Kapitel Acht - Der Römerbrief

,,Ich hoffe du hast eine gute Ausrede dafür, dich hier rumzutreiben." Herr Stapß sah seinen Sohn missbilligend an, als er das Haus betrat. ,,Wenn ich mich nicht recht irre, solltest du erst in einer Stunde hier sein."

Friedrich hätte seine Hand dafür ins Feuer legen können, dass sein Vater dasselbe gesagt hätte, hätte die Explosion in der Schmiedestraße ihm ein Bein abgerissen, doch das behielt er lieber für sich.

,,Meister Ewald hat mich zum Arzt geschickt." Wie zum Beweis hob er sein Handgelenk, das mittlerweile einen neuen Verband hatte. ,,Ist wohl verstaucht."

Sein Vater saß am Küchentisch und hatte mehrere Zettel vor sich ausgebreitet. Es schien sich um irgendwelche Verträge oder Predigten zu handeln, zumindest waren einige Stellen unterstrichen und am Rand kurze Notizen hingekritzelt worden. Genaueres konnte Friedrich aus der Entfernung nicht sehen, zumal die Schrift seines Vaters ohnehin nur schwer lesbar war.

,,Was hast du gemacht?" Sein ältester jüngerer Bruder Karl saß an der anderen Seite des Tisches, der Schiefertafel vor ihm nach zu urteilen machte er Hausaufgaben.

,,Lange Geschichte. Anna hatte alle Hände voll zutun, da hab ich ihr ein bisschen geholfen, und-"

,,Anna?" Sein Vater sah von den Notizen auf. ,,Es wäre durchaus eine erfreuliche Entwicklung, wenn ihr euch öfter seht."

Friedrich unterdrückte einen Seufzer.

,,Ich befürchtete schon, dass du dich in der Angelegenheit auch wieder quer stellen würdest."

Er wandte seinen Blick ab. ,,Nein, Vater." Er hatte es nicht hingenommen, dass sein Sohn nicht in seine Fußstapfen treten würde. Auch nach fast vier Jahren nicht. Es war das einzige bisschen Rebellion gewesen, die Friedrich in seinem Leben blieb. Egal, wie hoch der Preis dafür war.

Dafür hatte er zugestimmt, neben seiner Ausbildung nicht weniger als vorher bei den Gottesdiensten zu helfen, ganz gleich an welchem Wochentag. Friedrich hatte sämtlichen Extrapflichten trotz des Lernpensums zugestimmt. Und er hatte einem Heiratsversprechen mit der Tochter des Bürgermeisters zugestimmt, in dem weder er noch Anna etwas mitzureden gehabt hatten.

Es machte einfach Sinn. Es passte zu gut. Friedrich hatte keine Ahnung, was Annas Eltern sich davon versprachen, dafür kannte er ihre Familie zu wenig. Doch er ahnte die Gedanken seines Vaters dahinter.  Ansehen. Einfluss. Praktische Nebeneffekte der Sache, doch was für ihn wirklich zählte, war, dass es beinahe eine Garantie dafür war, dass sein Sohn nicht auf weitere aberwitzige Pläne für die Zukunft kam.

Allein der Gedanke daran machte Friedrich verrückt. Ihm war die Lust an weiteren Unterhaltungen mit einem Mal vergangen. Seinem Vater hingegen schien es anders zu gehen.

,,Und das ist dir auf der Arbeit passiert?"

,,Auf dem Weg. Quasi."

,,Interessant." Er blickte über die Ränder seiner Lesebrille wie ein Habicht aus der Ferne auf seine Beute. ,,Das scheint heute wohl ein allgemeines Ding zu sein, auf dem Weg zur Arbeit zu trödeln."

,,Warum?" Friedrich spürte, wie seine Hände zu schwitzen begannen. Dieses Gespräch schlug eine Richtung ein, die ihm nicht gefiel. Und er konnte nicht einmal genau sagen, warum.

,,Einer der Ärzte ist heute auch spät gewesen." Sein Vater schnaubte abfällig. ,,Aber wir reden hier von mindestens anderthalb Stunden."

,,Wer?", hakte Friedrich möglichst beiläufig nach. ,,Ich habe noch nie gehört, dass man Doktor Mannheim Unpünktlichkeit nachsagt."

,,Nicht er. Doktor..." Sein Vater schien der Name entfallen zu sein, denn er winkte ab. ,,Der Ungare. So ein Großer, Blonder."

,,Doktor Gerber."

,,So hieß er, stimmt. Ich kann mir weiß Gott nicht alle Namen merken, die mir momentan so unterkommen." Mit einem Mal zog er die dunklen Brauen hoch. ,,Ihr kennt euch? Habt ihr euch etwa zusammen herumgetrieben?"

,,Niemals!", verteidigte Friedrich sich sofort. ,,Nicht mit ihm. Also, generell mit niemandem, natürlich." Du sollst nicht lügen, schallte es ihm durch den Kopf und er biss sich auf die Zunge. ,,Aber besonders nicht mit ihm."

Sein Vater nickte nur, in Gedanken sichtlich wieder bei seinen Notizen. Friedrich sah es daran, dass er seine Brille mit einer unterbewussten Handbewegung wieder hochschob und leise ,,Na sowas", vor sich hin murmelte, während er den Text überflog.

Wäre das nun ein guter Moment, um seine Befürchtungen über Doktor Gerbers falsches Spiel zu äußern? Natürlich hatte Friedrich keine Beweise. Höchstens Indizien, für die er hätte zugeben müssen, vor der Arbeit noch mit Lilou beim Markt gewesen zu sein. Und obgleich Vater es ihm nie direkt verboten hatte, lag es ihm bereits im Gefühl, dass der nicht begeistert sein würde.

Ergab es also Sinn, einen Streit zu riskieren, nur um vage Anschuldigungen zu machen, die wohl kaum auf Gehör treffen würden? Zugegeben, es handelte sich um ziemlich ernste Anschuldigungen.

Die Entscheidung wurde ihm einen Augenblick später abgenommen, als die Haustür mit einer Wucht aufgerissen wurde, die die Angeln aufjaulen ließ.

,,Das ist voll mies, habt ihr's schon gehört?"

,,Hannes, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du anklopfen sollst?" Herr Staps war aufgesprungen und drohte dem rundlichen Jungen, der soeben in die Küche geplatzt war, mit dem Zeigefinger.

,,'Tschuldige, Herr Staps. Ich wollt mich mit Karl treffen, wir waren verabredet. War schon ausgemacht, ehrlich!"

Karls Freund musste gerannt sein, seine rötlichen Wangen glühten und das strohblonde Haar klebte ihm an der Stirn. Er legte nicht viel Wert auf Nebensächlichkeiten wie Anklopfen. An der Stelle seines Vaters hätte Friedrich es längst aufgegeben, ihn jedes Mal aufs Neue darauf hinzuweisen.

,,Bin gleich fertig, dann komme ich", versicherte Karl und schrieb noch mal so schnell. ,,Was haste eben gesagt?", fragte er dabei. ,,Was sollen wir gehört haben?"

,,Na, von dem Überfall. In der Schmiedestraße, direkt beim Markt! Die anderen reden heute über nichts anderes; Wilhelm hat gesagt, es hat sogar gebrannt. Und die haben Franzosen niedergemetzelt, einen nach dem anderen. Ich hab von Josef, dass die Gendarmerie davon ausgeht, dass es sich um Rebellen handelt. Das darf er eigentlich nicht erzählen, sagt sein Vater, also von mir hast du es nicht."

Karls Augen weiteten sich und Friedrich spürte, wie er ihm einen unauffälligen Seitenblick zuwarf. Hoffentlich würde er den Mund halten.

,,Gab es viele Schwerverletzte?", fragte er schnell, bevor sein Bruder etwas sagen konnte.

,,Naja, den Franzmännern geht's jetzt nicht mehr so gut." Hannes lachte kurz, verstummte jedoch unter dem strafenden Blick des Pfarrers und räusperte sich. ,,Äh, ja, aber sonst... Ich weiß nicht, darüber haben sie nicht so viel gesagt. Ein paar Menschen sind gestolpert beim Weglaufen und wurden übergerannt, von denen hab ich gehört. Hat Willhelm auch gesagt. Wir haben nur über die interessanten Sachen geredet."

,,Je weniger, desto besser", erwiderte Herr Staps. ,,Die Kapazitäten unserer Kirche sind nicht endlos und Doktor Manheim kein Wunderheiler."

Friedrich ahnte, worauf er anspielte. Erich Manheim war kein schlechter Mediziner, doch sein täglicher Alltag als Hausarzt in Goseck beinhaltete selten derartige Verletzungen wie jene, mit denen er momentan konfrontiert war.

Natürlich würde sein Vater niemanden abweisen. Nicht aus der Kirche. Dass selbst er nun begann, sich um mögliche Platzprobleme zu sorgen, zeigte Friedrich, dass es ernst war. Und dass er mit seinen Zweifeln an Doktor Gerber auf taube Ohren stoßen würde. Wie man es auch drehte und wendete - solange nicht mehr Ärzte zur Verfügung standen, war das Lazarett von seiner Mithilfe abhängig.

Frustriert biss Friedrich sich auf die Zunge.

,,Und weißt du, was der alte Justus gesagt hat?" Hannes beugte sich jetzt über den Tisch, vor zu Karl, der noch immer über seinen Aufgaben brütet.

,,Was?"

,,Er meint, er weiß nicht, wer die Franzmänner abgeschlachtet hat, aber wenn er es täte, er würd sie nicht verraten."

,,Der wollte wahrscheinlich prüfen, ob du einer von denen bist", grinste Karl. ,,Der Justus sagt viel, wenn der Tag lang ist."

Hannes schüttelte ernergisch den Kopf. ,,Ich glaub nicht, dass der nur so tut. Der fand das richtig, was die gemacht haben."

,,Ist halt ein komischer Kauz. Und jetzt halt für fünf Minuten den Rand, sonst werd ich nie fertig!" Ärgerlich fuchtelte Karl mit Hand und Kreide in Richtung Hannes, als würde er lästige Schmeißfliegen vertreiben wollen.

Friedrich jedoch horchte auf. Hatte er zu viel Vertrauen in die christlichen Werte Naumburgs gesteckt? Gab es wirklich Leute, die so dachten?

,,Hat er noch mehr darüber gesagt?", hakte er nach.

Hannes rutschte vom Tisch runter und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. ,,Nö. Nur das." Er kräuselte die Nase und kratzte sich am Kopf. ,,Darf er das überhaupt sagen?"

Friedrich nickte langsam, doch es galt nicht Hannes' Frage. Wahrscheinlich hatte Karl recht. Was Justus da von sich gab, war kaum mehr als das Gefasel eines alten Mannes, dessen Gedanken noch in der Vergangenheit hingen. Manche Menschen verloren mit der Zeit das Gefühl dafür, welche Schwere die Aussagen, die sie trafen, hatten.

,,Er täte gut daran, seine Meinungen nicht in alle Weltgeschichte zu tragen", sprach sein Vater mit ärgerlicher Miene das aus, was Friedrich dachte. 

,,So, bin fertig." Karl legte seine Kreide zur Seite und hielt demonstrativ die Tafel hoch. Sie zierten von oben links bis unten rechts binomische Formeln. ,,Kann ich jetzt mit Hannes raus?" Auf das Nicken seines Vaters hin verschwanden die beiden. Das Attentat längst wieder ausgeblendet, wie eine Nebensache, die sich gut und gerne auch auf nächste Woche verschieben ließ.

Auch der Vater stand auf. Ordentlich legte er die einzelnen Zettel zusammen, faltete sie und legte einen als Lesezeichen zwischen die Seiten der Bibel. Eine Weile beobachtete Friedrich ihn dabei. Dann gab er sich einen Ruck.

,,Bereust du es manchmal? Also, dass Napoleon hier ist?"

Er hielt inne und sah seinen Sohn direkt an. ,,Warum fragst du?" Das Misstrauen in seiner Stimme war unüberhörbar.

Friedrich hob abweisend die Hände. ,,Ich meine nicht, dass ich es tue. Aber nach dem, was Hannes erzählt hat... Manche tun es. Und Leute wie der alte Justus unterstützen so eine Gewalt auch noch." Er schluckte. ,,Hast du zufällig etwas mitbekommen? In der Seelsorge oder so, ich meine, es kann ja sein-"

,,Mach dich nicht lächerlich", donnerte sein Vater. Friedrich zuckte zusammen. ,,Wenn ich etwas wüsste, hätte ich es gemeldet. Alles andere wäre Landesverrat. Das solltest du wissen."

Friedrich wollte etwas sagen, doch sein Vater winkte energisch ab. ,,Wer auch immer die Täter sind, vernünftige Kommunikation mit ihnen wird es nicht geben können. Was auch immer ein Mensch getan hat, Friedrich, merk dir das. Es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden. Diese Morde sind eine davon."

,,Ich glaube, die Täter teilen unsere christlichen Werte nicht", murmelte Friedrich. Anders konnte er es sich nicht erklären. Das Bild des blutüberströmten Wachmanns wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.

,,Das ist nicht nur christlich, das ist menschlich", erwiderte sein Vater. ,,So etwas tun nur Wilde. Oder Heiden. Das kommt aufs Gleiche hinaus." Er legte die Bibel mit den Dokumenten auf einem Küchenschrank ab, um nun nachdenklich in der Küche auf und ab zu laufen.

,,Für uns hat sich nichts geändert. Und damit meine ich nicht dich und mich. Die Kinder arbeiten und gehen zur Schule, die Menschen leben und verdienen ihr Brot, Frauen werden Mütter und Männer Soldaten. Der alte Justus spricht denselben Schmarrn, den er vor zehn Jahren erzählt hat, und jeden Sonntag sitzen wir alle versammelt in der heiligen Messe."

Herr Staps blieb am Fenster stehen und sah nach draußen. Dort beugten sich die Gräser unter dem lauen Spätsommerwind, während Kühe gemächlich über die Weide schritten.

,,Unser Leben ist nicht besser oder schlechter als es vorher war, es geht alles seinen Lauf. Die Wächter mögen manchen sauer aufstoßen, durchaus. Aber sie sind nicht hier, um Napoleon seine neuen Leute wegzunehmen. Sie schaffen Ruhe und Ordnung auf den Straßen."

Erleichtert atmete Friedrich auf. Sein Vater hatte recht. Natürlich hatte er das. Nicht, dass er auch nur für einen Moment etwas anderes in Betracht gezogen hatte.

,,Zumal", fuhr er fort, ,,es uns auch nicht zustände, Napoleon anzuzweifeln. Erinnere dich an die Römerbriefe, 13.1."

Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.

Friedrich konnte es auswendig. Und er wusste, wie es weiterging. Napoleon war die Staatsgewalt; von Gott erwählt. Wer sich ihm widersetzte, würde das Urteil des jüngsten Gerichts spüren.

Der Vers beruhigte ihn mehr, als es die Worte seines Vaters zuvor getan hatten. Es war die Bestätigung, die er insgeheim trotz allem für sich brauchte: Doktor Gerber war und blieb im Unrecht. Egal, auf welche weltlichen Schriften er sich stützen mochte. Oder eben auch nicht.

Friedrich lächelte. ,,Danke."
Überrascht drehte sein Vater sich um. ,,Gern geschehen. Manchmal brauchen wir alle eine kleine Erinnerung an die Güte Gottes, wenn um uns herum so furchtbare Dinge passieren."

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