10. Der Taxifahrer
Zwei Tage später wache ich mitten in der Nacht auf, geweckt durch einen plötzlichen Ausruf von Jim. Dieser sitzt aufrecht im Bett neben mir und scheint gerade aus einem Albtraum hochgeschreckt zu sein. Sein Atem geht keuchend und ich spüre dass er leicht zittert.
"Jim?", frage ich ihn besorgt und setze mich auch hin um ihm eine Hand auf den Rücken zu legen. Er zuckt kurz zusammen und ich merke dass er schweißgebadet ist.
"Was ist passiert?"
"Nichts. Es ist nichts", meint Jim keuchend, aber ich weiß dass er mir nicht die Wahrheit sagt.
"Du kannst es mir ruhig sagen", versuche ich ihn zu ermutigen und streiche ihm beruhigend über den Rücken.
"Nein, es ist schon okay. War nur ein Albtraum, nichts weiter", wehrt mein Mann wieder ab, meidet aber meinen Blick.
"Ich geh kurz frische Luft schnappen."
Mit diesen Worten schlägt er die Bettdecke zurück und steht auf um mich alleine im Zimmer zurückzulassen. Irgendwie fühlt es sich so an als würde er vor mir und meinen Fragen fliehen, so als wüsste er dass ich ihn durchschaue und bemerke dass er lügt.
Besorgt lege ich mich wieder hin, und entscheide in zehn Minuten runterzugehen, es sei denn er kommt vorher wieder. Die letzten zwei Tage lang war noch alles gut, Jim war zwar manchmal noch irgendwie komisch, aber es hat sich nicht mehr explizit gezeigt, und wir haben ein paar Dinge gemeinsam unternommen. Sogar zu einem Kinobesuch konnte ich ihn überreden, und das ist normalerweise extrem schwer.
Nach wie vor frage ich mich was Jim erlebt und gesehen haben könnte, dass es ihn so durcheinander bringt und er sich so merkwürdig verhält. Und jetzt auch noch dieser Albtraum, wegen dem er fast schon flieht...
Irgendetwas stimmt nicht.
Nach etwa zehn Minuten stehe ich auch auf und gehe leise nach unten durch die kühle Wohnung ins Wohnzimmer. Denn dort steht mein Mann, als kaum auszumachende dunkle Silhouette vor dem Fenster, und rührt sich nicht. Die Terrassentür ist ein wenig geöffnet und lässt kalte, frische Luft sowie leise nächtliche Geräusche herein.
Wortlos bleibe ich neben Jim stehen und lege sacht einen Arm um ihn um ihm Trost zu spenden, obwohl ich nicht weiß ob er den braucht. Er soll einfach wissen dass ich für ihn da bin.
Er dreht den Kopf zu mir und ich sehe dass ihm eine einzelne Träne über die Wange gerollt ist. Ich hebe den anderen Arm und wische die Träne sanft mit dem Daumen weg, dann gebe ich ihm einen behutsamen Kuss.
"Ich bin da", flüstere ich und er lehnt seine Stirn gegen meine.
Sonst sagt keiner von uns etwas und wir bleiben eine Weile lang so stehen, bis es zu kalt wird. Ich schließe mit einer Hand die Tür und verschränke danach meiner Finger mit Jims, um ihn sanft wieder zur Treppe zu ziehen. Er lässt mich machen und folgt mir wieder nach oben und ins Bett. Allerdings ist er seltsam still, und als er sich unter der Bettdecke an mich schmiegt merke ich dass er tatsächlich Trost braucht, es sich aber nicht richtig traut zuzugeben. Erst als ich mich an ihn kuschele gibt er dem Impuls nach und zieht mich enger an sich.
Schließlich schläft er wieder ein, ruhig und friedlich, lediglich sein Griff um meine Taille verrät dass er noch immer angespannt ist. Und auch ich gleite erneut in tiefen Schlaf, mit dem Geruch von Jim in der Nase.
***
In den Wochen nach Silvester bemerke ich noch ein paar Mal dass Jim unruhig schläft und auch Albträume hat, aber mit der Zeit wird es besser, bis es irgendwann ganz aufhört. Ich habe keine Ahnung was er träumt oder was diese Träume hervorgerufen hat, aber ich bin froh dass er wieder ruhig schlafen kann. Allerdings wird sein Interesse an diesem Sherlock Holmes sobald er im neuen Jahr zur Arbeit geht noch gesteigert und ich finde schon bald überall Zettel mit seinem Namen im Haus. Anfangs ging es noch, doch mittlerweile grenzt es schon an Besessenheit und das macht mir Sorgen. Vorallem wenn Jim bis spät abends am Laptop sitzt und was-auch-immer macht, oder murmelnd an seinem Handy ist, ohne mich wahrzunehmen.
Und als er eines Nachmittags nur noch davon redet, wie Sherlock einen neuen, komplizierteren Fall gelöst hat wird mir klar, dass er so schnell nicht aufhören wird sich für diesen Consulting Detective zu 'interessieren'.
Es ist morgens bevor ich zur Arbeit muss, als Jim zu mir ins Bad kommt und mich von hinten umarmt. Wir beide müssen uns noch fertig machen, nur deswegen macht er das, er hätte niemals einen seiner Westwood-Anzüge zerknittert.
"Versprichst du mir etwas?", fragt er mich an meinem Ohr und ich schaue ihn über den Spiegel hinweg an, wie er mit zerzausten Haaren hinter mir steht.
"Kommt drauf an was es ist."
"Vermeide es in nächster Zeit Taxi zu fahren, okay?", bittet Jim mich und ich runzele belustigt die Stirn.
"Ähm, in Ordnung... aber warum denn?"
"Ich spiele Sponsor", antwortet er nur, dann lässt er mich alleine damit ich duschen kann.
Noch am selben Tag bekomme ich mit was er damit meint, allerdings bekomme ich erst nur von Hannah, einer neuen Kollegin, einen Zeitungsartikel über einen Selbstmord vorgelesen, auch wenn mich dieser nur halb interessiert. Später erfahre ich von Jim dass ein Taxifahrer Menschen dazu bringt mit ihm ein Spiel zu spielen, bei dem es ein Fläschchen mit tödlichen und eins mit harmlosen Pillen gibt und jeder von ihnen eins davon wählt. Für jedes Opfer das der Taxifahrer überlebt bekommt er Geld von Jim auf das Konto seiner Kinder überwiesen.
"Ich mag nur die Art wie er tötet, die ist so kreativ. Wirklich, einen Menschen dazu zu bewegen sich selbst umbringen zu wollen und dann per Zufall zu überleben, das ist schon bemerkenswert. Es hat einen gewissen Nervenkitzel", erklärt Jim es mir und ich schwanke zwischen Entsetzen und einer seltsamen Art von Faszination.
"Ich verstehe was du meinst", sage ich schließlich und Jim lächelt. Es gefällt ihm wenn ich so reagiere.
***
Drei Monate nachdem die 'Selbstmorde' angefangen haben, komme ich nach Hause und finde einen aufgebrachten Jim vor, der wild gestikulierend im Wohnzimmer auf und ab läuft, während er anscheinend mit einem seiner Männer telefoniert. Ich warte, nachdem ich meinen Mantel ausgezogen und aufgehangen habe, bis er aufgelegt hat und mache mit einem leichten Winken auf mich aufmerksam.
"Was ist denn los?", erkundige ich mich und Jim fährt sich mit einer Hand durch die schon zerzausten Haare.
"Nichts besonderes, ich habe nur erfahren dass Sherlock Holmes den Fall mit dem Taxifahrer gelöst hat, und dieser Dummkopf ihm meinen Namen verraten hat. Als ob der nicht ein bisschen Schmerz aushalten kann, aber nein, er knickt sofort ein wie ein jaulender Hund!", regt er sich auf und bringt mich durch seine sich verändernde Stimmlage zum grinsen. Wenn er sich aufregt, springt seine Stimme nach oben und er klingt einfach nur lustig, außer wenn er wirklich wütend ist. Dann ist er überhaupt nicht lustig.
"Und wieso war er verletzt?", frage ich nach und überlege ob ich versuchen soll Jim zu umarmen.
"John Hamish Watson, Sherlock's neuer Mitbewohner und ehemaliger Militärarzt hat den Fahrer angeschossen um Sherlock zu retten."
"Hamish?", frage ich belustigt nach und muss direkt an Katie's Vater denken, der nun wirklich gar nichts von einem ehemaligen Soldaten hat. Jim schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an.
"Ja, Hamish. Und danke dass du mich lustig findest."
Er zieht einen Schmollmund und ich gehe lachend auf ihn zu.
"Ich finde nicht dich lustig, sondern die Tatsache dass du dich so niedlich aufregst."
"Niedlich? Ich und niedlich?", protestiert er schmunzelnd und lässt es zu dass ich ihm einen Kuss gebe.
"Meistens schon", antworte ich und er lacht während er mich in den Arm nimmt.
"Hallo übrigens", murmelt er an meinem Ohr und ich erwidere die Umarmung.
"Dir auch hallo."
Nachdem wir uns voneinander gelöst haben entscheiden wir uns etwas zu essen und Jim zieht sich sein Jackett aus. Außerdem lockert er seine Krawatte und krempelt die Ärmel hoch um mir beim Essen machen zu helfen, wodurch er gleich weniger angespannt aussieht.
"Ich gehe gleich noch hoch und arbeite etwas, ich wollte nur dass du Bescheid weißt", informiert er mich nach dem Essen und gibt mir einen Kuss auf die Wange bevor der die Küche verlässt.
"Ach und Seb wollte dass du anrufst. Sein Handy hat die letzte Operation nicht ganz überstanden, weswegen er ein neues hat und er braucht deine Nummer wieder. Seine neue Nummer steht auf einem Zettel in meiner rechten Manteltasche", ruft Jim mir auf halben Weg nach oben zu und ich lege das Handtuch, mit dem ich gerade noch meine Hände abgetrocknet habe auf Seite um mein Handy aus der Hosentasche zu nehmen.
"Danke Jim", rufe ich noch zurück, dann suche ich in seiner Manteltasche nach besagtem Zettel. Schnell habe ich ihn gefunden und lösche Sebs alte Nummer um die neue einzugeben. Danach rufe ich ihn direkt an, während Jim oben im Arbeitszimmer ist.
"Hallo?", fragt Sebs Stimme am anderen Ende der Leitung als er abgenommen hat.
"Hey Seb, ich bins Melody. Jim hat mir gesagt dass du dein Handy geschrottet hast und ich dich anrufen soll."
"Ha, geschrottet ist gut. Erst ein Bad in der Themse, dann von einem Auto überfahren. Ja, ich glaube das ist schrott", erzählt er lachend und ich kann mir nur zu bildlich vorstellen was dem Handy widerfahren ist.
"Ja gut, das ist mir noch nie passiert. Wie geht's dir? Irgendwelche Neuigkeiten?"
"Soweit ganz gut, aber Neuigkeiten kann ich dir leider nicht verkünden. Außer dass ich diesen John Watson von früher her kenne."
"Was? Der neue Mitbewohner von diesem Sherlock für den Jim sich in letzter Zeit brennend interessiert?"
"Brennend ist das richtige Wort."
"Was war da eigentlich, ich meine, was hat er gemacht oder gesehen?"
"Mel, ich darf dir nichts sagen, sonst werde ich von Jim persönlich massakriert, und das weißt du. Also hör bitte auf zu fragen, okay?"
"Ist ja schon gut, ich frag nicht mehr."
Sobald ich herausgefunden hatte dass Seb an diesem einen Tag dabei war und Jim wohin-auch-immer begleitet hat, habe ich versucht aus ihm herauszukriegen wohin sie gefahren sind und was dort passiert ist. Doch wie gerade eben blockt Seb jeden Versuch meinerseits ab und reagiert manchmal sogar verärgert wenn ich das tue.
"Und was machst du so?", lenke ich vom Thema ab und so reden wir noch eine Weile, bis ich irgendwann gähne und auch Seb sich müde anhört.
"Ich scheuche dann mal Jim ins Bett", meine ich und Seb lacht leise.
"Wieso, wo ist er denn?"
"In seinem Lieblingszimmer, bei der Arbeit", antworte ich und mache mich auf den Weg nach oben zu meinem Mann.
"Dann ist es schlimmer als ich dachte mit diesem Sherlock. Jim ist wie besessen von ihm, ständig will er Updates."
"Ja, das merke ich auch so langsam. Naja Seb, ich bin müde und ich glaube du auch."
"Mhm, und wie. Gute Nacht und grüß Jim von mir."
"Klar, mach ich. Gute Nacht."
Dann lege ich auf und schalte das Handy aus.
Mein Ehemann sitzt am Schreibtisch vor dem Laptop und schaut mich müde an als ich im Türrahmen auftauche.
"Hey du. Kommst du ins Bett?"
"Liebend gerne", murmelt Jim und reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht, dann schaltet er den Laptop aus und steht auf. Während er sich streckt muss er gähnen und ich lasse mich fast davon anstecken.
"Ich soll dich übrigens von Sebastian grüßen."
"Hm, okay", antwortet Jim, und wir machen uns für die Nacht fertig.
~~~
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top