⏳XVIII - Levia⏳
Die junge Frau stieß sie überraschend sanft in den Rücken. Levia befolgte die wortlose Anweisung widerstandslos, noch immer überwältigt von dem Zimmer. Alte Kirchenräumlichkeiten... wo hatte es am Nordufer der Themse vor dem Krieg überall Kirchen gegeben? Überall. Viel zu viele.
An einigen kümmerlichen Resten erkannte sie die einstig wohl prachtvolle Marmorauskleidung des Gangs, der jetzt mehr ein unbeholfen von Holzbalken gestützter Erdtunnel war. Flackerndes, schwaches Licht erhellte die nackten Wände, über die sich zerfressene alte Kabeldichtungen schlängelten.
Die Stimmen wurden langsam lauter und erschienen immer hohler, je höher sie emporstiegen. Die trockene Kälte zehrte bereits an Levias antrainierter Ruhe, als die junge Frau sie ohne Vorwarnung gegen die Wand drückte und den Ellenbogen auf ihren Kehlkopf setzte.
Der plötzliche Schmerz ließ ihren Kopf dröhnen. Wut, Verwirrung, blanke Angst in ihr- auftreibend-
"Du, kleine Heilige", wisperte die Frau und drückte fast zärtlich ein wenig fester. Levia schnappte flach nach Luft, ihre Hände krampften sich in den starren Stoff der Jacke.
"Du wirst jetzt ganz genau aufpassen, was du sagst. Wenn du so klug bist, dass du an der Akademie gewesen bist, dann wirst du hoffentlich begreifen, was man von dir will. Was du wann sagst, kann dich sowohl vor dem Tod retten als auch dich in ihn stürzen." Die verwirrenden goldgelben Augen lähmten ihre Glieder, als sie leicht den Kopf schief legte. "Und du willst nicht sterben. Noch nicht. Andernfalls wird Tax dich mir überlassen. Ist das in deinem Kopf angekommen?"
Levia zwang sich dazu, sich nicht zu rühren. Sie fixierte ihrerseits unbewegt ihre Gegenüber, lang, zu lang, bis diese endlich ihren Ellenbogen vom Hals nahm und scheinbar geistesabwesend die langen, dünnen Finger dehnte. An der rechten Hand fehlte das vorderste Glied des Ringfingers.
Es jagte Levia einen Schauder über den Rücken, dass sie das erst so spät bemerkt hatte. Sie musste viel mehr auf ihre Wahrnehmung achten... vor allem hier, wo sie nicht im Geringsten über irgendeine Quelle von Vertrauen verfügte.
Die Frau wies sie an zu warten und stieg zwei Windungen einer provisorischen Treppe nach oben, bis ihre Schritte verklangen.
In Levia rumorte es. Sie hätte laufen müssen, sie wusste es... aber einen Moment lang lähmte sie ihre simple Hilflosigkeit...
Das darfst du nicht. Denk nicht so, und du stirbst.
Zögerlich trat sie einen Schritt zurück, doch noch bevor sie sich umgewandt hatte, spürte sie die Präsenz in ihrem Rücken.
"Keinen Schritt mehr, Heilige."
Etwas drückte sich gegen die Wölbung ihres Rückens. Trotz der festen Jacke konnte sie die Kälte des Gegenstandes fühlen, während sie erstarrte.
Die Stimme, die ihre Bewegungen hatte einfrieren lassen, war- sie fand kein anderes Wort dafür- böse. Bösartig. Sie schwamm auf einem unverhohlenen, tückischen Unterton und wurde von einer Mischung aus reinem Hass und Verachtung gekrönt. Levia schloss zittrig die Augen.
Männlich. Nicht besonders alt, irgendwo zwischen dreißig und fünfunddreißig vielleicht. Ton und Herkunft- Statur relativ groß, wahrscheinlich eher massig.
Wenn sie hätte raten müssen, hätte sie ihm eine Haarfarbe aus Blond und Hellbraun angedichtet, die zu wässrigen blauen Augen gehörte.
Der Druck in ihrem Rücken verschwand.
Levia überließ ihren langen Studienjahren die Führung... der DailyPass hatte ihr einen Großteil der vielfältigen Ausbildung nie abverlangt, sie war eingerostet- aber die Erfahrungen warteten noch immer in ihr. Sie sah die Simulatoren vor sich. Die Studenten, gegen die sie sich durchgesetzt hatte... Damiens Blick am Ende-
Nein.
Der Mann trat um sie herum, bedächtig, schwerfällig. Bei seinem Anblick engte sie das Alter auf fünfunddreißig bis siebenunddreißig ein. Mit einem Hauch von Befriedigung fand sie den Großteil ihrer Einschätzungen bestätigt: er war größer als sie, fast anderthalb Kopf, und sein Bizeps drückte gegen den schwarzen Stoff der Jacke, die an seinem rechten Arm aufgeschlitzt worden war. Wenn sie in seine Augen sah- tatsächlich sehr blass, aber braun und nicht blau- verfestigte sich der Eindruck, dass er den Schlitz vermutlich selbst hineingetrennt hatte. Das Haar auf seinem Kopf war so raspelkurz, dass es mehr den Anschein eines Schattens um seinem Gesicht erweckte, hatte aber genau den blondbraunen Mischton, den sie erwartet hatte. Zwischen geradezu abartig schmalen Lippen schnellte eine Zunge hervor, die vorn an der einen Seite einen kleinen Spalt aufwies.
Als seine Stimme zwischen ihnen hervordrang, wurde ihr Bild vollständig. Typus zwei. Einfach zu handhaben, leidenschaftlich, ein geeigneter Hund, der einem blind folgte, wenn man sein Vertrauen erst einmal erlangt hatte. Der Anführer dieses Mannes war wahrscheinlich der selbe, nach dem die junge Frau gerade suchte.
„Nur weil ihr auf den Mars fliegen könnt, heißt das noch lange nicht, dass ihr in den Löchern den Maulwürfen entwischen könnt, Heilige." Er zog provokant eine Augenbraue hoch. Sie wurde von dem schmalen Bogen einer Narbe geteilt.
„Nur, weil der Maulwurf mich durch sein Haus kriechen sieht, kann er mich noch lange nicht fangen." Levia beobachtete unbewegt, wie die Missgunst über sein Gesicht zog... doch gerade in dem Moment, als die Hand, in der die schwere Pistole lag, sich anspannte, ertönten hinter ihr schnelle Schritte. Die junge Frau schob sich zwischen sie und schlug dem Mann mit einer fast schon teilnahmslosen Bewegung die Waffe aus der Hand. „Lass das", fauchte sie, „Flüster will sie sehen."
In dem Gesicht des Mannes zeichnete sich deutliche Verwirrung ab. „Warum Flüster?"
„Weil er alles sieht", gab sie schlicht zurück und ergriff grob Levias Handgelenk. „Also komm jetzt. Und pass auf." Sie streifte den Mann mit einem letzten bedeutungsvollen Blick und wandte sich dann wieder der Treppe zu.
In Levia arbeitete es. Wenn die Frau zu der Familie des Grauäugigen aus den Ruinen gehörte, und davon ging sie aus, dann musste der Mann unter ihr stehen, was auch ihr einen gewissen Status verschaffen sollte... zumindest soweit, dass ihr Leben bewahrt würde.
Für den Anfang.
Sie hatte viele große Bauten gesehen in ihrem Leben, nicht zuletzt das gewaltige Blutlager von Morpheus, weitaus größere als diese Kirche, doch trotzdem hatte sie sich noch nie so winzig gefühlt. Sie blickte hinaus in ein atemberaubend hohes Mittelschiff, das von mächtigen, aber dennoch luftig wirkenden Säulen gestützt wurde, die eine weitere Reihe von Bögen krönte.
Lose Gruppen von dunkel gekleideten Gestalten waren über den zerkratzten Marmorboden verstreut, doch die einst wohl prachtvolle Musterung entlockte Levia dennoch tiefe Ehrfurcht. Das hier hat überlebt. So viel wurde komplett zerstört, aber dieses Meisterwerk... ein Heiligtum... hatte überlebt.
Sie war nicht katholisch, auch wenn ihre Eltern bereits bei der Geburt getauft worden waren. Selbst wenn sie gewollt hätten, hätte man in der Britischen Republik niemanden zu einer Geisteseinstellung zwingen dürfen, und so war Dorian, sobald er volljährig geworden war, einer anderen religiösen Gruppierung beigetreten. Faye hatte sich, als Levia zum letzten Mal wirklich mit ihr gesprochen hatte, noch nicht entschieden gehabt, doch ihre ältere Schwester hatte sich nie wirklich für Religion interessiert. Wer an die Akademie kam, musste diese Reise allein antreten. Höhere Wesen wurden dort verleugnet, der Glaube an sie verachtet, und doch hatte sie erst dort die Macht der Imagination verstehen gelernt. Glaube konnte Berge versetzen. Und solch unglaubliche Bauwerke aus dem Boden stampfen.
Die Frau zog an ihrem Arm, um sie aus ihren bewundernden Gedanken zu reißen. Sie steuerte auf den Altarraum zu, der schräg links von ihnen lag. Dort hatte sich die größte Menschentraube versammelt. Auf den ersten Blick erkannte Levia nur männliche Figuren und überwiegend Kurzhaarschnitte... sie sah kurz zu ihrer Führerin. Kurzes Haar, die flache Brust, die hagere, kurvenlose Gestalt. Gut möglich, dass sich dort oben noch weitere Frauen zwischen den groben Figuren verbargen.
Einige der am weitesten außen Stehenden wandten die Köpfe, als die Frau Levia auf sie zu bugsierte.
Männliche, abwertende, misstrauische, teils grimmige Gesichter... ein Schauder griff mit kalten Fingern in ihren Nacken.
Vergiss nicht, wo du bist. Was du bist.
Die Frau sah sie einfach nur an und hob die freie Hand in einer auf den ersten Blick bedeutungslosen, peitschenartigen Bewegung, und widerwillig schoben sich die Körper auseinander. In Levia arbeitete es. Genoss sie so viel Ansehen oder der Grauäigige von den Ruinen? Wenn sie die verschlossenen Gesichter musterte, schloss sie auf letzteres.
Der engste Ring, der sich auf einer Erhebung um ein ihr noch verborgenes... etwas scharte, räumte den Weg nicht sofort. Keiner von ihnen schien Notiz von ihnen zu nehmen, die schwarz verhüllten Schultern formten einen ungebrochenen Wall.
Die Frau scherte sich nicht lange um die stumme, kühlte Abweisung. Ohne auf die Tatsache zu achten, dass die Männer ausnahmslos größer und muskulöser waren als sie, rammte sie dem nächsten, einem Schwarzhaarigen mit stolzer, gerader Haltung, einen spitzen Ellenbogen in die Seite. „Lass mich vorbei, Ruben.“
Als der Mann herumfuhr, jagten seine Augen Levia einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Während eines von einem geradezu beängstigend strahlenden Blau war, erschien das zweite schon fast schwarz, als es sich in ihren Blick bohrte. Stumm musterte er sie, die Arme in der Lederjacke verschränkt, inspizierte kurz ihr Gesicht, die viel zu großen Kleider, die ganz offensichtlich nicht an ihren Körper gehörten… unwillkürlich straffte sie ihre Schultern. Hier würde sie niemand akzeptieren, wenn sie mit den anderen auf einer Ebene zu verschmelzen suchte. Fürs erste war sie hier eine Fremde.
Ruben neigte fast unmerklich seinen Kopf. Er konnte unmöglich recht viel älter zu sein als sie, höchstens fünf, sechs Jahre… wie alle Gesichter, denen sie bis jetzt hier begegnet war. Dann wich er einen kleinen Schritt zur Seite, die Frau trat in den Kreis, und die Geräusche verstummten.
Levia blieb nichts anderes übrig, als ihr zwischen die Körper zu folgen, die sich um sie herum erhoben. In ihrem Inneren schuf sie krampfhaft einen leeren Raum… Stille… Ruhe. Sie würde gefasst sein.
Sie war es nicht.
Der Mittelpunkt des Kreises wurde von einem weiteren Mann gebildet.
Er war älter als alle anderen, irgendwo zwischen dreißig, eher schon in Richtung vierzig. Sein blasser Schädel war kahl geschoren, was seinem kantigen Gesicht einen Hauch von militärischem Anschein verlieh. Die hohen Wangenknochen und geschwungenen Lippen gehörten zweifellos zu einem Mann, der sehr viel mehr war als nur gut aussehend, seine Nase war wohlgeformt und die Stirn nicht zu hoch. Doch die gelblichen Augen stachen in ihre wie die eines Wolfs, der seine Beute witterte.
Feine weiße Narben durchschnitten sein Gesicht. Einige zogen sich über seine Stirn nach oben, andere schlängelten sich über seinen Hals, um den sich ein schwarzer Ring zog. Levia konnte nicht sagen, ob es ein Halsband gewesen wäre oder das Werk eines außerordentlich talentierten Tätowierers.
„Was bringt uns unser Vögelchen da?“ Er flüsterte. Natürlich flüsterte er, seine Stimme ein heiserer, monotoner Tanz aus Worten, die sich aus seiner Kehle drängten.
„Es ist eine Heilige, Flüster. Ich habe sie auf dieser Seite der goldenen Wand aufgegriffen… und jemand hat mich davon abgehalten, ihr eine Kugel in den Kopf zu jagen.“ Die Halsmuskeln der Frau verspannten sich, als sie widerwillig den Kopf ein winziges bisschen senkte. Jemand. Sie musste von dem Grauäugigen sprechen.
„Und er hat gut daran getan… wie er es immer tut.“ Einem Mann neben Flüster stahl sich ein kleines Lächeln auf die Lippen, sein Hautton verriet eine mediterrane Herkunft, höchstwahrscheinlich Spanien. Seine Haare waren noch länger als die des Grauäugigen in den Ruinen, dem sie, wie es inzwischen schien, ihr Leben verdankte.
Langsam trat Flüster auf sie zu, das Kinn stolz erhoben. Die Aura eines Mannes, der zu befehlen gewohnt war, umwehte seinen Körper. „Du bist auf der falschen Seite des Flusses, Kleine.“
Jetzt regten sich vermehrt die Mundwinkel einzelner anderer.
„Das weiß ich.“
Levia fixierte weiterhin seine Augen, diese verwirrenden Augen…
Er zog leicht eine Augenbraue hoch. Sie konnte leisen Respekt aus seinen Augen lesen, während sich auf dem Gesicht der jungen Frau langsam Missbilligung ausbreitete. „Was hast du gemacht, um hierherzukommen?“
„Ich bin vor ihnen geflohen.“
„Was hast du vor diesem Tag in der… heiligen Stadt gemacht?“
„Ich war Journalistin.“
„Journalistin“, wiederholte er nachdenklich und legte leicht den Kopf schief. Die Frau knurrte unwillig. Etwas in diesem Gespräch verlief anscheinend nicht nach ihrem Geschmack…
Flüster hob den Blick an die Decke. Abgerissene Verzierungen hatten dort den nackten Stein zurückgelassen. Levia spürte, wie sich in ihrem Nacken die Regentropfen aus ihrem Haar sammelten.
„Du bringst sie heute Abend her, sobald wir wieder vollständig sind.“
Die Frau schnaubte leise, wich seinen drängenden Augen jedoch aus wie ein geschlagener Hund. „Ja.“
Flüster hob seine rechte Hand mit der Innenfläche nach oben. Seine Lippen wölbten sich zu einem leichten Lächeln. „Und wenn du das mit ihren Haaren nicht in Ordnung bringst, haben wir heute Abend nichts mehr, wegen dessen wir uns treffen könnten.“
Seltsamerweise erklang in Levias Ohr eine dumme Erinnerung, die bereits Wochen zurücklag… Endlich einmal jemand, der etwas von Grammatik versteht. Sie wissen nicht, wie viele von diesen Doktortitelträgern nach ‚wegen‘ noch einen Dativ setzen. Aidan…
„Ja. Ich nehme sie mit.“ Sie schloss ergeben die Augen und griff wieder nach Levias Handgelenk. Dieser blieb nur noch ein letzter Blick in diese beängstigend gelben Augen, bevor sie gezwungen war, sich zurückzudrehen… doch in ihrem Rücken stachen sie weiter und brannten Löcher in ihre Maskerade.
Die, wie es schien, nicht stark genug für diesen Ort sein würde.
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