$ 21. Erzwungene Wahrheit
Es ist etwa einen Monat her dass ich Katie von meiner Vergangenheit erzählt habe, und seitdem weicht sie mir kaum noch von der Seite. Sie muntert mich auf, bringt mich zum lächeln und bemüht sich eine gute Freundin zu sein, was ihr aber einfach so gelingt. In den Pausen gehen wir gemeinsam über den Schulhof, es sei denn James und ich müssen nochmal etwas wegen unseres Vortrags besprechen. Mit ihm kann ich schon viel besser sprechen als am Anfang, und auch er taut mit jedem Gespräch ein winziges Bisschen mehr mir gegenüber auf. Unser Vortrag soll als letztes drankommen, deswegen haben wir noch ein bisschen Schonfrist. Allerdings denke ich dass wir auf jeden Fall bereit sind, auch wenn der Gedanke daran, dass ich vor der ganzen Klasse reden muss, mir leichte Übelkeit beschert.
Jetzt aber haben wir Englisch bei Herrn Hill, einem freundlichen kleinen Mann mit einer Halbglatze und einer runden Brille auf der Nase, der immer mit einer braunen Tasche herumläuft. Eigentlich mag ich ihn, aber heute haben wir die Information bekommen, dass wir ein Buch lesen werden, und ich habe noch nie ein gutes Buch in der Schule gelesen. Zu allem Überfluss ist Katie heute auch noch krank, und ich sitze alleine auf meinem Platz, ohne jemanden neben mir.
"Wovon handelt denn das Buch?", fragt Amelie, die eine Reihe vor mir sitzt, nach und Herr Hill schiebt seine Brille auf der Nase nach oben.
"Von einem jungen Mann und einem Mädchen, die beide in sehr... unterschiedlichen Verhältnissen aufwachsen", antwortet er vage und ich verdrehe innerlich die Augen. Das kann ja heiter werden.
"Ist das das mit der Vergewaltigung?", fragt Carl ohne sich zu melden und ich zucke unmerklich zusammen. Keine Chance dass ich das Buch dann lese.
"Ähm, nun ja, das stimmt schon. Hast du es schon mal gelesen Carl?", erkundigt Herr Hill sich und der Junge lehnt sich grinsend in seinem Stuhl zurück. Kurz huscht sein Blick zu mir und ich runzele leicht die Stirn. Was soll denn das jetzt?
"Nein, aber ich glaube wir können Melody sehr gut fragen."
Augenblicklich versteife ich mich und starre erschrocken Carl an.
"Melody, hast du das Buch schon gelesen?", wendet der Lehrer sich an mich, aber bevor ich den Kopf schütteln kann, unterbricht Carl uns.
"Das meine ich gar nicht, ich meine sie weiß was das heißt. Sie könnte uns ja einen Erfahrungsbericht oder sowas schreiben."
Ich schnappe nach Luft während um mich herum Getuschel ausbricht. Panik steigt in mir auf als ich die Blicke auf mir spüre und sehe wie sich alle zu mir umdrehen, meine Hände werden kalt und ich merke wie ich schlechter Luft bekomme.
Hat Carl etwa mitbekommen worüber Katie und ich gesprochen haben?
Das Tuscheln wird nun lauter und mit ihr steigt auch meine Panik. Erinnerungen kommen wieder hoch und ich muss ein Zittern unterdrücken, sonst breche ich wahrscheinlich ganz zusammen.
"Wurdest du etwa vergewaltigt?"
Die Frage bringt das Fass zum überlaufen, denn sie wird nun in der ganzen Klasse wiederholt, und mir beginnen Tränen über die Wangen zu laufen. Plötzlich halte ich es nicht mehr aus, springe auf, und stürme aus dem Klassenraum. Es ist mir egal dass Herr Hill versucht mich aufzuhalten und zu beruhigen, es ist mir egal dass nun alle wissen dass es wahr ist, ich muss einfach hier weg.
Ich renne durch das gesamte Schulgebäude und hinaus auf den Hof, von dort aus irgendwohin wo ich alleine bin.
Irgendwann, ich bin außer Sicht des Hauptgebäudes irgendwo in den Büschen, stolpere ich und lande hart auf dem Boden, was mich unwillkürlich wieder in die Realität reißt. Anstatt wieder aufzustehen bleibe ich einfach hier liegen und lasse meine Verzweiflung in Form von Tränen fließen, ungeachtet der Tatsache dass ich auf dem Boden liege.
Die Angst dass alles von vorne anfangen wird, die Beleidigungen, die Drohungen und schließlich die Gewalt, lässt mich zittern und ich schaffe es nur sehr langsam mich soweit zu beruhigen dass ich mich aufsetzen kann.
Es dauert eine Weile bis meine Tränen wieder versiegen, aber danach kommt die Verzweiflung und Angst mit voller Wucht zurück und ich kauere mich zusammen. Am liebsten will ich einfach nur verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen und ohne dass mich irgendjemand vermisst.
Doch plötzlich knackt ein Ast in der Nähe und ich höre wie jemand zu mir kommt. Sofort schaue ich auf und sehe James, in einigen Metern Entfernung, vor mir stehen, mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Wie immer trägt er ein weißes Hemd und eine schwarze Hose, aber seine Haare sind heute unordentlich und wirr. Langsam geht er auf mich zu, da rappele ich mich auf und weiche einen Schritt zurück.
"Nicht. Bleib weg", sage ich leise und er bleibt stehen, geht aber nicht weg. Stattdessen schüttelt er leicht den Kopf.
"Ich habe Herrn Hill gesagt dass ich nach dir sehe, nur deswegen rennen hier noch keine Lehrer auf der Suche nach dir rum."
Ich schlucke und senke den Blick, denn es ist mir unangenehm wie James mich ansieht. In seinen Augen liegt verhaltene Neugier, aber auch Mitleid und... Verständnis.
Eine Weile lang sage ich nichts und schaue nur auf den Boden vor mich, da ergreift James das Wort.
"Ist es wahr?", fragt er vorsichtig und ich verkrampfe. Unschlüssig harre ich aus, doch schließlich nicke ich leicht, aber nicht ohne kaum hörbar zu schluchzen. Es bringt nichts James noch anzulügen, besser stelle ich die Sache klar. Auch wenn es mich fast in den Wahnsinn treibt.
"Deswegen bin ich hier", sage ich leise und schaue James unsicher an.
"War es ein Lehrer?", fragt er ebenso leise und ich schüttele meinen Kopf.
"Umgezogen sind wir deswegen weil..."
Meine Stimme bricht und ich schnappe unwillkürlich nach Luft als ich das Gefühl habe wieder nicht richtig atmen zu können. Schnell beruhige ich mich wieder, während James geduldig wartet.
"In der Schule haben einige es für witzig gehalten mich deswegen zu hänseln und zu mobben. Bis es eines Tages ausartete."
Mühsam unterdrücke ich ein Schluchzen.
"Man hat mich... verprügelt. Nach mehreren Wochen Krankenhaus konnte ich wieder nach Hause, und danach sind wir umgezogen", beende ich leise meine Erklärung und schließe die Augen um die Tränen zurückzuhalten. James befindet sich immernoch an Ort und stelle, doch als ich so verletzt dastehe bewegt er sich langsam auf mich zu. Erschrocken reiße ich die Augen wieder auf und schaue ihn direkt an, da legt er mir sanft eine Hand auf die Schulter. Ich zucke zusammen, aber als ich merke dass James nichts weiter macht, halte ich still und schaue ihn nur an. In seinen dunkelbraunen Augen sehe ich mein Spiegelbild und seine Lippen formen ein kleines, trauriges Lächeln.
"Es tut mir furchtbar leid was dir passiert ist", wispert er, dann gleitet sein Blick in weite Ferne und er scheint zu überlegen. Mach kurzem Zögern sieht er mich wieder an und schluckt.
"Du kannst mich Jim nennen."
Es scheint ihn Überwindung gekostet zu haben mir dies zu erlauben, aber er nimmt das Angebot nicht zurück.
"Jim?", frage ich mit schwacher Stimme nach und er nickt leicht.
"So hat mich meine Mutter früher genannt, bevor sie... gestorben ist. Ich habe es nie wieder jemandem erlaubt."
Er schaut mich ernst an und ich erkenne wie viel es ihn bedeutet mir das zu verraten. Das ist seine Art sich dafür zu bedanken dass ich ihm die Wahrheit gesagt habe.
"Okay, Jim", antworte ich schließlich und er lächelt leicht. Seine Hand rutscht von meiner Schulter und er schaut kurz zu Boden.
"Wir sollten wieder rein gehen", meint er nach einer Weile und hebt fragend eine Augenbraue. Unbehaglich schüttle ich den Kopf und senke den Blick.
"Ich will nicht. Alle werden reden, und mich fragen was jetzt los war... es ist schon schwer genug dir die Wahrheit zu sagen, verstehst du?"
James - ich meine Jim - nickt langsam, aber ich sehe ihm schon an dass er widersprechen will, doch da ruft jemand anderes meinen Namen. Es ist die Stimme von Miss Rufus und sie kommt langsam näher. Jim und ich gehen aus den Büschen raus und sehen die Lehrerin, die besorgt zu uns kommt als sie uns entdeckt.
"Melody, James, da seid ihr ja! Herr Hill hat mir erzählt was passiert ist und auch dass ihr hier irgendwo seid."
Sie wirkt erleichtert uns gefunden zu haben und lächelt mich sanft an als sie meine Furcht bemerkt.
"Du kannst wieder hereinkommen, ich habe mit der Klasse geredet und Carl ist wegen schlechtem Benehmen und Schikane beim Rektor. Ich denke, die Reaktionen werden anders ausfallen als du befürchtest", beruhigt sie mich und berührt mich am Arm. Unsicher schaue ich sie an und nicke leicht.
"Na gut."
Gemeinsam mit Jim und gefolgt von Miss Rufus gehen wir wieder hinein und zum Klassenraum.
"Danke Jim", sage ich leise zu dem Jungen und er lächelt leicht.
"Gern geschehen."
Dann betreten wir die Klasse, wo Herr Hill gerade versucht Unterricht zu machen und ich gehe zu meinem Platz zurück. Miss Rufus wechselt kurz ein Wort mit unserem Englisch Lehrer und meine Mitschüler schauen mich teils neugierig, teils mitfühlend an. Der Platz von Carl ist leer.
Bevor Jim an mir vorbeigeht, beugt er sich leicht vor.
"Soll ich mich zu dir setzen?"
Ich zögere eine Weile, doch dann nicke ich. Dann starren mich wenigstens nicht alle an.
Kurzerhand setzt er sich zu mir in die Reihe, da werde ich von hinten angesprochen.
"Hey, Melody."
Ich drehe mich um und schaue Natascha, das Mädchen hinter mir, fragend an. Sie lächelt freundlich, was ihre blauen Augen zum strahlen bringt und ihre blonden Haare fallen ihr zu einem Zopf geflochten über die Schulter nach vorne.
"Ist echt scheiße was Carl da vorhin abgezogen hat, das wollte ich nur gesagt haben."
Zögernd erwidere ich ihr Lächeln.
"Danke."
Da erhebt Herr Hill vorne die Stimme und das leise Tuscheln der Klasse verstummt wieder. Er macht mit dem Unterricht weiter während ich versuche zu begreifen was hier gerade passiert ist. Meine Klasse beginnt sich mir zuzuwenden.
Ein kleines Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus und ich fühle mich besser als noch vor einer halben Stunde. Selbst Ja- Jim neben mir ändert daran nichts, im Gegenteil: ich fühle mich sogar etwas sicherer.
Katie wird toben wenn sie all das erfährt.
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I love it *^*
Und da sind wir wieder :D Ach ja, danke an alle die das hier lesen, und auch an all die Geisterleser die Moriarty In Love konstant auf #990 halten und die reads hoch in Richtung 7.000 treiben (momentan 6,85K) ♥ Ich hab euch lieb :*
Hope you liked it ^^
Bye
PS: Ich brauche noch immer Ideen von euch .-.
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