Kapitel Zehn - Der Rabe
Friedrich strebte den Ausgang an, zuerst noch benommen, dann immer schneller. Zum Schluss rannte er fast durch die breite hölzerne Flügeltür, die um diese Uhrzeit längst nicht mehr weit offen stand. Endlich konnte er den Himmel wieder über sich sehen. Die orange-roten Farben des Sonnenuntergangs, die in das letzte Blau des Tages übergingen und zusammen in eine obskure Mischung abdrifteten.
Doch das reichte nicht. Friedrich musste hier weg. So schnell wie möglich, denn das Gefühl zu ersticken war noch immer da. Links ging es in die Stadt, deren Lichter schon von hier aus zu sehen waren. Zur anderen Seite in den Wald.
Viele Menschen waren das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Also irrte Friedrich los, in Richtung Naumburger Forst. Bis er die ersten Bäume erreichte und die gepflegten Wege der Parkanlage in einen erdigen Pfad mündeten. Keine Seele weit und breit. Niemand, der die lauen Abendstunden für einen Spaziergang nutzte.
Also rannte er los. Zuerst über den Weg, den Mensch und Natur über die Zeit befestigt hatten, dann an einer Kurve einfach weiter geradeaus. Durch Laub und Gestrüpp, vorbei an Ästen, die ihm ins Gesicht peitschten, Dornenbüschen, die an seinem Hemd rissen, und Wurzeln, die ihn zum Stolpern bringen wollten.
Und die Bäume. Überall waren Bäume; hohe, schwarze Tannen; Kiefern und Fichten. Sie ragten bis in den Himmel, schienen die Wolken zu berühren und nach dem Raben zu greifen, der dort oben seine Kreise zog.
Warum? Warum durfte dieser dumme Vogel leben und Lilou nicht? Friedrich blieb stehen und starrte hinauf. Tränen der Wut ließen seine Sicht verschwimmen. Doch hier brauchte er sie nicht zurückhalten. Sie rannen brennend über sein Gesicht. Vielleicht würde es so weggehen.
Tat es nicht. Der Schmerz saß ihm noch tief in den Gliedern und der Rabe zog noch immer seine Kreise. Als wolle der Vogel ihn verhöhnen.
Da schrie Friedrich. Er schrie, wie er noch nie geschrien hatte. Mit all der Wut, all dem Hass gegenüber dem Tod, der Welt und sich selbst. Mit all der Trauer und der Sprachlosigkeit, mit der Lilous Tod ihn zurückgelassen hatte.
Der Schrei hallte von den Bäumen wieder und schreckte die Tiere in der Nähe auf. Nur der Rabe ließ sich nicht stören.
Erst als Friedrich sich bückte und einen Stein vom Boden aufhob, den er mit voller Wucht nach ihm warf, flog er mit lautem Kreischen davon.
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Es wurde schon dunkel, als Friedrich zurück auf den Kirchhof einbog. Die ersten Sterne erstreckten sich über dem sich langsam schwärzenden Nachthimmel. Lichtjahre entfernt, und doch so hell. Früher war Friedrich davon überzeugt gewesen, dass jeder Stern für eine verstorbene Seele stand. Bis sein Vater ihm gesagt hatte, er solle nicht immer so einen heidnischen Unsinn reden.
Der Gedanke wäre beinahe tröstlich, doch mittlerweile wusste Friedrich es besser. Denn aus Staub bist du geboren und zu Staub kehrst du wieder zurück.
Die Temperatur war gesunken und er war froh um den Mantel, den er mitgenommen hatte und nun ein wenig enger zog. Auch, wenn ihm nicht kalt war. Im Gegenteil, sein gesamter Körper fühlte sich so taub an, dass er seinen Daumen hätte abschneiden können, und es nicht einmal merken würde.
Friedrichs Gewissen meldete sich, während er ohne Eile den Hof überquerte. Er sollte zu Frau Korn. Es war nicht richtig gewesen, darauf zu vertrauen, dass die Schwestern ihr Bericht erstatten würden. Schließlich konnte er nicht wissen, ob sie es tatsächlich getan hatten.
Noch völlig in seinen Gedanken versunken, bemerkte Friedrich ihn auf einmal. Den hochgewachsenen, jungen Mann, der mit wehendem Mantel ein paar Meter hinter ihm ging. Resigniert schloss er die Augen. War der Tag nicht schon hart genug gewesen?
Es dauerte keine Minute, bis Doktor Gerber ihn ohne schneller zu werden aufgeholt hatte und sie nun nebeneinander gingen. Friedrich bereitete sich schon auf eine unpassende Bemerkung vor. Irgendetwas darüber, dass er Gerber schon wieder über den Weg lief, obwohl der es theoretisch gesehen war, der ständig überall dort auftauchte, wo Friedrich sich gerade befand. Umso mehr überraschte es ihn, als der Arzt schwieg.
Verwundert schielte er zu ihm rüber. Die Hälfte seines Gesichts lag im Dunkeln, während die grauen Augen im silbernen Licht des Mondes blitzten. Ohne jeglichen Ausdruck.
In Situationen wie diesen wünschte Friedrich sich, Gedanken lesen zu können. Was hätte er darum gegeben, zu wissen, was im Kopf mancher Menschen vorging.
,,Es wird nicht besser", durchbrach Doktor Gerber die Stille.
Friedrich zog überrascht die Augenbrauen hoch. ,,Was wird nicht besser?"
,,Der Schmerz. Dass die Zeit alle Wunden heilt, ist eine Lüge. In zwei Jahren denkst du an sie zurück und es fühlt sich genauso scheiße an wie jetzt."
,,Danke, das habe ich jetzt gebraucht", schnaubte Friedrich und bemühte sich, schneller zu gehen. Was hatte er auch anderes von ihm erwartet? Zum Glück hatte er schnell ein wenig Abstand zwischen sich und den Arzt gebracht.
,,Aber es rückt in den Hintergrund."
Überrascht hielt Friedrich inne.
,,Im ersten Moment ist alles schwarz-weiß. Ohne das weiß. Mehr graue Nuancen." Doktor Gerber war nun ebenfalls stehen geblieben und musterte ihn mit einem Blick, der sich nicht wirklich deuten ließ. ,,Doch irgendwann überwiegen die schönen Momente in deinen Erinnerungen. Das ist der Ausgleich zum Schmerz. Und wahrscheinlich der Grund für dieses 'Zeit heilt alle Wunden' Ding."
Friedrich schluckte. Wenn es wirklich nur das wäre. Wenn die Trauer an Lilous Tod das einzige wäre, das ihn in diesem Moment eingenommen hatte, würde er ihm vielleicht Glauben. Es klang wirklich verlockend.
,,Ich hätte es verhindern können", sprach Friedrich seine Gedanken aus, bevor er darüber nachdenken konnte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, weiterzureden und Gerber nur noch mehr Angriffspunkte zu geben. Doch nach zwei Stunden unter Anspannung, mit Vorwürfen in seinem Kopf, die sich wiederholten wie ein Mantra, war der innere Widerstand schwach.
,,Ich hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Aber die Warnung, die wir bekommen haben, habe ich erst verstanden, als es zu spät war." Er schüttelte den Kopf, als könne er damit die Bilder von jenem Vormittag vertreiben, die sich hartnäckig festsetzten. ,,Wenn ich nur die andere Richtung genommen hätte. Oder zwei Minuten später losgegangen wäre." Oder mehr auf sie geachtet hätte. ,,Ich kannte Lilou nicht gut, sie ist... war ein Kind, auf das meine Freundin hin und wieder aufpasst. Trotzdem... Es war viel zu früh."
Beinahe erwartete Friedrich, dass Gerber irgendetwas Unpassendes sagen würde. Warum erzählte er ihm das alles überhaupt? Weil niemand besseres in der Nähe war? Wahrscheinlich. Doch Doktor Gerber sagte nichts. Er hörte zu.
,,Es ist so einfach zu sagen, dass alles, was geschieht, Gottes Wille ist." Friedrich hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Wenn er zu lange fort blieb, würde Vater Fragen stellen. Fragen, die er gerade heute nicht gebrauchen konnte.
Doktor Gerber folgte, nun wieder neben ihm. Seine Miene wirkte nachdenklich, während Friedrich weiterredete.
,,Aber wenn man diesen Willen selbst erlebt... ist es manchmal schwer, an die guten Absichten zu glauben." Er lächelte schief, um die Situation zu überspielen, aber es gelang ihm nicht. ,,Und jetzt ist sie tot und es fühlt sich irgendwie nicht real an. War das so wirklich Gottes Plan? Wollte er, dass das passiert?" Für einen Moment schwieg er. ,,Ich bin wahrscheinlich einfach etwas neben der Spur. Nur weil man den Herrn nicht immer versteht, heißt es nicht, dass man gleich alles hinterfragen sollte."
Es war Friedrichs Zeichen, aufzuhören, Gerber sein Herz auszuschütten. In emotionalen Situationen seine Glaubensgrundsätze zu hinterfragen, war eine Schwäche, die er eigentlich längst hinter sich gelassen hatte. Schlimm genug, dass diese Gedanken nun wieder aufkamen - er musste sie nicht auch noch aussprechen.
,,Ich weiß, was du meinst", erwiderte Gerber zu seiner Überraschung.
Friedrich sah ihn an. ,,Weißt du das? Weißt du das wirklich?" Seine Stimme klang bitter.
Der laue Sommerwind, der die Ähren und Gräser zuvor noch sanft hin und her gewogen hatte, war stärker geworden. Vorbeiziehende Wolken verdeckten den Sichelmond in kürzer werdenden Intervallen. Irgendwo rief ein Uhu.
Friedrich dachte darüber nach, was Anna sagen würde. Wann es ihr jemand mitteilte. War sie diejenige gewesen, die Frau Korn zurückbestellt hatte, weil es ihrer Tochter nicht gut ging? Womöglich. Oder sie war früher Heim gekommen. Die weite Kluft, die sich seit dem Heiratsversprechen zwischen Anna und ihm aufgetan hatte beiseite - er würde versuchen, für sie da zu sein. Wenn sie das wollte. Irgendwer musste es ja.
Und irgendwer musste Frau Korn die Nachricht vom Tod ihrer Jüngsten überbringen. Mit einem Mal fror er schrecklich, obwohl es noch immer um die fünfzehn Grad war.
,,Mein Bruder wurde einbezogen, als er achtzehn war." Doktor Gerbers Stimme war fest, wenn auch kaum merklich leiser. ,,Ich war fünfzehn, sechzehn vielleicht. Und verdammt stolz. Immerhin war es fürs Vaterland. Sicher, der Franzose gab die Anweisungen, aber es ist schließlich auch in Bayerns Interesse, dass sich das Gebiet ausdehnt, nicht wahr?"
Friedrich wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Doch das war auch nicht nötig, denn Gerber fuhr direkt fort.
,,Er war selten Zuhause, aber die Arbeit brachte Geld. Mehr als seine Tischlerlehre. Manchmal konnte ich hören, worüber er mit seinem Freund sprach, der ebenfalls in der Armee war. Die schillernde Fassade bröckelte schnell." Sein Blick verdüsterte sich, als wären die Gespräche noch immer in seinen Ohren. ,,Napoleon war nicht der geniale Strateg, für den wir ihn hielten. Und ich schaute weg. Was hätte ich auch tun sollen? Ich wusste um die hohe Mortalitätsrate. Ich wusste, dass die Einsätze gefährlich waren. Und ich wusste, dass Napoleon und seine Generäle willkürlich handeln."
Er hielt inne. Der Uhu hatte aufgehört zu rufen, die letzten Stimmen aus der Stadt waren verstummt. Einzig der stärker werdende Wind pfiff.
,,Irgendwann kam er nicht mehr nach Hause. Nach Monaten bekamen wir einen Brief; Bence sei im Krieg verschollen. Wenn Matthias uns nicht erzählt hätte, was wirklich passiert ist, würde Mutter wohl immer noch darauf warten, dass er zurückkehrt." Doktor Gerber schnaubte verächtlich.
,,Erschossen haben die feigen Hunde ihn. Es gab den Verdacht auf eine Verschwörung gegen den Kaiser. Und ich habe mir Vorwürfe gemacht. Ich hätte ja der Sohn der Familie sein können, der vorschriftsmäßig in die Armee eintritt. Ich hätte ja an seinem Verhalten merken können, dass es Konflikte gab. Ich hätte, ich könnte."
Doktor Gerber blieb stehen und packte Friedrich bei der Schulter. ,,Ich war es nicht, der Bence die Kugel gegeben hat und du hast diese Bombe nicht gezündet. Verstehst du? Es war ein Anhänger Napoleons, der abgedrückt hat, und es war ein Anhänger Napoleons, der die Explosion verursacht hat."
Friedrich schwieg. Es war falsch, so zu denken. Napoleons Herrschaft war gottgegeben, seinem Urteil war Folge zu leisten. Er hätte kaum halb Europa unter Kontrolle bringen können, wenn etwas dem Herrn missfiele. Und konnte Friedrich sich überhaupt sicher sein, dass Gerber die Wahrheit sagte? War es am Ende nur eine Lüge, die man einem Jungen erzählt hatte, der um seinen Bruder trauerte?
,,Deswegen hasst du Napoleon?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
,,Was würdest du an meiner Stelle tun?"
Darauf wusste Friedrich keine Antwort, obgleich er ahnte, was Doktor Gerber hören wollte. Aber das konnte nicht sein. Hass konnte nicht der einzige Weg sein, damit umzugehen. Es gab Gerechtigkeit. Nur war diese anders als die weltliche Gerechtigkeit.
Ein unschuldiges Kind stirbt, flüsterte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. Wo ist da die Gerechtigkeit?
Doktor Gerber schien sein Schweigen als Antwort zu verstehen, denn er löste seinen geradezu stechenden Blick und sah stattdessen hoch zum Mond, der langsam aber sicher hinter den Wolken zum Vorschein kam.
,,Du erinnerst mich an ihn", sagte er. Nicht spöttisch oder abfällig, doch Friedrich konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie es stattdessen gemeint war. ,,Für ihn war Hass auch nie ein Weg. Er wollte immer nur Frieden. Wahrscheinlich war es das, was ihm am Ende zum Verhängnis wurde."
,,Was hättest du getan?" Die Frage hatte Friedrich schon seit der Schmiedestraße auf der Zunge gelegen. ,,Wenn Frieden für dich so lächerlich klingt - Was wäre deine Lösung für das Problem?"
,,Nun", erwiderte er langsam. ,,So viel Unglück die Franzosen über unsere Länder gebracht haben, können wir eins von ihnen lernen. Sie wissen, wie man Revolutionen startet."
,,Du willst einen Aufstand anzetteln?" Friedrich war sich nicht sicher, ob Doktor Gerber es ernst meinte. Es klang zumindest nicht nach einem Scherz.
Gerber wog den Kopf hin und her. ,,Das überlasse ich den Bürgern. Man kann ein Regime nur stürzen, wenn man die Bevölkerung hinter sich hat."
Er hatte Recht gehabt. Dieser Mann war verrückt geworden. Friedrich wurde heiß und kalt zugleich. ,,Damit wirst du nicht durchkommen", murmelte er. ,,Du wirst erschossen werden."
Doktor Gerber lachte trocken. ,,Wenn ich weiter jedem dahergelaufenen Pfarrerssohn davon erzähle, wahrscheinlich, ja." Er wurde wieder ernst. ,,Wir sind nicht die einzigen, die von den Franzosen verraten wurden, Staps. Und sie haben keine Gnade. Weißt du, normalerweise sind es nicht die Rebellen, die Marktplätze überfallen."
Beim letzten Satz zog sich Friedrichs Magen zusammen und Bilder von Lilous leblosem Körper tauchten vor seinem inneren Auge auf.
,,Ich muss hier abbiegen. Man sieht sich." Doktor Gerber nickte ihm zu.
Friedrich musste an seine Brüder denken, die Zuhause warteten. Natürlich gingen sie ihm manchmal auf den Geist. Karl mit seiner unangepassten Art. Der seine Pflichten lieber mühsam auf ihn abwälzte, anstatt sie selbst zu erledigen. Georg, der seine Nase in alle Angelegenheiten, die er meist selbst noch nicht verstand, stecken musste und durch sein junges Alter tun und lassen konnte, was er wollte.
Dennoch konnte Friedrich sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn einer von ihnen plötzlich nicht mehr da wäre. Unschuldig erschossen von jemandem, dem sie vertrauen sollten. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob er immer noch auf Frieden plädieren würde.
,,Ich bleib dabei, dass du früher oder später erschossen wirst." Beinahe fühlte er so etwas wie Reue bei diesen Worten. Friedrich atmete tief durch. ,,Aber ich werde dich nicht verraten."
Gerber drehte sich ein letztes Mal zu ihm um. Der Anflug eines Lächelns lag auf seinen Lippen.
,,Ich weiß."
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