29. Morganas Geschichte
Der Abend verging wie im Flug. Lilian wusste nicht, was genau das zwischen ihr und Melissa war - wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch nicht wissen. Sie mochte die Unkompliziertheit und Einfachheit, die die Welt in Mels Gegenwart annahm. Dennoch gab es etwas, das sie erledigen musste.
Der Stein in ihrer Hand fühlte sich schwer an, schwerer als er sein sollte. Es war, als könne sie seine Macht fühlen, und nicht sein materielles Gewicht. Die Rune auf seiner Oberfläche pulsierte immer noch rötlich-golden, wie das Drachenfeuer, das sie aktiviert hatte.
Nach den Ereignissen am Vorabend hatte sie das Gefühl, dass sie den Mut aufbringen könnte, den Stein erneut zu untersuchen. Doch war da immer noch die Tatsache, dass sich dieselbe Rune in das Foto von ihrer Mutter gebrannt hatte, die nun hier in den Stein gemeißelt vor ihr lag? Sollte sie das bestärken, oder sie von ihrem Weg abhalten?
Müde schüttelte sie ihren Kopf. Für diese Gedanken war es zu früh am Morgen. Sie würde wohl einfach den Plan durchziehen, denn jeder andere Weg würde sie wohl noch mehr ins Chaos manövrieren. Und nach dieser Sache würde sie aufhören mit den Lügen, egal ob gegenüber Mel oder sich selbst gegenüber.
Du verhältst dich wie ein Raucher, der sich schwört, noch eine letzte Packung leer zu machen.
„Und wenn schon", brummte Lilian, schloss ihre Hand um den kieselförmigen Stein und erhob sich aus dem Bett. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob das nun Phineas Stimme war oder eines der Flüstern, die in ihrem Kopf hausten. Melissa schlief noch – und hatte vermutlich einen Kater. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass man derartig tief schlafen konnte, ohne dass Alkohol im Spiel war. Das Beste war also, sie einfach schlafen zu lassen.
Leise schlich sie hinaus und griff mit der Hand, die nicht um den Stein gelegt war, nach ihrem Zauberstab. Mit einigen Schlenkern hatte sie ihren Schlafanzug durch eine Schuluniform ersetzt und das leere Buch, das sie von Nott bekommen hatte, flog in ihre Hand.
Sie hatte sich möglichst leise in die Bibliothek begeben. Die Stille auf den Gängen war angenehm, genau wie die leichte Herbstbrise, die durch geöffnete Fenster und Mauerspalten herein wehte. Der Wind gab ihr das Gefühl von Freiheit, ein Gefühl, das sie nun wirklich gebrauchen konnte. Denn wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst vor dem, was gleich passieren würde.
Langsam drückte sie die großen Flügeltüren des Saals auf. Madam Pince begrüßte sie sofort mit einem leisen „Pssst!", woraufhin Lilian nur entnervt nickte. Madam Pince schien jedoch zufrieden zu sein und steckte ihre Nase wieder in ein dunkelgrünes, dünnes Buch.
Nach kurzem Umsehen hatte sie den Platz gefunden, den sie gesucht hatte. Ein kleiner, quadratischer Holztisch an einem Fenster. Die Sonne strahlte verschlafen durch das Fenster und malte gelbliche Flecken auf die glatte Oberfläche. Von den Lichtstrahlen, die ihr plötzlich ins Gesicht schienen, schlich sich ein zaghaftes Gähnen in ihr Gesicht, und beinahe augenblicklich sehnte sie sich nach der wohligen Wärme ihrer Bettdecke. Aber das hier hatte Vorrang – also setzte sie sich auf den blauen, schmalen Sessel vor den Tisch und gegenüber des Fensters. Der Sessel war bereits etwas durchgesessen, doch das machte nichts.
Lilian schlug den dicken Einband der angeblichen Sagensammlung auf und blätterte bis zu dem Kapitel mit der Artussage. Wie erwartet waren die Seiten leer – nur die verschnörkelte und mit feinen Zeichen verzierten Seitenzahlen. Sicher, es wäre einfach gewesen, an die Muggel-Ausgabe der Artussage zu gelangen, doch Muggel dachten auch, Feen wären süße, kleine, glitzernde Wesen. Und zudem, wenn jemand versuchte, zu verbergen was in diesem Kapitel stand, musste es Bedeutung haben.
Sie strich mit den Fingerspitzen über die Einkerbungen im Runenstein. Feine Linien begannen, um die steinerne Oberfläche herum zu entstehen, in dem sanften Silberton, den sie nun bereits einige Male gesehen hatte. Uralte Magie - fast demselben Muster folgend, wie auch die Magie, die das leere Buch umgab.
Es musste also eine Verbindung geben.
Die Frage war allerdings, wie gut diese Verbindung für Lilian war. Denn sowohl den Runenstein, als auch das Buch hatte sie von Elizabeth Nott. Sorgenvoll zog sie die Augenbrauen zusammen.
Sie starrte angestrengt auf die in der Luft tanzenden Linien, dann auf die Muster entlang der Buchseiten.
Sie rieb sich die Augen, das konnte doch wohl nicht wahr sein. Sie hatte auf die Bilder entlang der kleinen, schwarzen Zahlen geblickt, und erst jetzt war ihr aufgefallen, dass die Linien eine Art Pfeilmuster ergaben. Eine verdammte Gebrauchsanweisung.
Sie fuhr die Linien mit dem Finger nach, doch nichts geschah. Sollte überhaupt etwas geschehen? Was, wenn sie einen Hinweis sah, wo keiner war?
Ein siedendheißes Brennen in der rechten Hand ließ sie zusammenzucken, für einen kurzen Moment jagte Schmerz durch ihre Muskeln und ihre Finger lösten sich von dem Stein. Er fiel auf das Buch vor ihr. Die Rune leuchtete silbern - genau wie die Verzierungen auf den Buchseiten.
Ihr kam eine Idee.
Lilian hielt den Stein mit einem knappen Zentimeter Abstand über die Buchseite und führte ihn in dem vorgegebenen Muster darüber – nach unten, nach rechts, nach unten, nach links. Eine leuchtende, gelbliche Linie bildete sich im Buch, breitete sich aus und hinterließ Buchstaben auf dem Pergament. Als würde Tinte sich langsam auf dem Blatt ausbreiten.
Eilig begann Lilian, zu lesen. Die Buchstaben sahen aus, als wären sie handgemalt, verschnörkelt und schwierig zu entziffern, die Tinte war an manchen Stellen etwas blasser als an anderen.
Wie ging Merlin in unsere Geschichte ein?
Die Geschichte, die sich zwischen Merlin, Artus und Morgana ereignete, ist ein Geheimnis, das wohl nie zur Gänze gelüftet werden wird. Doch Ausschnitte sind uns bekannt.
Es begann lange vor der Geburt von Artus, als Morgana und Merlin noch zur Schule gingen. Merlin wurde ins Haus Slytherin eingeordnet – Morgana, damals noch Morgan Lefay, kam nach Ravenclaw. Sie hatten schnell miteinander zu tun, und es bildete sich eine tiefe Verbundenheit zwischen den beiden talentierten Magiern. Doch diese Freundschaft sollte nie mehr als das werden, zumindest nicht für Merlin, der sich in seinem fünften Schuljahr in die junge Nimuë verlieben sollte. Morgan ihrerseits verliebte sich in Merlin, und als er sie das erste Mal abwies, entwickelte sich der erste Riss in ihrer durch zahlreiche Experimente instabilen Seele.
Doch das war erst der Anfang.
Ihre Mutter heiratete aufgrund dem Drängen ihrer Familie den derzeitigen König Camelots, und während alle anderen ihr siebtes Schuljahr in Hogwarts abschlossen, musste sie die Königstochter spielen, musste Morgan Pendragon werden und ihre Identität verstecken. Ihr wirklicher Vater war bereits seit Jahren tot, und so schlug sie sich durch das Leben am Hofe, durch ein Leben, in dem ihre Magie keinen Platz hatte. Sogar mit dem Tod bestraft werden konnte.
Sie war eine Hexe in einer Welt, gesteuert von Männern und Schwertklingen. Und sie wollte um jeden Preis ihre Magie loswerden – also experimentierte sie weiter, um das zu haben, das alle anderen auch hatten: Normalität. Während Merlin wegen seines magischen Talents als Hofmagier und Weiser immer beliebter wurde, begannen die Bediensteten, Morgan zu fürchten – als böse Hexe, die sich mehr für Bücher und Kräuter interessierte als für die Suche nach einem geeigneten Ehemann.
Angetrieben vom Hass, der ihr entgegen schlug, machte sie weiter. Ihr Durst nach Wissen war unersättlich, und dafür brachte sie auch Leben in Gefahr. Als eins ihrer Experimente ihrer Umwelt die Energie entzog, tötete sie damit beinahe ein Dienstmädchen – und Merlin war gezwungen, einzuschreiten. Unabhängig davon, ob sie einst Freunde waren, er musste etwas tun. Und ehe sie sich versah, war sie plötzlich eine Verstoßene.
Die Wahrheit über die Geschichte von Morgan Lefay ist die, dass sie stets anders war. Und diese Andersartigkeit trieb sie in die Arme Avalons, wo sie von einem verlorenen Mädchen zu einer radikalen Hexe wurde, die nun zwar ihre Fähigkeiten akzeptiert hatte, jedoch der Meinung war, verstanden zu haben, dass nicht die Magie der Fehler war, sondern die Menschlichkeit. Schnell wandte sich jeder von ihr ab – Merlin, Nimuë, ihre Mutter und schließlich zuletzt auch ihre beste Freundin Elaine.
Betrogen und verraten zerbrach ihre Seele, und sie wurde zur ersten unsterblichen Hexe. Das macht sie zur Erfinderin der Horkruxe, auch wenn dieses schwarzmagische Verfahren erst Jahrhunderte später erforscht werden sollte und so für jeden Zauberer zugänglich wurde, der sich traute.
In den ersten Jahren nach ihrer offiziellen Verbannung nannte sie sich bloß Morgan Lefay, nahm also ihren Geburtsnamen an, nicht den, den man ihr in adligen Kreisen aufgezwungen hatte. Doch im Laufe der Zeitalter, in denen Morgan in England und Frankreich als junge Gelehrte, Zauberin oder böse Hexe auftrat, entwickelte sich die Geschichte von Morgan Lefay immer stetiger zur Sage um Morgana.
Bis sich eines Tages Merlin entschloss, Morganas gesetzlosem Treiben in der Menschenwelt ein Ende zu bereiten. Gemeinsam mit seiner Frau Nimuë sperrte er in einem sagenhaften Kampf Morgana ein, in einem Gefängnis unter dem Grund eines Sees. Er verdammte sie zu unendlicher Gefangenschaft, und die Welt feierte ihn dafür,
Doch Morgan verfluchte ihren alten Freund Merlin. Sie sann auf Rache.
Und so soll sich die Geschichte eines Tages wiederholen.
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