⏳XIV - Levia⏳
Das Wasser drang in sie ein, doch sie zwang sich, sich unter der Oberfläche zu halten. An der Stelle musste sich vor dem Krieg eine Brücke befunden haben, die Trümmer übersäten das Flussbett. Levia klammerte sich an eine Querstrebe und zog sich nach vorn, während ihr Körper bereits wieder nach Luft schrie.
Denk wie sie... Auf jeden Fall war einer der Scurios der Gruppe für das Schwimmen ausgelegt. Höchstwahrscheinlich der letzte, der sie anfangs dazu aufgefordert hatte mitzukommen- seine Verkleidungen waren ausgearbeiteter gewesen als die der anderen... sie hatte ihm einen Teil der Hand zertrümmert, aber das war keine Garantie für einen Zeitaufschub.
Das Wasser kühlte ihre Körpertemperatur rasant ab; die Fluten waren so aufgewühlt und schlammig, dass er sie durch eine Kanera schlecht ausmachen konnte... solange sie nicht auftauchte. Die Infrarottechnologie würde in der Strömung höchstwahrscheinlich versagen.
Ihre Lungen schrien, das goldene Licht irgendwo über ihrem Kopf weigerte sich, sich zu verändern.
Es war, als käme sie einfach nicht aus diesem Tunnel heraus; sie wand sich wieder und wieder durch den Schlund desselben Ungeheuers, ohne jemals ein rettendes Quäntchen Luft zu erhaschen.
Alles in ihr brannte, sie spürte, wie das Blut in ihren Adern an Geschwindigkeit gewann und die dünneren Gefäße zu zerfetzen drohte. Weiße Pünktchen schufen Kontrast zu dem schlammbraunen Wasser.
Es... sie- konnte nicht- nein....
Ihr Körper drängte sie an die Oberfläche, und sie konnte nicht anders- musste- nachgeben-
Ihre Lippen zerbrachen die Wasseroberfläche, als sie gierig die Luft einsogen, die die Fluten ihr vorenthalten hatten. Sie tauchte erneut unter, sondern schnell wie möglich, und trotzdem-
Ein winziges Geschoss durchbrach einen knappen Meter über ihr die Wellen. Eine harpunenartige, pfeilförmige Konstellation, die einen dunklen Faden hinter sich herzog...
Levia schwamm hastig weiter, warf verängstigt einen Blick zurück zu dem grauenerregenden Geschoss. Es blinkte rötlich, bevor es eine kleine Detonation verursachte, die ihr die Luftblasen aus den Lungen presste.
Wie gelähmt beobachtete sie einen Moment lang, wie das aufgewühlte Wasser sich erneut ein winziges bisschen beruhigte und einen feinen, roten Nebel an der Stelle offenbarte, wo vor Sekunden noch die Metallkapsel gewesen war. Der Schleier beulte sich kaum merklich aus, und das geschwürartige Ding wuchs... es reckte sich in ihre Richtung, zögerlich zuerst, dann plötzlich sicherer.
Ihre wirbelnden Gedanken waren mit einem Mal wie ausgelöscht, doch ihr Körper kämpfte, kämpfte gegen die Untätigkeit- sie stieß sich von einer stählernen Brüstung ab und tat einige kräftige Züge in die ungefähre Richtung des gegenüberliegenden Ufers. Sie können diese Nebelbomben nicht verwenden. Das dürfen sie nicht. Aber das war natürlich irrelevant. Für Levia. Für sie. Für jeden. Es war nur ein Gesetz.
Sie warf gehetzt den Kopf zurück, erkannte, wie sehr der bösartige Nebel aufgeholt hatte. Die übleren von dieser Sorte ätzten alles Fleisch von einem Knochen und zerfraßen diesen, sobald er blank war, aber sie würden sie nicht töten. Mord war keine Aufgabe der Stadtwache.
Dieser Nebel würde seine Wirkung auf eine andere Weise entfalten. Er würde vielleicht in ihre Luftröhre dringen und von dort aus in ihr Blut. Wenige hundert Meter entfernt würden sie ein Gitter aus dem Flussbett fahren, das ihren reglosen Körper wie eine Stoffpuppe aus dem Wasser filtern würde. Und dann gehörte sie ihnen. Dann gehörte sie der Stadt... und damit schlimmstenfalls dem Meistbietenden, bevor oder nachdem sie mit ihr fertig waren. Alles eine Frage der Summe.
Die Vorstellung reichte aus, um eine weitere brodelnde Adrenalinwelle durch ihre Blutgefäße zu senden. Sie bäumte sich widerwillig auf, zog sich an der nächsten Stahlstrebe für einige kostbare Augenblicke an die eisige Luft, die ihr wie zum Hohn stechende Regentropfen ins Gesicht trieb. Dann stürzte sie sich erneut nach unten, das goldene Licht hielt sich die Wage mit dem rötlich brauen, das wie im Spiel wieder und wieder nach ihren Füßen haschte und sich dann wieder zurückzog. Die Welt um sie herum war aus dem Gleichgewicht geraten... sie schrie und schwieg, sie wirbelte und biss, sie drängte, oh, wie sie drängte... sie tat so weh...
Der Nebel stach in ihren Unterschenkel, just in dem Moment, als ihr rechtes Knie über von Steinen bedeckten Boden schrammte. Ihr Kopf durchbrach die Wasseroberfläche mit einer finalen Endgültigkeit, und sie wusste, wenn sie der Themse nur noch ein letztes Mal nachgeben würde, dann würde sie ihr ihr Leben lassen.
Aber die Taubheit, sie- kroch bereits- durch ihr Bein-
Zitternd schleppte sie sich an das schlammige Ufer. Die graue Wallmauer, die aus der Ferne immer so massiv ausgesehen hatte, ragte wenige Meter vor ihr auf... sie sah aus wie das zufälligste Chaos, das zusammenkommen konnte: Stacheldraht, alte Betonrohrteile, aufgestapelter Bauschutt. Alles lag idyllisch da in dem goldenen Licht der Barriere.
Ihr Bein erschlaffte kurz, nur um dann in ein haltloses Zucken zu verfallen. Sie brach an Ort und Stelle zusammen, nur Schritte von dem aufgewühlten Wasser entfernt.
Verängstigt starrte sie auf den regungslosen Unterschenkel, ohne in noch zu spüren. Und das Gefühl wanderte...
Haltlos presste sie zwei Finger in die empfindlichen Punkte am Knie, um einen Reflex auszulösen. Als Reaktion darauf schoss eine Schmerzwelle durch ihren Körper.
Am anderen Ufer standen drei Scurios nebeneinander und beobachteten sie. Dann trat der rechte vor und langsam in das bewegte Flusswasser.
Panisch versuchte sie sich aufzurappeln, scheiterte aber. Mit klammen Fingern zerrte sie ihren Körper über das schlammige Ufer und bewegte sich langsam auf die Mauer zu. Darüber hinweg, flüsterte es in ihr, darüber hinweg gehen sie nicht. Das ist nicht mehr ihr Land.
Der Scurio stand inzwischen bis zum Hals im Wasser. Er ruckte kurz mit dem Kopf und ließ sich nach vorne fallen, verfiel in einen raschen Schwimmrythmus.
Todesangst übernahm die Kontrolle über Levia Hände. Schnell fand sie sich zu Füßen des Schuttwalls wieder, noch immer ohne die gerinste Chance, mit einem lahmen Bein darüber hinweg zu kommen.
Sie fuhr herum. Der Scurio hatte das erste Drittel der Flussbreite mühelos überwunden.
Sie bemühte sich, die Fassung zurückzugewinnen, und atmete tief durch, bevor sie sich entschlossen daran machte, sich mithilfe eines Vorsprungs zurück in den aufrechten Stand zu ziehen. Sie verlagerte ihr Gewicht auf das rechte Bein und tastete höher.
Noch fast anderthalb Meter über ihrem Kopf. Eine nahezu unmögliche Strecke, wenn man ein Bein nicht bewegen konnte...
Trotzdem grub sie die Hände noch ein wenig höher zwischen die brüchigen Steine und versuchte, mit einem kleinen Sprung ihre Beine hinterherzubefördern. Es funktionierte besser als erwartet.
In verachtenswert kleinen Schritten zog sie sich Stück für Stück die Mauer hoch. Etwa die Hälfte hatte sie geschafft, als der Scurio in das ihr nähere Flussdrittel wechselte. Sein konstant gleichgültiger Gesichtsausdruck jagte einen neuerlichen Adrenalinstoß durch ihr Blut, sie schob sich hoch, reckte sich verzweifelt, ihr Nagel zersplitterte mit einem ekelerregenden Geräusch an einem Betonteil... doch ihr Finger bohrte sich in die Spalte.
Ihre Oberarme bebten vor Anstrengung, während ihr linkes Bein noch immer nutzlos herabhing wie ein taubes und totes Stück Fleisch. Sie... brannte...
Wenige Zentimeter, ein Schub noch, und sie würde über die Kante langen und von der Erleichterung kosten dürfen, aber der- der Scurio-
Er hatte das Ufer beinahe erreicht.
Levia stieß einen verzweifelten Klagelaut aus. Sie musste- jetzt- sofort-
Damiens Stimme wirbelte durch ihren Kopf.
Sieh zu, dass du aufhörst, bevor du dich... du weißt schon. Überforderst.
Wut und Schmerz griffen nahtlos ineinander über und jagten erneut ihren Puls nach oben. Sie gab sich einen Ruck und zog sich noch ein Stückchen weiter, wimmerte vor Anstrengung...
Und dann trat der Scurio aus dem Wasser.
Es war, als ob ein Engel aus dem nassen Element hervorgegangen wäre. Er schien lautlos auf sie zuzuschweben, den Grund nicht zu berühren; das Gesicht eine geradezu perfekte Maske.
Und ihre Finger erschlafften, ließen sie für den Bruchteil einer Sekunde im Stich. Doch das genügte bereits, ihr das Gleichgewicht zu entreißen.
Levia entfuhr ein spitzer Schrei, als ihre eine Hand abrutschte und sie dem Roboter entgegenzuzwingen schien. Ihr Herz raste, Furcht pulsierte unaufhaltsam durch ihre Adern, riss ihren Körper an sich-
Verzweifelt reckte sie die Hand erneut nach oben, erhaschte mit den Fingerspitzen die Kante, verkrampfte ihre zittrigen Finger darum-
Der Scurio war noch vielleicht fünf Meter entfernt. Ohne Hast kam er auf sie zu... sie hing an der Wand, musste nur noch abgepflückt werden.
Nein.
Ein letzter kraftvoller Aufschrei schoss wie ein elektrischen Funken durch ihr Herz und jagte sie die letzten Zentimeter hoch. Ungeachtet der flüssigen Todesangst in ihrem Blut stemmte sie sich hinterher, unter ihren Füßen die letzten Wellen aus Adrenalin.
Und dann fiel sie, fiel, fiel aus dem goldenen Licht heraus und in die graue, schmutzige Leere jenseits der ihr bekannten Welt.
Der Aufprall presste ihr die Luft aus dem Bristkorb. Die von den Wassern der Themse getränkten Kleidungsstücke dämpften keine noch so schmale Kante des Schutts unter ihrem verkrümmten Körper ab, und der langsam stärker werdende Nieselregen tat sein Übriges, um den Sauerstoff am Eintritt in ihren Körper zu hindern. Eine der bronzefarbenen Linsen hatte sich verschoben und erschwerte ihr das Sehen.
Nichts berührte sie in diesem Moment. Kein Streifen Licht, kein Hauch von Atem, kein Wille, kein Gefühl. Der Regen wusch ihren Geist, ohne mit seinen sanften Fingerspitzen an sie heranzugelangen. Sie war auf ihre Hülle zusammengeschrumpft.
Es kostete sie Zeit, ihr volles Bewusstsein wiederzuentdecken, unendlich viel Zeit.
Aber sie... hatte es geschafft.
Den Scurio hinter der toten Mauer gelassen. Sie war der Heiligen Stadt entflohen.
"Frei", hauchte sie fassungslos. Das Wort wand sich um die Regentropfen und tanzte eng an sie geschmiegt durch die kühle Luft.
Frei.
Ihre Familie war das erste gewesen, das sie eingeschlossen hatte. Dann die Akademie, fast acht endlose Jahre lang. Isaac und seine falsche Makeup-Schicht. Das Büro, das Damien für sie regelmäßig zu einer Qual gemacht hatte.
Und all dies wurde von der Heiligen Stadt gebündelt. Das neue London war kein Zuhause für jemanden, der das Leben darin mit einer solch verzweifelten Sturheit gesucht hatte wie sie.
Levia zwang sich dazu, sich erneut ein wenig aufzurichten. Ihre linke Hüfte war von einem losen Nagel angeritzt worden, doch ansonsten konnte sie keine offenen Wunden am ihrem Körper entdecken.
Der Scurio würde ihr nicht mehr folgen, das wusste sie. Sie gingen nicht über die Barriere hinaus. Nie.
Frei.
Erleichtert fühlte sie die splittrige Taubheit in ihrem Bein abflauen. Das grauenhafte Gefühl, bewegungsunfähig zu sein, verflüchtigte sich nach und nach und ließ es zu, dass sie sich nach vorn über die Fußballen aufrichtete.
Einen Moment lang schwankte sie im Regen- eine von vollgesogenen und schlammbespritzten Kleidern eingehüllte Flüchtige.
Levia war wenig in diesem Moment, sie war ein... Nichts... ein Nichts, das es über die Barriere geschafft hatte.
Was bedeutete, dass es sie nicht länger gab.
Levia Elizabeth Pernal, 22 Jahre, wohnhaft in der 329. Straße, Tochter von Edmund und Junia Pernal, war von der Bildfläche getreten, und wenn jemand fragen würde, dann hatte es sie nie gegeben.
Orientierungslos stolperte sie zwei Schritte nach vorne, wo eine halb verfallene Mauer ihr Schutz vor dem Regen bieten konnte. Der Rest würde bis... morgen... warten können...
Mit einem Mal schloss sich etwas um ihren Oberarm... etwas Festes, Unnachgiebiges, Sehniges.
Levia fuhr herum, von maßlosem Entsetzen gezeichnet. Wie... wie hatte sie nur so dumm sein können- die Ghettos strotzten von Leben; Leben, das vom Untergrund zurück an die Oberfläche gekehrt war. Oh, sie war so dumm gewesen, so dumm...
Ein geflecktes Gesicht hing in der Luft, eigentlich von der für den Breitengrad typischen Blässe, doch teils mit Schmutzschlieren verkrustet. Es hatte seltsame Proportionen und eine seltsam eckige Kinnform, die Assymetrien aufwies, die kaum auf natürliche Weise entstanden sein konnten.
Die Augen der Gestalt bildeten ein verwirrendes Muster aus Schildpatttönen, goldgefleckt und von grünen Streifen durchzogen.
"Eine kleine Heilige. Sieh einer mal an."
Die verkniffenen Lippen schlossen sich erneut. Unregelmäßig gestutzte, tiefschwarze Strähnen bedeckten den ovalen Kopf der jungen Frau, die Levia nur aufgrund der Stimme als solche einschätzen konnte.
Argwöhnisch drückte sie sich zwei Schrittchen zurück, doch die drahtige Frau, die ganz in dunkles Leder und schmiegsame Baumwolle gekleidet war, verstärkte nachdrücklich ihren Händedruck.
"Nicht so schnell, Kleines." Sie verzog ihre Züge zu einem wölfischen Lächeln. "Wir werden doch wohl nicht gehen, bevor der ganze Spaß anfängt, oder?"
Und Levia musste hilflos beobachten, wie sie ihre Pistole klickend entsicherte und hochhob...
Die Mündung gähnte direkt vor ihrem Gesicht; ein gieriges, grundloses Auge ohne Gewissen oder Gerechtigkeit.
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