46. Eine fremde Nummer

"Ich bin müde, Seb. Ich geh ins Bett, du kannst ruhig versuchen ob du noch etwas rausfindest, du weißt da ja besser Bescheid als ich. Falls was ist, kannst du mich ruhig wecken", meine ich resigniert zu dem Blonden, der mit Jims Handy in der Hand dasteht. Erschöpft, ohne dass ich weiß warum, gehe ich die Treppe nach oben und in Jims und mein Schlafzimmer.
"Melody", hält Seb mich zurück und ich bleibe auf der letzten Stufe stehen.
"Du brauchst keine Angst zu haben. Selbst wenn das, was da steht, stimmt, du kannst dich verteidigen und ich bin bei dir. Und wir werden Jim finden, das verspreche ich dir."
"Danke Seb. Ich bin wirklich froh, dass du da bist", antworte ich und er lächelt leicht.
"Dann ruh dich gut aus, ich sag dir falls ich was Neues finde."
Mit einem Nicken gebe ich ihm zu verstehen, dass ich ihn gehört habe, dann setze ich meinen Weg fort. Ich schließe die Tür hinter mir, meine Hand bleibt einen Moment auf der kühlen Türklinke liegen. Für einen Augenblick schießt mir der Gedanke durch den Kopf, ob der Entführer den Text ernst meint und mich tatsächlich sieht, jetzt gerade. Unwillkürlich schaue ich mich in dem mir so vertrauten Zimmer um, während ich die Klinke loslasse, doch ich kann nichts entdecken, das irgendwie ungewöhnlich wäre. Wahrscheinlich sollte mich dieser Satz nur verunsichern.
Seufzend lasse ich mich rücklings auf das Bett von Jim und mir fallen. Die Decke ist einladend weich und als ich mich auf den Bauch drehe, rieche ich den Geruch von unserem Waschmittel, vermischt mit dem Geruch von Jim und mir.
Erst nach einer Weile erlaube ich mir selbst, mich zu entspannen und schließe die Augen. Die Müdigkeit, die ich vorher nur leicht gespürt habe, holt mich nun rasend schnell ein, so als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich meine Augen zu mache. Ich schaffe es gerade noch, mich unter der Decke zusammenzurollen, dann drifte ich auch schon ab.

***

Es vergeht mehr als eine Woche, in der weder Seb noch ich irgendetwas Neues über Jim herausfinden, nicht einmal der Entführer meldet sich nochmal. Stattdessen ist es so, als sei Jim einfach weg, auf Geschäftsreise oder so. Die Welt um uns herum dreht sich weiter, das Leben schreitet voran, und so gehe ich schon einen Tag nach Jims Entführung wieder arbeiten. Ich schaffe es sogar, zu verbergen dass mich etwas bedrückt, nicht einmal Sybille bemerkt dass etwas nicht stimmt. Katie meldet sich im Laufe der Woche mit einem Anruf, doch auch ihr kann ich vormachen, dass alles in Ordnung sei.
Seb schläft weiterhin in unserem Gästezimmer, nach dieser unheimlichen Nachricht in Jims Handy wagt er es nicht mehr, mich über Nacht alleine zu lassen. Zwar versichert er mir, dass weder Wanzen noch Kameras im Haus versteckt wurden, aber ich werde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Jedes Mal wenn ich aus dem Haus gehe, schaue ich mich um, ob ich nicht vielleicht doch irgendwo jemanden sehe, der mir folgt, aber da ist nichts. Kein ominöses Auto, das überall auftaucht, kein Mensch mit Sonnenbrille, der mir unauffällig hinterhergeht.
Es deutet nichts darauf hin, dass der Entführer die Wahrheit gesagt hat, und dennoch werde ich die Paranoia nicht los. Ich glaube, insgeheim geht es Seb auch so, er versucht es nur mir gegenüber nicht deutlich werden zu lassen. Er sucht nach wie vor nach Hinweisen, wo man Jim versteckt halten könnte, stößt aber immer wieder auf Sackgassen oder geht im Kreis. Beinahe wirkt es so, als würde der Entführer diese falschen Fährten ausstreuen, nur um den Sniper verzweifeln zu sehen.
Am neunten Tag nach Jims Entführung aber passiert etwas, womit weder ich noch Seb gerechnet haben.

~~~

Ich sitze gelangweilt auf der Arbeit, in zwanzig Minuten habe ich Feierabend und meine letzte Aufgabe für heute befindet sich kurz vor der Fertigstellung. Allmählich verliere ich die Hoffnung, dass wir Jim jemals finden werden, geschweige denn dass er dann noch lebt, weswegen meine Motivation ebenfalls auf einen Tiefpunkt sinkt. Es macht einfach für mich keinen Sinn mehr, irgendetwas zu tun, das nicht in irgendeiner Weise zu Jims Rettung beiträgt. Vor allem wenn es immer unwahrscheinlicher wird, dass er wieder zurückkommt.
Schließlich kann ich den Computer herunterfahren und mich auf den Nachhauseweg machen. Ich verabschiede mich von Sybille und sogar von Mister Wulf, mit dem ich normalerweise kaum ein Wort spreche seit er bei uns arbeitet. Er ist ruhiger geworden und sogar ein bisschen netter, trotzdem nehme ich ihm meine Zeit als seine Sekretärin mehr als übel.
Während ich im Bus sitze und Musik höre, kommt mir plötzlich eine sehr dämliche, doch gleichzeitig eine gute Idee.

Me: Seb, vielleicht sollten wir Sherlock Holmes um Hilfe fragen.

Es dauert eine Weile bis der Sniper antwortet, doch als er es tut, muss ich schmunzeln.

Seb: Was zur Hölle, spinnst du? Ich hätte fast meinen Kaffee auf euren Wohnzimmerboden gespuckt. Wie kommst du auf so eine Idee?

Me: Naja, ich weiß nicht. Ich habe nur überlegt, dass wir eigentlich jemanden bräuchten, der so schlau ist wie Jim. Und da fiel mir dieser Sherlock ein, immerhin ist er doch so eine Art Meisterdetektiv, oder nicht?

Seb: Ja, schon, aber Jim ist sein Erzfeind, außerdem, warum sollte er uns helfen? Ihm käme es doch gelegen, wenn Jim wegbleibt, nichts für ungut.

Me: Da hast du Recht. Es war nur so eine Idee.

Me: Ich vermisse ihn so sehr, Seb.

Seb: Ich weiß. Ich vermisse ihn auch, auf meine Weise.

Er schreibt nicht weiter und unwillkürlich sinkt meine Stimmung. Selbst Seb hat aufgehört zu hoffen, dass wir meinen Ehemann finden.
Plötzlich vibriert mein Handy und ich schaue auf das Display. Ich habe eine Nachricht, eine SMS, von einer fremden Nummer erhalten. Neugierig, doch auch misstrauisch, tippe ich die Nachricht an, halte aber dabei meine Kamera zu. Wer weiß, vielleicht ermögliche ich es durch das Antippen dieser SMS dem Absender, mein Handy zu benutzen um mich zu beobachten. Doch sobald die Nachricht als Text vor meinen Augen geöffnet wird, vergesse ich jegliche Vorsicht diesbezüglich.

???: Sie können ihr Paket jetzt abholen, er könnte ein wenig beschädigt sein. Ich empfehle ein scharfes Messer mitzunehmen und hoffe, dass Sie ihre Lieferung genießen...

Darunter steht eine Adresse, doch ich bin zu geschockt, um nachzudenken wo sich die angegebene Straße befindet. Meine Hände beginnen zu zittern, und säße ich nicht in einem Bus voller Menschen, würde ich anfangen zu schreien. Plötzlich hält der Bus an und als ich hochschaue, merke ich, dass das meine Haltestelle ist. Hastig stehe ich auf und dränge mich nach draußen, ohne auf die Menschen um mich herum zu achten.
Meinen Rucksack in der Hand steige ich aus dem Bus und fange an zu rennen sobald meine Füße den Asphalt berühren. Mein einziger Gedanke dreht sich darum, so schnell wie möglich zu Seb zu kommen, egal wie sehr meine Lunge danach schmerzen wird.
Ich unterdrücke das Bedürfnis nach dem Sniper zu rufen als das Haus in Sicht kommt, sondern renne einfach weiter die Straße entlang. Meine Seiten stechen, meine Lunge brennt und ich habe einen metallischen Geschmack im Mund, aber ich kann mich nicht dazu bringen, stehenzubleiben.
Komplett außer Atem bleibe ich vor der Haustür stehen, meine Kopfhörer schleifen am Boden und ich habe das Gefühl, jeden Moment umzufallen vor Anstrengung. Meine zitternden Finger schaffen es kaum, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, doch nach einigen Versuchen steckt er endlich drin.
"SEB!", brülle ich fast schon durch den Flur, lasse meinen Rucksack einfach fallen und stolpere ins Haus.
Lautes Poltern auf der Treppe verrät mir, dass Seb heruntergerannt kommt, mit Panik in den Augen stürzt er in den Flur. Doch als sein Blick auf mich fällt, unverletzt, aber vollkommen außer Atem, entspannt er sich ein kleines bisschen.
"Was ist denn los?", fragt er und streckt einen Arm nach mir aus, als ich schwankend auf ihn zugehe.
"Jim... Nachricht... Paket... Adresse", keuche ich und halte mein Handy hoch. Den ganzen Sprint über habe ich es fest umklammert, sodass meine schwitzigen Fingerabdrücke das gesamte Display bedecken.
"Hey hey, ganz ruhig, komm erstmal wieder runter", hält mich der Blonde auf und legt mir beide Hände auf die Schultern. Doch ich schüttele energisch den Kopf, obwohl mir davon schwindelig wird.
"Lies", befehle ich ihm nur und drücke ihm mein Handy in die Hand. Die Nachricht ist nach wie vor auf dem Bildschirm zu sehen als er ihn anschaltet. Sofort werden seine Augen groß und er starrt wie vom Donner gerührt auf den Text. Um nicht umzufallen, lehne ich mich gegen die Wand während ich Seb beobachte, da schaut er mich an.
"Wann kam das?"
"Gerade eben", antworte ich, allmählich wieder zu Atem kommend.
"Dann muss ich sofort los!", ruft er und will wieder nach oben rennen, wahrscheinlich um seine Waffe zu holen. Doch ich halte ihn am Arm fest.
"Du gehst nicht alleine! Ich komme mit!"
"Nein Melody, das geht-", will er abwehren, doch ich unterbreche ihn sofort.
"Bitte Seb, ich will nicht nur hier rumsitzen und hoffen dass einer von euch oder beide wiederkommen. Das halte ich nicht mehr aus, ich muss etwas tun! Bitte, lass mich dir helfen."
Seb ringt sichtlich mit sich, dreht sich aber schließlich zu mir herum.
"Jim wird mich umbringen wenn ich dich mitnehme...", startet er einen letzten Versuch, doch ich schaue ihn bittend an.
"Ich kann dir helfen, dir den Rücken freihalten und so. Bitte Seb, du solltest nicht alleine gehen. Außerdem ist die Nachricht an mich geschickt worden."
Ich weiß zwar nicht, was das für eine Art Argument sein soll, aber das ist mir momentan egal. Ich muss um jeden Preis mitkommen, sonst werde ich wahnsinnig.
"Und wenn es eine Falle ist?"
"Dann brauchst du erst recht Hilfe", antworte ich ihm und er seufzt.
"Ich werde das so was von bereuen", murmelt er, was mich aufhorchen lässt.
"Jim hat dir beigebracht mit einer Waffe umzugehen, oder?"
Augenblicklich nicke ich. Es ist zwar schon eine Weile her, dass Jim und ich das geübt haben, aber das muss Seb ja nicht wissen.
"Also schön, dann kannst du mitkommen. Aber beschwer dich nicht, falls wir dabei draufgehen."
"Keine Sorge, das werde ich nicht. Danke Seb."
Doch er schnaubt nur und geht dann schmunzelnd die Treppe nach oben.
Sobald er oben ist, fangen meine Hände an zu zittern, aber ich muss nicht weinen. Stattdessen bin ich auf einmal unglaublich energiegeladen, ich kann es kaum erwarten loszukommen. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, habe ich das Gefühl, dass Jim weiter weg rückt.
Die ganze Zeit muss ich an diesen merkwürdigen Text denken, und auch daran, dass diese fremde Person meine Nummer hat. Diese Tatsache macht mir Angst, genauso wie die, dass im Text etwas von 'Paket' und 'beschädigt' steht.
Nur kurze Zeit später kommt der Sniper wieder runter, zwei Pistolen in der Hand. Eine davon gibt er mir, die andere steckt er sich in seinen Hosenbund. Dann gehen wir los.

~×~×~×

Hehe, der schlimmste Cliffhanger in dieser Buchreihe bisher xD
Es tut mir leid, aber sonst wäre die Spannung ja futsch xD

Danke fürs lesen btw ❤️

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