9. Seltsamer Tag

Nach einer langen, und nicht unbedingt ruhigen Nacht, denn Jim hat geschnarcht, wache ich verschlafen neben Jim auf, als dieser sich einmal herumdreht und mit seiner leicht kratzigen Wange meine nackte Schulter berührt. Mit einem zufriedenen Seufzen schmiege ich mich an ihn und er legt im Halbschlaf einen Arm um mich.
"Guten Morgen", murmele ich und Jim brummt etwas unverständliches zurück.
Ich genieße noch eine Weile die friedliche Stimmung im Bett, zusammen mit Jim unter der warmen Decke, während zum Fenster durch die Vorhänge gedämpftes Licht ins Zimmer dringt.
"Hast du Hunger?", frage ich nach einer Weile leise nach und Jim brummt wieder irgendetwas, hebt aber leicht den Kopf.
"Später", nuschelt er und zieht mich enger an sich. Damit scheint sich das Thema erledigt zu haben, denn er sagt nichts weiter und dämmert wieder vor sich hin. Ich lasse die Augen wieder zufallen und ruhe mich noch ein bisschen aus.
Doch plötzlich beginnt Jims Handy zu klingeln und reißt uns abrupt aus dem angenehmen Dämmerzustand.
"Verflucht, ich hab vergessen es auszumachen", grummelt er und setzt sich hin um auf das Display zu schauen. Ich drehe mich auf den Rücken und beobachte sein Gesicht im Profil während seine Augen den Text der eingegangenen Nachricht überfliegen.
"Und, was wichtiges?", erkundige ich mich schließlich und setze mich auch auf. Mit dem Kinn auf seiner Schulter warte ich dass er mir antwortet und lege meine Hand auf seine andere Schulter.
"Mhm, ja", murmelt er zurück und legt das Handy wieder weg. Kurz scheint er zu überlegen, dann macht er Anstalten aufzustehen und ich nehme mein Kinn von seiner Schulter.
"Was ist es denn?"
"Ich muss weg."
"Was? Aber Jim, es ist Weihnachten, und du hast dir bis Silvester freigenommen", protestiere ich und er schaut mich entschuldigend an.
"Tut mir leid Honey, aber es ist wichtig."
Er gibt mir einen Kuss auf den Mund und ich schaue ihm zu wie er aufsteht und zu seinem Kleiderschrank geht.
"Wo gehst du denn hin?"
"Darf ich nicht sagen."
Wie bitte? Jim darf etwas nicht sagen? Wer kann ihm denn bitte Befehle erteilen?
"Und wann bist du wieder da?", frage ich weiter und er seufzt während er sich einen dunkelblauen Anzug heraussucht.
"Ich weiß es nicht, aber ich versuche so schnell wie es geht zurück zu sein, versprochen. Dafür habe ich heute Abend nur Zeit für dich."
Er zwinkert mir zu und ich senke schmunzelnd den Blick, dann stehe ich auch auf.
"Ich mache uns eben ein schnelles Frühstück, du sollst immerhin nicht mit leerem Magen weggehen."
"Danke Mel, du bist ein Schatz."
Ich gebe ihm einen sanften Kuss und grinse ihn danach an.
"Ich weiß."
Mit einem Lachen schaut er mir hinterher als ich den Raum verlasse und ich laufe lächelnd die Treppe herunter in die Küche. Dort bereite ich ein kleines Frühstück vor und höre schon kurz darauf wie Jim herunterkommt und ins Bad geht.
Schon blöd dass Jim heute weg muss, aber ich kann daran nichts ändern, ich kann es ihm nur leichter machen indem ich ihn unterstütze und nicht jammere, obwohl ich nicht begeistert davon bin. Aber so sitzen Jim und ich bald in der Küche und frühstücken, mein Mann schon in einem seiner dunkelblauen Anzüge mit gleichfarbigem Hemd und Hose, während ich in Top und kurzer Schlafhose ihm gegenüber sitze. Trotz seiner Aufmachung wirkt er nicht ganz so förmlich wie sonst, sondern eher als würde er auf einen Geschäftsausflug gehen.
"Soll ich dir was mitbringen wenn ich schonmal unterwegs bin?", erkundigt er sich bevor er das Haus verlässt und wir im Flur stehen.
"Jim, alle Geschäfte haben zu", erinnere ich ihn lachend und er schmunzelt.
"Als ob mich das aufhalten würde."
Mit einer Hand an meiner Taille zieht er mich zu sich und gibt mir einen sanften Kuss, dann löst er sich von mir.
"Du musst mir nichts mitbringen, komm nur bitte bald wieder", antworte ich auf seine Frage und er nickt.
"Okay. Dann bis später Honey."
"Bis später Jim."
Mit einem letzten Lächeln öffnet er die Haustür, dann verschwindet er und ich stehe alleine im Flur.

~~~

'Später' entpuppt sich als 'viel später'.
"Irgendwann binde ich ihn nochmal fest wenn er frei hat, nur damit er hier bleibt", murmele ich missmutig, fast acht Stunden nachdem er gegangen ist.
Ich habe mit Katie gesprochen, Seb Frohe Weihnachten per WhatsApp gewünscht und mich durch das langweilige Fernsehprogramm gezappt, ohne mich zu beklagen. Doch so langsam kann Jim auch mal wiederkommen.
Kaum zwanzig Minuten nachdem ich das gedacht habe, höre ich plötzlich den Schlüssel im Schloss der Haustür und springe sofort vom Sofa, wo ich gesessen habe, auf um in den Flur zu laufen.
Mein Ehemann tritt gerade durch die Tür herein, als ich auch schon freudig lächelnd vor ihm stehe. Allerdings ist irgendetwas komisch, und Jim wirkt merkwürdig abwesend, so als wären seine Gedanken noch bei etwas was er gesehen oder gehört hat. Besorgt mustere ich ihn.
"Jim, ist alles in Ordnung?"
Da schaut er mich an und scheint einen Moment zu brauchen um mich wirklich zu sehen, dann erwidert er mein Lächeln.
"Klar Honey."
Seine Stimme klingt komisch, so als würde er lügen und sich dessen nicht bewusst sein. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich, das Gefühl dass mit Jim etwas ganz und gar nicht stimmt. Was auch immer das war, weswegen er wegmusste, es hat ihn verändert. 
Ohne meinen besorgten Blick zu bemerken geht Jim an mir vorbei und macht sich sofort auf den Weg nach oben, wahrscheinlich um in sein Arbeitszimmer zu gehen.
Ich schaue ihm nach, unsicher was ich jetzt machen soll. Ein wenig hilflos folge ich ihm schließlich und finde ihn tatsächlich in seinem Arbeitszimmer am Laptop. Er ist noch immer genauso angezogen wie vorher und kümmert sich nicht darum als ich mich in den Türrahmen lehne und ihn beobachte. Seine Augen sind voll und ganz auf das, was der erhellte Bildschirm seines Laptops ihm zeigt, fixiert und er scheint nicht zu bemerken dass ich langsam auf ihn zukomme.
"Jim?", frage ich vorsichtig um ihn nicht zu verärgern, denn rein theoretisch könnte er auch der Psychopath sein ohne dass ich es mitbekommen habe.
"Mhm", murmelt er abwesend und ich stelle mich hinter ihn um auch auf den Bildschirm schauen zu können. Jim macht keine Anstalten mich wegzuschicken oder sonstwie zu reagieren, also sehe ich was er liest. 
Auf der geöffneten Seite ist das Bild eines Mannes mit auffallend hohen Wangenknochen zu sehen, dessen dunkles, lockiges Haar ihm in die Stirn hängt. Seine grau-blauen Augen blicken ernst und gleichzeitig kühl auf etwas neben der Kamera, und die Haut wirkt blass im Gegensatz zu seinem dunklen Haar. Daneben steht ein Name, den ich noch nie zuvor gesehen oder gehört habe: Sherlock Holmes.
"Wer ist das?", frage ich in der halbherzigen Hoffnung vielleicht etwas aus meinem Mann herauszubekommen und dieser bewegt sich endlich ein wenig.
"Er nennt sich selbst einen Consulting Detective und wohnt in London, außerdem scheint er äußerst intelligent zu sein. Hilft ab und zu dem Scotland Yard mit Fällen aus, viel mehr weiß ich bisher auch nicht. Ich bin noch am Anfang meiner Recherchen."
"Consulting Detective, passt ja zu dir", meine ich schmunzelnd und lege Jim sacht eine Hand auf die Schulter. Er schüttelt sie nicht ab, ein gutes Zeichen.
"Und warum recherchierst du gerade jetzt über ihn?"
"Er hat ein paar meiner Aufträge aufgelöst, nichts ernstes, aber er hat mein Interesse geweckt", lautet die Antwort meines Mannes und ich beuge mich vor um ihm einen Kuss auf den Kopf zu geben.
"Okay, aber kannst du nicht vielleicht später weitersuchen?", erkundige ich mich sanft, aber vorsichtig und er dreht leicht den Kopf um zu mir aufzuschauen.
"Wieso?"
"Naja, es ist halb neun, und du meintest du hättest jetzt nur Zeit für mich", erinnere ich ihn und er scheint zu überlegen.
"Noch eine halbe Stunde, okay?"
"Na gut", stimme ich mit leichtem Widerstreben zu und lasse Jim wieder in Ruhe.
Glücklicherweise kommt er tatsächlich nach einer halben Stunde runter zu mir ins Wohnzimmer, sonst wäre ich auf dem Sofa eingeschlafen. Mit geschlossenen Augen höre ich wie Jim die Treppe herunter und zu mir kommt, dann spüre ich seine Gegenwart und wie er mich von oben betrachtet. Als seine Hand mich sanft an der Schulter berührt öffne ich die Augen und lächle leicht.
"Konntest du dich also von deinem neuen Freund losreißen?", frage ich ihn neckend und er seufzt schmunzelnd.
"Es war schwer, aber ja, das konnte ich. Schweren Herzens", erwidert er mit einem Lachen in der Stimme und beugt sich über die Lehne zu mir nach unten um mir einen Kuss zu geben. Danach kommt er zu mir herum und ich mache ihm Platz, damit er sich hinsetzen kann, dann lege ich meinen Kopf auf seinen Schoß.
"Bist du etwa schon müde?", fragt er mich und ich schaue grinsend zu ihm auf. Ohne eine Antwort zu erhalten beginnt er mir über den Kopf zu streichen und nimmt mit der anderen Hand meine Hand von meinem Bauch. Nachdenklich betrachtet er mich und seine Finger zeichnen meinen Haaransatz und meine Wangenknochen nach während sein Blick über meine Haut wandert und an meinen Augen hängen bleibt. Eine Weile lang schauen wir uns nur an und ich bemerke dass Jims Pupillen ungewöhnlich groß sind, was seine Augen fast schwarz wirken lässt. Dadurch habe ich das Gefühl ich könnte direkt in ihn hinein blicken, doch das ist natürlich ein Irrtum. Ich kenne meinen Ehemann zwar sehr gut, aber ich weiß noch immer nicht alles was in ihm vorgeht, sogar so Sachen wie die Tatsache dass er mich liebt habe ich noch nicht durchblickt bei ihm. Aber das ist okay, ich kann damit sehr gut leben.
"Ich liebe dich", wispere ich nach einer Weile und seine Lippen formen ein leichtes Lächeln.
"Ich liebe dich auch, Melody", flüstert er zurück und ich setze mich vorsichtig auf, nur um ihn liebevoll zu küssen. Während er den Kuss erwidert hält er mich mit einer Hand fest, mit der anderen streicht er mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Der Kuss lässt mich vergessen dass er vorhin noch so seltsam war, und auch dass ich noch immer nicht weiß weswegen er eigentlich weg war. All das verliert an Bedeutung, momentan sind nur wir beide wichtig. Naja, und unsere knurrenden Mägen.
"Willst du noch etwas essen?", erkundige ich mich bei ihm und er reibt seine Nasenspitze an meiner bevor er antwortet. Ich liebe es wenn er so niedlich und liebevoll ist.
"Sehr gerne, aber danach möchte ich dich einfach nur bei mir haben", murmelt er und ich kann nur schwer verhindern dass ich aufquieke.
"Dann komm."
Was auch immer mit Jim passiert ist, er sagt es mir nicht und gibt mir auch keinen Hinweis darauf, aber dafür ist er unglaublich zärtlich, jedes Mal wenn er mich berührt und mir etwas sagt. Nach dem Essen machen wir uns bettfertig, und ohne Anzug ist er nochmal niedlicher und kuschelbedürftiger als vorher. Fast wirkt es so als bräuchte er mich um sich zu beruhigen, als hätte er etwas gesehen was ihn erschreckt oder verwirrt hat. Aber mich stört das nicht, ich genieße es mit ihm später im Bett zu liegen und seine Wärme zu spüren, ohne das Gefühl zu haben dass etwas nicht stimmt. Wenn langsam Ruhe einkehrt und ich irgendwann meine Hand nicht mehr vor Augen sehen kann, aber Jim mich umschlungen hält und mir mit einer Hand über den Kopf streicht während meine eigene Hand an seinem Hinterkopf liegt, dann erst können wir beide an Schlaf denken. Und dieser kommt schnell, sodass wir aneinander gekuschelt einschlafen und der Geruch des jeweils anderen uns in den Schlaf begleitet. Solche Abende möchte ich öfter haben. 

***

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