im Augen gewesen; Heiligenverehrung, besonders durch Figuren, gehöre nicht in seine Kirche.
Leider war der Bischof da anderer Meinung gewesen, da sie als historisches Erbstück galten, und so waren Markus, Lukas und die anderen geblieben. Selbst Petrus, dem ein kleines Stück Stein am rechten Ohr abgebröckelt war. Friedrich hatte es bemerkt, als er spät abends vom Orgelboden hinabgeschaut hatte. Die vielen Stunden, die er schon in der Martinskirche verbracht hatte, hatten es zu einer Art zweitem Zuhause für ihn gemacht, das er mit allen Ecken und Makeln kannte.
Umso mehr störte es ihn, was daraus geworden war. Auch wenn Friedrich wusste, dass dieser Ärger zutiefst egoistisch war.
Der Student, den das alles offensichtlich weniger störte, war vor einem Feldbett stehen geblieben, auf dem ein kräftiger Mann von etwa vierzig Jahren saß. Sein ergrautes Haar war bereits stark zurückgegangen, dafür trug er einen markanten Schnauzer und buschige Augenbrauen. Die Ärmel seines schmutzigen Hemdes hatte er hochgekrempelt, doch die Arme schienen in Ordnung.
,,So, was haben wir denn hier." Der Student musterte ihn kritisch.
,,Ach, wissen's, ich bin Dachdecker. Da kann sowas schnell mal passieren. Einmal nicht aufgepasst, und da hat man den Salat." Seine Stimme klang nicht halb so röchelnd wie die der Soldaten, die Friedrich bisher gesehen hatte. Trotzdem gab er sich Mühe, nicht auf das Bein des Mannes zu schauen.
,,Naja. Bin zum Hausarzt, aber nur, weil meine Ilse es gesagt hatte. Wissen's ja, wie die Frauen sind." Er lachte keckernd und schien eine Reaktion von seinem Gegenüber zu erwarten. Doch im Gesicht des Studenten war keinerlei Regung zu erkennen.
Friedrich wagte es nun doch, sich den Patienten genauer anzusehen und bereute es sofort. Das Bein des Mannes, bei dem es sich um den Dachdecker Naumburgs, Herr Krüger, handelte, war an einigen Stellen aufgeplatzt und blutete stark, und er fragte sich, was an dem Alltag eines Dachdeckers dran war, dass so etwas ,,schnell mal passieren" konnte. Außer vielleicht vom Dach zu fallen.
,,Wir sind nun also ein lokales Krankenhaus", merkte der Student an. ,,Schön." Er machte einen tiefen Atemzug, bevor er fortfuhr. ,,Wir werden die Wunde erst reinigen, dann lassen sich genauere Schlüsse über ihre Natur ziehen." Er betrachtete Herrn Krüger für einen Moment mit kritischem Blick. ,,Dass Sie morgen wieder aufs Dach steigen, lässt sich aber wohl ausschließen."
Krüger schnaubte. ,,Normalerweise lass' ich mich ja nur von meinem Hausarzt behandeln", erklärte er dann. ,,Dich hab ich hier noch nie gesehen." Als er keine Antwort erhielt, hakte er weiter nach. ,,Ich will dir natürlich nicht in dein Fachwerk reden, weiß Gott. Aber die Menschen hier vor Ort bevorzugen einen Arzt, dem Sie vertrauen."
Friedrich sah, wie etwas an der Miene des Studenten zuckte.
,,Ich würde keinen Anlass darin sehen, das in meinem Fall nicht zu tun", erwiderte er jedoch trocken, während er einen Eimer mit Wasser und einen Lappen nahm.
,,Na kommen's." Krüger lachte, biss jedoch gequält die Zähne zusammen, als der nasse Lappen auf sein verwundetes Bein gepresst wurde. ,,Du bist ja kaum mehr als ein Junge", stieß er dabei hervor. ,,Haben's denn überhaupt schon eine Erlaubnis, sich Arzt zu nennen?"
Der Student verdrehte die Augen, während Friedrich zwischen den beiden hin und her sah.
,,Ich bin Ihnen keine Rechenschaft meiner Eignung schuldig", erklärte er seelenruhig und tunkte den blutverschmierten Lappen erneut in den Eimer. ,,Aber wenn Sie schon fragen: Joschka Gerber, Doktor Joschka Gerber. Ich verstehe selbstverständlich wenn Sie die Behandlung durch einen Vertrauten bevorzugen, obgleich der werte Kollege Manheim gerade leider Gottes sehr viel zutun hat. Natürlich kann ich Ihnen auch eine der Schwestern holen. Ich bin sicher sie werden sich ganz rührend mit ihren Gebeten und Weihwasser um Ihr Bein kümmern."
Mit einem Nachdruck, der deutlich an Herr Krügers schmerzverzerrten Gesichtsausdruck zu sehen war, presste der Student, der anscheinend doch Arzt war, den Lappen wieder auf die Wunde.
,,Sie müssen ruhig halten, sonst wird das nicht." Joschka Gerber zog die Stirn in Falten und warf einen Blick auf Friedrich. Als wäre ihm gerade wieder eingefallen, dass er auch noch da war, zog er die Augenbrauen hoch.
,,Du. Ich habe eine Aufgabe für dich. Bring mir meine Tasche von da hinten. Eine braune, die linke Schnalle ist kaputt." Doktor Gerber stellte den Eimer zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. ,,Es erschließt sich mir nicht, warum der Herr sich nicht in einem Krankenhaus behandeln lässt, aber wir können ihn schlecht abweisen." Seinem Ausdruck nach zu urteilen, hätte er das wohl am liebsten getan.
Friedrichs Puls hatte sich langsam beruhigt. Zwar war ihm von dem metallischen Blutgeruch noch immer ein wenig übel, doch seine Nervosität war rein irrational. Was hatte er schon zu befürchten?
,,Wird's bald?" Doktor Gerbers Stimme riss ihn aus den Gedanken. ,,Bist du eingeschlafen?"
Friedrich verzog das Gesicht. Abgesehen von einem übel gelaunten Arzt hatte er nichts zu befürchten.
Einen bissigen Kommentar herunterschluckend, damit er keinen Streit anfing, drehte er sich um, um nach der Tasche zu sehen. Gerber hatte nach links gezeigt, zur gegenüberliegenden Seite der Kirche. Hier hingen die ersten sechs Bilder der Passionsgeschichte und der beschädigte Petrus, der in einer Hand eine Schriftrolle hielt.
Friedrich sah sich um. Krankenhausbetten, eines glich dem anderen. Verschiedene Gläser, in denen Mixturen und Öle schwammen. Nadeln, Werkzeuge und Faden lagen auf den kleinen Tischen, die meist nahe bei den Patienten standen. Ordensschwestern eilten umher, irgendwo schrie jemand vor Schmerz. Wo war nur diese verdammte Tasche?
,,Suchst du etwas?" Es war Schwester Hildegard, die nun mit einem Korb blutiger Tücher um die Ecke kam. Sie schien sich wieder beruhigt zu haben und die Falten auf ihrer Stirn hatten sich geglättet.
,,Eine Tasche", antwortete Friedrich, erleichtert, zwischen den Soldaten und Doktor Gerber endlich wieder ein freundlicheres Gesicht zu sehen. ,,Mit einer kaputten Schnalle. Die Linke war's, glaube ich."
Hildegards Augenbrauen wanderten in die Höhe. ,,Ja." Sie ging in Richtung Sakristei und deutete ihm mit einer Handbewegung an, mitzukommen. ,,Du hast Bekanntschaft mit Doktor Gerber gemacht, nehme ich an?"
,,Mehr oder weniger." Friedrich beeilte sich, ihr hinterher zu kommen. Obwohl Schwester Hildegard mindestens auf die sechzig zuging und kleiner war als er, eilte sie überraschend schnell an den Betten entlang. ,,Wir haben kaum gesprochen."
,,Das würde ich dir auch nicht raten." Das sonst so freundliche Gesicht der alten Frau verdüsterte sich. ,,Generell empfehle ich dir nicht, dich allzu lang in seiner Gesellschaft zu befinden."
,,Warum?" Zwar konnte er es sich bereits denken, doch ihn interessierte auch ihre Seite. Hildegard öffnete die Tür zur Sakristei.
,,Da hättest du ja lang in der Kirche suchen können", brummte sie dabei. ,,Er weiß doch ganz genau, wo er das Teil gelassen hat." Sie trat zur Seite und ließ Friedrich zuerst eintreten, bevor sie folgte und die Tür wieder hinter sich schloss.
,,Nun, ich will nicht schlecht über ihn reden. Ich bin mir sicher, er ist ein sehr fähiger Arzt."
Friedrich schüttelte ungläubig den Kopf. ,,Wie kann der überhaupt schon Arzt sein?"
,,Seine Zeugnisse waren alle einwandfrei", erwiderte Hildegard. ,,Der Herr Pfarrer hat extra nach Leipzig an die Universität geschrieben, ob Doktor Gerber dort wirklich studiert hat. Sie haben die Echtheit seiner Dokumente bestätigt. Aber dein Vater hatte uns versichert, sobald es zu irgendwelchen Vorfällen kommt, ist der weg." Sie lächelte angestrengt und stemmte die Hände in die Hüfte. ,,So. Da ist die Tasche, die du suchtest."
Tatsächlich stand eine braune Ledertasche, die sichtlich abgenutzt aussah und deren linke Schnalle an der Ecke abgebrochen war, auf dem kleinen Schreibtisch.
,,Gibt es irgendeinen Grund, von... Vorfällen auszugehen?", fragte Friedrich, bevor Hildegard wieder gehen konnte. Diese seufzte.
,,Du fragst heute ziemlich viel."
Friedrich zuckte mit den Schultern. ,,Es geht meinen Vater anscheinend etwas an, also irgendwie auch mich", erklärte er und versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass er sich die Begründung selbst nicht abnahm.
,,Soso. Na gut." Hildegard strich sich übers Kinn, wie immer, wenn sie nach den richtigen Worten suchte. Friedrich war sich sicher, dass sie, wenn sie ein Mann wäre, sich regelmäßig durch ihren Bart fahren würde. Wahrscheinlich würde sie ihn so selten wie möglich kürzen, um länger durchfahren und über Worte nachdenken zu können.
,,Er scheint mir einfach ein bisschen zu interessiert in bestimmte Themen", begann sie vorsichtig. ,,Es hat seinen Grund, dass ein Bäcker bei seinen Broten bleibt und ein Tischler bei seinem Holz. Wo kämen wir hin, wenn der Bäcker nun die Möbel machen würde?"
,,Das wäre nicht so gut", stellte Friedrich fest, da Hildegard ihn ansah, als ob sie eine Antwort erwarte. ,,Aber was hat das mit Doktor Gerber zutun?"
Hildegard winkte ab. ,,Lass das mal unser Problem sein, ich habe dir schon viel zu viel von Angelegenheiten erzählt, die nicht deine sind. Pass einfach auf, dass er dir nicht zu viel reinredet, konzentrier dich lieber auf das, was du für deine Ausbildung lernen sollst. Auch wenn ich mich natürlich freue, dich öfter hier zu sehen."
Sie lächelte ihm zu, bevor sie in Richtung Tür nickte. ,,So, und jetzt bring die ihm lieber, bevor er noch ungeduldig wird."
Natürlich war Friedrich klar, dass ihn das Ganze nichts anging. Und eigentlich war es ihm auch egal. Doch je mehr er darüber nachdachte, was Hildegard gesagt hatte, desto mehr Fragen kamen ihm auf. Und desto mehr verspürte er den Drang, der Sache auf den Grund zu gehen.
⋙⋙⋙ ♰ ⋘⋘⋘
¹Das Portal einer Kirche ist die breite, oftmals durch Figuren oder Verzierungen im Mauerwerk dekorierte Eingangstür.
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