45. Ein Text

Nach Sebs Anruf höre ich eine Zeit lang nichts mehr von ihm, doch ich versuche nicht zu viel darüber nachzudenken. Stattdessen setze ich mich auf einen der Sessel und schalte den Fernseher an, doch keine der Sendungen schafft es wirklich meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Schließlich finde ich einen Sender, der gerade Doctor Who ausstrahlt und entscheide mich, dort zu bleiben. Auch wenn ich die Folge bereits kenne, es beruhigt mich, etwas bekanntes zu sehen. Diese ganze Sache mit Jims Entführung, diese Ungewissheit, die Angst, die Hilflosigkeit, all das ist mir fremd und gleichzeitig doch so vertraut.
Mit angezogenen Beinen sitze ich auf dem Sessel, Jims Geruch umgibt mich und ich schaue eine Folge Doctor Who, jedoch ohne ihn neben mir. Zuerst versuche ich mich zusammenzureißen, mich auf den Fernseher zu konzentrieren, aber es fällt mir immer schwerer. Mir fehlt Jim so unglaublich sehr.
Mir fehlt sein Lachen, seine Stimme, seine Wärme neben mir, seine sanfte Hand, die Art wie er mich ansieht, seine Lippen auf meinen, das sachte Kratzen seines Bartes wenn er sich mal wieder rasieren muss. Er fehlt mir so sehr, dass es sich anfühlt als hätte jemand ein Stück von mir selbst weggenommen.
Ich bemerke kaum wie meine Sicht verschwimmt, das Innere der TARDIS zu einem bunten Klecks wird und ich die Stimme des Doctors ausblende. Zumindest so lange bis ich blinzele und sofort Tränen über meine Wangen laufen. Nun lasse ich sie einfach fließen, ich nutze die Gelegenheit dass gerade niemand hier ist der mich sehen könnte, vor allem Seb nicht. Anfangs sind die Tränen leise, doch allmählich kann ich meine Schluchzer nicht mehr zurückhalten, bis ich es irgendwann aufgebe. Weinend sitze ich da, mich selbst umarmend, während der Doctor mal wieder das halbe Universum rettet. Wenn ich seine TARDIS hätte und nur halb so mutig wäre wie er, würde Jim jetzt bei mir sein und mich im Arm halten, aber leider ist das nur Fiktion.
Es dauert eine ganze Weile bis ich mich wieder beruhigen kann, danach sitze ich nur still auf meinem Sessel und versuche rauszufinden was ich tun könnte. Als meine Tränen versiegt und getrocknet sind, stehe ich auf und gehe ins Bad, um mir mein Gesicht zu waschen. Meine Augen sind gerötet und brennen, Seb wird auf jeden Fall wissen dass ich geweint habe. Er wird sich noch mehr Sorgen machen als sowieso schon, vielleicht wird er sogar bereuen überhaupt hergekommen zu sein.
Bevor ich wieder ins Wohnzimmer gehe, putze ich mir die Nase, damit ich nicht ganz so verheult klinge wenn er wieder anruft. Den Fernseher mache ich aus, dann nehme ich mein Handy und gehe in die Küche. Was ich jetzt brauche ist ein Tee zur Beruhigung.
Um mich abzulenken gehe ich auf WhatsApp und scrolle ein wenig runter, bis ich zu Katies Kontakt komme, dann tippe ich darauf. Wir haben schon eine Weile lang nicht mehr miteinander geschrieben, aber ich weiß, dass unsere Freundschaft niemals verschwinden wird, nur weil wir nicht mehr miteinander schreiben. Es sei denn sie vergisst dass ich existiere.

Me: Hey Katie :) Ich musste gerade an dich denken, ich hoffe es geht euch gut und ihr seid alle wohlauf. Was macht euer kleiner Racker so?

Me: Sorry falls das hier mitten in der Nacht kommt, ich vergesse immer dass du ja in einer ganz anderen Zeitzone bist als ich xD

Sobald ich die beiden Nachrichten geschickt habe, lege ich mein Handy neben mich auf die Ablage. Den Tee mache ich mir in einer der Tassen, die Jim mir im Laufe unserer Beziehung geschenkt hat. Das heiße Getränk hat tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf mich und ich wärme meine Finger an der Tasse, obwohl mir nicht kalt ist.
So als hätte ich es gespürt, schaue ich das Handy neben mir in genau dem Moment an, in dem es klingelt und Sebs Name auf dem Display erscheint. Sofort stelle ich die Tasse ab und gehe ran, mit vor Aufregung wild klopfendem Herzen.
"Seb?"
"Tut mir leid Mel, er ist nicht hier."
Ich kann ein enttäuschtes Seufzen nicht zurückhalten und lasse mich entmutigt auf einem der Küchenstühle sinken. Die Hoffnung, Jim zu finden, wird wieder kleiner, bis sie schließlich fast ganz verschwindet.
"Es war zwar keine Falle, aber das Handy wurde auf jeden Fall mit Absicht hier platziert. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen wieso es sonst in einer Kirche liegen sollte", spricht Seb weiter und ich horche sofort auf.
"Eine Kirche?"
"Ja. Ich glaube es ist sogar die, in die Jim mal für dich eingebrochen ist und den Priester umgebracht hat."
Plötzlich dreht sich alles um mich herum, und wenn ich nicht schon sitzen würde, wäre ich jetzt bestimmt umgefallen. Dann ist Seb tatsächlich in meiner alten Wohngegend, und die Kirche ist die, in die ich damals vor meinem Stiefvater geflüchtet bin.
"Seb, wo genau lag das Handy?"
"Ich musste es erst eine ganze Weile lang suchen, aber schließlich habe ich es hinten gefunden, im Hinterzimmer des Priesters."
Ich fühle wie mir augenblicklich alles Blut aus dem Gesicht weicht und mein Mund trocken wird.
"Wo w-wo bist du jetzt?", frage ich nach.
"Ich sitze in meinem Auto, das Handy habe ich dabei. Ich wollte dich erst anrufen bevor ich mich auf den Weg zurück mache."
"Danke", bringe ich hervor, da scheint Seb zu bemerken, dass etwas mit mir nicht stimmt.
"Bist du okay?"
Für einen Moment kann ich ihm nicht antworten, meine Kehle ist wie zugeschnürt.
"Mel?"
"N-nein, nicht wirklich. Seb, das Handy lag es lag in dem Hinterzimmer i-in dem ich, in dem er..."
Ich kann nicht weitersprechen, doch der Sniper versteht mich auch so. Dafür weiß er gut genug Bescheid.
"Oh Scheiße, das ist Mann, ich bin gerade echt froh, also dass du nicht mitgekommen bist. Kann mir vorstellen, dass das so schon viel zum Verdauen ist."
Er räuspert sich unbehaglich.
"Ich mache mich jetzt auf den Rückweg, okay? Ich bin bald wieder da, halte bitte bis dahin durch. Mel?"
"Mhm", mache ich nur, meine Augen habe ich geschlossen um die Tränen zurückzuhalten, die sich wieder anbahnen.
"Dann bis gleich."
"Bis gleich."
Kaum habe ich aufgelegt, habe ich das Gefühl in ein Loch zu fallen, das sich vor mir auftut. Woher wissen diese Leute davon? Wieso haben sie Jims Handy dort platziert, wenn sie doch gar nicht von mir wissen können, geschweige denn von meiner Vergangenheit? Was soll dieses Spiel, falls es tatsächlich eins ist?
Verzweifelt versuche ich tiefe Atemzüge zu machen, darauf zu achten, dass ich nicht hyperventiliere, auch wenn ich kurz davor bin. Das ist es doch, was diese Leute wollen, sie wollen mich aus dem Konzept bringen und alle, die nach Jim suchen. Sie wissen von mir, von meiner Verbindung von Jim, aber anscheinend geht es nicht um mich, sonst wäre schon längst eine Lösegeldforderung oder so etwas in der Art aufgetaucht.
Langsam, ganz langsam komme ich wieder runter, verbanne die Erinnerungen an die Kirche wieder und denke nur an Jim. Ich vergrabe die Nase in seinem T-Shirt und sein Geruch hilft mir endgültig dabei, wieder ruhig zu werden. Zusammen haben Jim und ich meine Angst vor Männern und Nähe besiegt, das wird mir niemand wieder wegnehmen. Vor allem kein gesichtsloser Entführer, der nicht eine Spur hinterlässt und im Prinzip auch nicht existent sein könnte.
Vielleicht ist er in Wahrheit auch ein winziger, hässlicher Kerl, den ich mit einem Tritt in die Themse befördern könnte.
Die Vorstellung bringt mich zum Lächeln und ich öffne die Augen wieder. Dabei fällt mein Blick auf meinen Tee, der mittlerweile leider nur noch lauwarm sein dürfte. Trotzdem trinke ich ihn, es ist immerhin Tee.
Als ich die Tasse geleert habe und gerade dabei bin, sie in die Spülmaschine zu packen, sehe ich Sebs Auto in unsere Einfahrt biegen. Ich gehe zur Haustür um ihm aufzumachen und er wirkt nur ein bisschen überrascht darüber, dass ich in anderen Klamotten ihm gegenüber stehe. Sein eines Auge sieht schon besser aus als gestern, genau wie die Wunde an seiner Schläfe und Unterlippe, das fällt mir jetzt erst auf.
"Hey", meint er und nimmt mich in den Arm. Erst bin ich zu überrascht um die Umarmung zu erwidern, doch dann lasse ich meinen Kopf gegen seine Schulter sacken. Es tut irgendwie gut, dass Seb hier ist, auch wenn ich wünschte, dass all das gar nicht passiert wäre.
"Es geht schon wieder, keine Sorge", beruhige ich ihn als er mich wieder loslässt, doch er wirkt nicht wirklich überzeugt. Wahrscheinlich sind meine Augen extrem rot, oder ich habe Augenringe, oder beides.
"Du siehst nicht danach aus, wenn ich ehrlich bin", bestätigt er meine Vermutung und ich zucke mit den Schultern.
"Du auch nicht, Großer", erwidere ich, woraufhin er lachen muss. Schmunzelnd schließe ich die Haustür.
"Also, was ist mit Jims Handy?", erkundige ich mich, während Seb seine Jacke auszieht und an die Garderobe hängt. Er holt das Handy von Jim, das er in eine durchsichtige Plastiktüte gepackt hat, aus seiner Jackentasche und gibt es mir.
"Soweit ich das beurteilen kann, ist es wirklich das Handy von Jim. Sie haben es allerdings gründlich gesäubert, und das meine ich ernst. Nicht ein Fingerabdruck ist darauf zu finden, aber auch keine Nachrichten oder Kontakte mehr. Das Handy ist komplett leer, bis auf eine Datei in den Notizen. Ich habe sie mir noch nicht angeschaut, damit wollte ich warten bis du dabei bist."
Tatsächlich entdecke ich auf der Oberfläche des Handys weder Staub noch irgendwelche Fingerabdrücke, es ist schon fast als wäre das Handy brandneu. Nur ein paar kleinere Macken verraten, dass es mal jemandem gehört hat und öfters benutzt wurde. Durch die Folie der Tüte hindurch schalte ich es an, doch anders als erwartet muss ich keinen Code eingeben um ins Hauptmenü zu kommen, sondern gelange sofort zum Startbildschirm. Sebastian hat Recht, alle Ordner sind leer, es gibt keine Nachrichten, nicht einmal im Kalender.
"Dann wollen wir uns doch Mal die Notiz anschauen", murmele ich und sofort steht der Sniper so hinter mir, dass er mir über die Schulter schauen kann, während ich die Notizen aufrufe. Gespannt wähle ich die einzige Datei aus, und ein Text erscheint auf dem Bildschirm.

Gut gemacht, wirklich sehr gut. Doch weiter werdet ihr nicht kommen. Ich weiß wer ihr seid, ich weiß was euch Angst macht. Ich sehe euch.

"Das wars? Mehr ist da nicht?", fragt Seb nach und ich nicke langsam. Ein kalter Schauer breitet sich auf meiner Haut aus, die Härchen an meinen Armen stehen zu Berge, so sehr gruselt mich dieser Text.
"Also sollten wir das Handy finden und der Entführer spielt nur mit uns", fährt er fort, offensichtlich wütend über diese paar Zeilen.
"Wer auch immer das ist, er oder sie weiß genau, wie man jemandem Angst macht. Zumindest mir", sage ich leise und gebe Seb das Handy.

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