Kapitel Neun - Die Gänse
Königreich Sachsen, Naumburg
20. August Anno Domini 1809
Die nächsten Tage vergingen ohne weitere Vorfälle. Friedrich gab sich alle Mühe, Doktor Gerber und das Lazarett zu meiden, so lange er noch nichts Genaueres in Erfahrung gebracht hatte. Vielleicht reagierte er auch einfach über. Vielleicht war der junge Arzt wirklich nicht mehr als ein unangenehmer Zeitgenosse mit seltsamen Ansichten, keine ernsthafte Gefahr.
Je mehr Abstand Friedrich zu den Ereignissen in der Schmiedestraße bekam, desto wahrscheinlicher schien ihm diese Option. Es kam ihm sogar beinahe lächerlich vor, wie verstört er allein von dem Gedanken gewesen war. Als ob das jetzt eine gute Zeit war, um damit anzufangen, Ärzten zu misstrauen.
Die Sonne stand bereits tief über den Feldern. Sanft wog der Wind die Roggenpflanzen hin und her, während sie im letzten Tageslicht glänzten wie pures Gold. In den Bäumen sangen Vögel so heiter, als gäbe es keinerlei Sorge auf der Welt.
Von Vaters Schreibtisch aus, den er während dessen Abwesenheit in Beschlag genommen hatte, hatte Friedrich einen guten Blick auf die Landschaft hinter dem Haus. Wo es nicht mehr als Felder und Weiden und weiter, viel weiter hinten, einen weiteren Hof gab. Danach kam erst einmal eine lange Zeit nichts, bis irgendwann Naumburgs Innenstadt folgte. Doch von hier ließen sich weder die Stadtmauern, noch der Kirchturm oder die ersten Häuser erkennen. Durch das Schreibstubenfenster sah man nur Feld.
Das Feld und eine Gestalt, die sich langsam über den unbefestigten Weg zwischen Weide und Roggen näherte. Verwundert stellte er seine Feder ab und beugte sich über den Schreibtisch, nahe zur Scheibe, um besser sehen zu können. Tatsächlich, eine junge Frau schien aus Naumburg zu kommen.
Er beugte sich weiter vor, bis die Scheibe von seinem Atem beschlug. Friedrich zog die Brauen zusammen, als sie nicht wie erwartet weiterging, sondern nach links abbog. ,,Um diese Uhrzeit?", murmelte er und warf einen Blick auf die Wanduhr, die viertel vor fünf anzeigte.
Keine zwei Minuten später klopfte es und Friedrich öffnete die Haustür.
,,Guten Abend, Frau Korn", begrüßte er Lilous Mutter, nicht ohne Verwunderung. Hatte Anna nicht gesagt, dass sie noch übers Wochenende auf ihre Kinder aufpasste? Es war erst Samstag. Irgendetwas stimmte nicht.
,,Ist der Herr Pfarrer da? Ich..." Ihre Stimme brach ab. Frau Korns Augen waren gerötet und tiefe Sorgenfalten durchfurchten ihre blasse Haut. Auf dem Arm trug sie die schlafende Lilou, zugedeckt mit einem Schal.
,,Gerade nicht. Wollen Sie reinkommen? Ist etwas passiert?" Sie sah aus, als stände sie kurz vor einem Zusammenbruch. Nicht nur emotional. Es war Friedrich ein Rätsel, wie die zierliche Frau es geschafft hatte, ihre Tochter den ganzen Weg aus Naumburg bis hier her zu tragen.
,,Nein", erwiderte sie dennoch bestimmt. ,,Ich kann nicht. Meine Lilou..." Man konnte ihr ansehen, dass es sie all ihre Selbstbeherrschung kostete, nicht in Tränen auszubrechen. ,,Ihr geht es so schlecht. Wir waren heute Nachmittag beim Arzt, aber der konnte nichts tun."
Eine böse Vorahnung traf ihn wie ein Donnerschlag und Friedrich konnte förmlich spüren, wie er blass wurde. Die Explosion. Zuerst war er nicht davon ausgegangen, dass sie schlimm verletzt worden war, immerhin schien sie danach noch so munter.
,,Und warum sind Sie dann hier und nicht im-" Er stockte. Wofür holte man in solchen Fällen einen Pfarrer? ,,Ist sie..." Friedrich brachte es nicht übers Herz, seine schlimmste Befürchtung auszusprechen.
Zu seiner Erleichterung schüttelte Frau Korn energisch den Kopf. ,,Nein, auf keinen Fall! Ich halte sie schon seit Stunden in meinen Armen, ich spüre ihren Puls." Wie zur Bestätigung drückte sie Lilous dürren Körper enger an ihre Brust. Nun lief ihr doch eine Träne die Wange hinunter. ,,Nein, der Grund, weshalb ich hier bin, ist ein anderer. Der Herr Pfarrer hat doch dieses Krankenhaus in der Kirche."
Frau Korn schluckte. ,,Ich würde wirklich nicht leichtfertig darum fragen, ich weiß doch, wie wichtig diese jungen Männer dort für Sachsen sind. Und ich will wirklich niemandem zur Last fallen. Aber meine Tochter..." Sie schluchzte auf und ihre Arme zitterten. Wahrscheinlich hatte sie nicht übertrieben, als sie behauptet hatte, das Kind schon seit Stunden zu halten.
,,Bitte", flüsterte sie.
Friedrich dachte an Herrn Krüger. Wenn er sich im Lazarett behandeln lassen konnte, würde man eine Fünfjährige wohl kaum abweisen. Den Umgang Gerbers mit dem ungewollten Patienten hatte er jedoch auch nicht vergessen. Was einen ruppigen Handwerker herzlichst wenig störte, würde bei Frau Korn wahrscheinlich in ihrem Zustand einen Zusammenbruch auslösen.
Oder sie dazu bringen, das Lazarett wieder zu verlassen. Ohne vernünftige Behandlung. Wer auch immer sich um Lilous Fall kümmern würde - es durfte nicht Doktor Gerber sein.
Friedrich nickte schließlich. ,,Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich Sie begleiten", sagte er, den Türgriff bereits in der Hand. ,,Bevor auf dem Weg noch etwas passiert." Oder sie unter der Anstrengung einknickt, fügte er in Gedanken hinzu, während sie den restlichen Feldweg zum Kirchhof entlanggingen.
Keine hundert Meter weiter musste Friedrich zugeben, dass er Frau Korn unterschätzt hatte. Mit neu geschöpfter Hoffnung steigerte sie das Tempo, bis sie beinahe an den hohen Gräsern und Eichen entlang rannte. Lilou auf ihrem Arm fing an, sich zu regen und die Augen aufzuschlagen, wenn auch nur ein bisschen. Sie sah wirklich ungesund aus. Ein dünner Schweißfilm lag auf ihrer Stirn, als ob sie fieberte.
,,Übel", murmelte sie leise. ,,Mir ist so übel."
,,Alles wird gut, meine Kleine", versuchte ihre Mutter, sie zu beruhigen. Dass sie dabei selbst weinte, schien sie nicht mehr zu stören. ,,Gleich kann dir jemand helfen."
Bitte, Gott, schickte Friedrich in Gedanken ein Stoßgebet gen Himmel. Lass sie recht behalten. Bitte lass uns jemanden finden, der ihr helfen kann.
Über ihnen brauten sich vereinzelt dunkle Wolken zusammen. Von dem friedlichen Sonnenuntergang war außer vereinzelter Strahlen und ihren langen Schatten nichts mehr zu sehen. Als sie endlich vor der Martinskirche standen, hätte Friedrich schwören können, einen ersten Regentropfen abbekommen zu haben.
Lilous Gesicht war mittlerweile so weiß wie das Kopftuch einer Ordensschwester, die ihnen entgegenkam. Es war dieselbe, die Friedrich bei seiner Rückkehr aus Leipzig vor der Kirche gesehen hatte - helle Haut, noch hellere Brauen. Und ein überraschter Blick, der Frau Korn musterte.
,,Gerda, ist alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?"
Es war das erneute Schildern der Situation, die wiederholten Beteuerungen, dass sie um das Leid der Soldaten sicherlich Bescheid wusste, das Frau Korn den Rest gab. Friedrich versprach ihr, gut auf ihre Tochter aufzupassen, als sie sie ihm übergab, um sie zu einem Arzt zu bringen. Inzwischen begleitete die Nonne sie nach draußen, damit sie sich beruhigen konnte. Es war ein gutes Zeichen, fand Friedrich, dass die beiden sich kannten. Für eine war so schon mal gesorgt.
Die Stirn in Falten und die fiebrige Lilou auf dem Arm sah er sich um. Der gewohnt-ungewohnte Anblick der Feldbetten, zusammen mit dem schweren Eisengeruch drehte Friedrich immer noch den Magen um. Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, wie Hans das als Soldat ausgehalten hatte. Wahrscheinlich war der einfach widerstandsfähiger gewesen.
Schnell verscheuchte Friedrich die lebhaften Bilder seines sterbenden Mitschülers aus seinen Gedanken. Jetzt galt es zuerst einmal, die Lebenden zu retten. Und einen vernünftigen Arzt zu finden.
,,Du musst mich ja wirklich mögen. Das dritte Mal in einer Woche, hast du eigentlich nichts besseres zutun?" Doktor Gerber fischte in seiner Kitteltasche nach der schmalen Brille, während er Lilou auf einem freien Feldbett am Ende des Raumes inspizierte.
,,Ich könnte mir auch Angenehmeres vorstellen, das können Sie mir glauben", zischte Friedrich. ,,Wenn es nicht um Lilou gehen würde, hätte ich einen großen Bogen um diese Kirche gemacht."
,,Das klingt nach einer guten Taktik, Staps. Ich empfehle, die dringend weiter zu verfolgen."
Er verdrehte die Augen. ,,Je schneller das hier geht, desto schneller sind wir wieder weg."
Friedrich hatte seine Hände zu Fäusten geballt und in den Taschen seines Mantels vergraben. Um das Zittern zu unterdrücken, dass ihn zu seinem eigenen Ärger jedes Mal dann überkam, wenn er angespannt war. Lilou war mittlerweile wieder wach, konnte aber trotzdem nicht aufrecht sitzen, während ein Hustenanfall sie durchrüttelte.
,,Sieht nach einer Schädelfraktur aus", murmelte Doktor Gerber nachdem er sie kurz untersucht hatte und nahm die Brille wieder ab. ,,Prellung am linken Arm, Beschädigung des Trommelfells."
,,Ist das schlimm?", krächzte Lilou leise. Ihre Stimme war zwischen all den Geräuschen um sie herum kaum zu verstehen.
,,Wundert mich, dass du überhaupt noch geradeaus gehen kannst."
Friedrich zog die Augenbrauen hoch. Hatte dieser Mensch je ein Kind behandelt?
,,Mein Kopf tut weh", jammerte Lilou und würgte. ,,Mir ist so schlecht." Dann rollte sie mit den Augen und kippte nach hinten.
,,Scheiße!" Doktor Gerber fühlte nach ihrem Puls und drehte sich zu Friedrich um. Jegliche Häme war aus seinem Blick verschwunden. ,,Wie nah war sie an der Explosion?"
,,Ich weiß nicht, es ging alles so schnell-"
,,Eine Operation jetzt und hier ist riskant, aber das einzige, was ich tun kann", erwiderte er mit einer Ruhe, die Friedrich nur noch nervöser machte. Gleichzeitig gab es ihm aus irgendeinem Grund das Gefühl, dass er Recht hatte.
Während der Arzt mit den medizinischen Maßnahmen begann, versuchte Friedrich, nicht allzu genau hinzusehen. So sehr er den Gedanken hasste, er musste ihm dabei vertrauen.
Es waren keine zehn Minuten vergangen, als Lilou wieder zu sich kam.
,,Na super." Gerber verdrehte die Augen, machte aber keinerlei Anstalten, die Operation zu unterbrechen. Obwohl ihre Pupillen verängstigt zuckten.
,,Zu viel Blut", murmelte er dabei, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
,,Blut?", fragte Lilou sofort. Ihre Stimme klang wie dünnes Glas unter hoher Anspannung, das drohte, jeden Moment zu zerbrechen. ,,Ich mag kein Blut, wo ist Blut?" Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie genug Kraft haben würde, um zu versuchen, wegzukommen.
,,Überall. Du verlierst zu viel Blut", erklärte Gerber, noch immer hochkonzentriert. Friedrich wagte es nicht, genauer hinzugucken. Aus dem Augenwinkel konnte er jedoch sehen, dass er irgendetwas am Kopf machte. ,,Das sieht nicht gut aus."
Das reichte. ,,Sag mal, willst du ihr eigentlich Angst machen?" Friedrichs Fingernägel gruben sich mittlerweile tief in die Haut seiner Fäuste.
,,Ich kann den Patienten nicht anlügen", erwiderte Joschka. ,,Steht das nicht auch irgendwo in den zehn Geboten?"
So viele Bibelkenntnisse hätte Friedrich ihm nicht zugetraut, hielt aber lieber den Mund. Dafür war später noch Zeit, jetzt musste sich Gerber auf die Operation konzentrieren.
Bitte, Vater, lass alles gut werden. Bitte lass sie überleben.
Friedrich trat neben Lilou, die begonnen hatte, wild mit der Hand zu fuchteln. Als wäre dort ein Ungeheuer, das sie vertreiben wollte.
,,He, ganz ruhig", sagte er leise. ,,Alles wird wieder gut." Sie hörte seine Stimme, schien sie jedoch nicht zuordnen zu können.
,,Vater?", fragte Lilou unsicher.
,,Nicht dein Vater. Friedrich."
Sie schniefte. ,,Ich will nach Hause!"
Vorsichtig nahm er ihre zuckende Hand und strich darüber. Doktor Gerbers genervter Gesichtsausdruck, der wahrscheinlich gegen Lilous Gezappel gerichtet war, war ihm nicht entgangen.
,,Wir gehen nachher wieder nach Hause. Jetzt macht Doktor Gerber erst einmal deine Kopfschmerzen weg, dann geht es dir auch besser."
Lilou blinzelte. Ihre Augen waren nur noch halb geöffnet. ,,Versprochen?"
Friedrich sah zu Doktor Gerber. Der schüttelte nur den Kopf.
,,Versprochen."
Sie nickte mit glasigem Blick und ihm wurde nun selbst schlecht. Ausnahmsweise nicht wegen dem penetranten Blutgeruch, der alles andere in der ehemaligen Kirche überschattete, sondern wegen der Angst, die ihre eisernen Klauen in sein Fleisch grub wie ein Raubtier in seine Beute. Angst um Lilou, Angst, dass sie es nicht schaffte. Und Angst vor der Wahrheit.
Die Wahrheit, dass es, sollte sie es nicht schaffen, seine Schuld sein würde. Er hatte auf sie aufpassen sollen und dabei in ganzer Linie versagt. Wenn er nur in der Stadt besser darauf geachtet hätte, dass sie bei ihm blieb. Wenn er nur rechtzeitig gegangen wäre, als der Bäcker ihn gewarnt hatte.
Halt. Das war nicht der richtige Moment für Schuldzuweisungen. Lilou würde es schaffen. Natürlich würde sie das.
,,Gehen wir nachher zu den Gänsen?", murmelte sie in halbkomatösem Zustand.
Friedrich rang sich ein Lächeln ab. ,,Mal sehen. Du willst doch wieder fit sein, wenn du die Gänse siehst, oder?"
,,Ja..." Sie schien abzuwägen. Ihre Lider flimmerten. ,,Aber ich bin richtig echt fit. Sind die da morgen immer noch?"
,,Und übermorgen, und über-übermorgen." Das regelmäßige Streichen über ihre Hand schien zu helfen. Lilou atmete wieder ruhiger und zuckte auch nicht mehr so viel. ,,Und wenn du noch ein bisschen wartest, haben die Gänse auch ganz viele kleine Gänseküken."
,,Kleine Baby-Gänse?" Sie lächelte matt. ,,Kann man die streicheln?"
,,Kommt drauf an. Wenn du ganz leise bist und nicht zu stürmisch, dann kommen sie vielleicht zu dir. Die kleinen Gänse sind sehr flauschig. Wie Hühnerküken."
,,Uii." Ihre Augen leuchteten, wenn auch nur leicht. ,,Ich will morgen Gänseküken sehen!" Ihre Stimme zittert beim Sprechen, fast im Takt zu seinem Herzen, dass ihm bis zum Hals schlug. Im Hintergrund hörte er Doktor Gerber leise fluchen. Zumindest klang es so; Friedrichs Aufmerksamkeit lag darauf, Lilou bei Bewusstsein zu halten. Zu groß war seine Angst, sie könnte sonst nie wieder aufwachen.
,,Ich hab mal Küken gesehen", flüsterte sie gerade. ,,In einem Bilderbuch, von Vati. Das hat er mir mitgebracht, aber es war so komisch. Man konnte die... die Wörter gar nicht lesen."
,,Sie dämmert weg", warnte er Doktor Gerber. ,,Muss das so?" Er schüttelte den Kopf.
,,Lilou?"
Sie blinzelte und gab einen undeutlichen Mix an Worten von sich, die er nicht zuordnen kann.
,,Warum waren die Wörter nicht zu erkennen?" Sie musste wach bleiben.
,,Die... das war so Schreib...schrift."
,,Ihr Zustand verschlechtert sich", informierte Gerber. Als ob ihm das noch nicht selber aufgefallen wäre.
,,Und wie sahen die Küken aus?" Beinahe fasziniert beobachtete Friedrich, wie seine Hand zitterte. Und mit ihr Lilous, die es nicht einmal zu spüren schien.
,,Das... ich glaub, das waren so... so kleine, braune Tiere." Sie lächelte wieder. ,,Mama sagt, in dem Buch steht, dass die Küken im Frühling schlüpfen. Und sie spielen den ganzen Sommer lang draußen. Ich glaube, dass sich kleine Elfen um die Entchen kümmern, wenn es dunkel wird. Die können nämlich mit denen reden. Und im Sommer, wenn die Baby Enten schwimmen können, schwimmen alle zusammen im Teich. Ich will auch... Ich will auch mal mit Elfen und Enten schwim..."
Den Rest des Wortes verschluckte sie und schloss die Augen. Ihre Hand, die sich zuvor um seinen Finger geklammert hatte, erschlaffte.
,,Lilou?", fragte er. ,,Lilou? Hallo?" Mit einem Mal kratzte Friedrichs Hals und sein Herz schlug immer schneller. Hilfesuchend sah er zu Doktor Gerber, der erst zwei Finger an ihre Pulsader legte, mit einem Stethoskop ihren Herzschlag prüfte, und dann auf einmal stoppte.
,,Was ist?" Jetzt war es Friedrichs Stimme, die zitterte. Er wusste, was passiert war. Er wusste es ganz genau, weigerte sich aber, es wahrzuhaben. ,,Warum tun Sie nichts?"
,,Es hat keinen Sinn mehr." Er nahm das Stethoskop ab und hängte es sich wieder um. ,,Der Schädel war irreparabel beschädigt. Zwar habe ich hier nicht dieselben Möglichkeiten wie im Krankenhaus, aber ich tippe mal auf eine Nachfolge der Bombe."
Langsam schüttelte Friedrich den Kopf in Unglaube. ,,Das kann nicht sein. Lilou ist nicht... Ich hab so gut wie keine Schäden davon gehabt. Warum sie? Das ergibt keinen Sinn!"
Doktor Gerber zuckte mit den Schultern. ,,Du hattest viel Glück. Und warst wohl nicht so nah dran. Wie dem auch sei."
Um ihn herum schien sich alles zu drehen. Die Wände jagten um die eigene Achse, immer und immer im Kreis herum. Er musste hier raus, sonst würden sie näher kommen, einstürzen, ihn unter sich begraben. Doch Lilous kleine Hand lag immer noch in seiner, schlaff und leblos. Der Gedanke, sie hier zwischen all den Soldaten zurückzulassen, mit dem ganzen Blut, das sie nicht mochte und ohne die Gänse, die sie sehen wollte, tat ihm körperlich weh.
,,Wenn ich du wäre, würde ich mir gleich die Hände waschen", durchbrach Doktor Gerber die Mauer, die sich langsam aus Friedrichs Bewusstsein formte. ,,Wahrscheinlich werden die Schwestern dir etwas anderes erzählen, aber die Hand alle paar Stunden einmal mit Weihwasser anzufeuchten, schützt leider nicht vor den Keimen hier."
Er nahm den Arzt kaum wahr. In Friedrichs Gedanken schwirrte es, alles prasselte gleichzeitig auf ihn ein. Vor ein paar Tagen hatte Lilou noch so glücklich ausgesehen. Als könne nichts jemals die kindliche Freude über ein paar Gänse zerrütten, die sie vielleicht auf dem Markt treffen könnte.
Und was hatte ihr der Markt gebracht? Friedrich wagte es nicht, einen zweiten Blick auf die Leiche des kleinen Mädchens zu werfen. Er hätte nie zusagen dürfen. Er hätte niemals annehmen sollen, dass er in der Lage wäre, auf ein Kind aufzupassen. Was, wenn er einfach abgelehnt hätte?
Die Frage war überflüssig, er kannte die Antwort. Sie wäre noch am Leben. Vielleicht hätten sie und Esther einmal kein Mittagessen gehabt, da die Zutaten fehlten, doch was machte das schon?
Doktor Gerber war fort. Zu anderen Patienten, bei denen es noch Hoffnung gab. Wahrscheinlich sah er Fälle wie Lilou jeden Tag zuhauf, sodass es ihn nicht aus der Bahn warf.
Schweren Herzens ließ Friedrich Lilous Hand los. Die Nonnen würden sich nun um sie kümmern. Seine Aufgabe war getan. Er schluckte. Sein Hals kratzte fürchterlich. Es war wohl das beste, wenn eine der Schwestern Frau Korn informierte. So feige er sich dabei vorkam, ihr die Nachricht nicht persönlich zu überbringen, so überzeugt war er, dass sie es lieber von einer Vertrauten hören wollte, als von einem der Verantwortlichen für den frühen Tod ihrer Tochter.
Langsam drehte er sich um und ging den Seitengang entlang hinaus zur Tür. Auf dem Weg kam ihm Hildegard mit einer weiteren Nonne entgegen, die offensichtlich über den Tod informiert worden waren. Hildegard sagte etwas zu ihm, doch Friedrich konnte sie nicht hören. Noch immer drehte sich alles. Es war, als verlasse nur sein Körper die Kirche, während sein Bewusstsein zurück an Lilous Bett blieb. Aber irgendwer musste ja dort bleiben. Sie war doch so ungern allein.
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