14. Die Erste Aufgabe
Phineas hatte sein Versprechen gehalten. Nachdem er dieses gewaltige Geheimnis enthüllt hatte, verschwand er aus ihrem Kopf und ließ sich nicht mehr blicken - und ließ sie allein mit den Tausenden Fragen, die dadurch aufgetaucht waren.
In der folgenden Nacht lag sie noch lange wach. Was Phineas sagte, ergab Sinn - und war gleichzeitig so unglaublich abstrus. Sie wollte ihm nicht glauben, einem dahergelaufenen Geist in ihrem Kopf, aber welche Möglichkeiten hatte sie? Seit Halloween spürte sie jederzeit die Dunkelheit in sich brodeln, die auf den richtigen Moment wartete um sich noch tiefer in Lilians Gedanken zu verankern.
Wäre es überhaupt möglich, dass sie eine Erbin Merlins war?
Welchen Grund auch immer Phineas hätte, sie anzulügen, sie konnte ihm nicht trauen. Doch war dort etwas in ihr, das ihr zuflüsterte, dass es logisch war. Die Blacks gehörten zu den wenigen Familien, die absoluten Wert darauf legten, dass man nach Slytherin kam - natürlich blieb Slytherin das Haus der Reinblüter, doch die meisten Familien akzeptierten Ravenclaw beinahe genauso sehr, und trotz all der Vorurteile gab es wohl keine andere Familie, die ihren Nachwuchs aus dem Stammbaum brannte, wenn er nach Gryffindor oder Hufflepuff eingeordnet wurde.
Doch die Blacks, nein, sie waren einfach zu stolz. Zu stolz auf ihren Vorfahr aus Slytherin, der in die Geschichte eingehen sollte als der mächtigste Zauberer nicht nur seiner Zeit, sondern aller Zeitalter. Eine Blutlinie, die sowohl Macht, als auch Verderben mit sich brachte, denn der Fluch - an dessen Existenz Lilian nach allem, was sie erlebt hatte, keine Sekunde zweifelte - pickte sich jede Generation eine junge Hexe heraus und trieb sie in den Wahnsinn mit der uralten Magie, der sie ausgesetzt wurde.
Die kleinen Bruchstücke fügten sich vor ihren Augen zu einem großen Ganzen zusammen, einem Rachefeldzug von Morgana. Jedes Detail, das Phineas ihr erzählt hatte, sie spürte, dass es wahr sein musste, auch, wenn sie es nicht glaubte.
Nicht glauben wollte, korrigierte Lilian sich in Gedanken. Sie weigerte sich. Denn wenn das alles wirklich geschehen wäre, hieße das, sie wäre ein Behältnis für eine uralte Macht, die sie von innen heraus zerstören will.
In diesem Moment war ihr der zusammengefaltete Zettel in ihrer Umhangtasche wieder eingefallen, den ihr Elizabeth gegeben hatte. Und wäre diese kleine Nachricht nicht gewesen, in fein säuberlicher Handschrift mit dunkelblauer Tinte geschrieben, hätte sie sich vielleicht nicht durch die nächsten Wochen mit nichts weiter als Unglaube und Verleugnung kämpfen können.
Wenn du die Wahrheit über dein Erbe erfahren willst, komm nach der Ersten Aufgabe des Trimagischen Turniers zu mir. Ich habe Antworten.
Das war die ach so geheime Nachricht, doch sie gab Lilian etwas zum Planen, etwas zum Nachdenken. Sie klammerte sich daran, dass sie Antworten finden würde, oder wenigstens Elizabeth endlich zur Rede stellen konnte, warum sie bereits vor Lilian selbst über den Bescheid gewusst zu haben schien. Sie wäre die einzige, die Lilian sagen könnte, dass das alles nur eine große Lüge war, die Phineas ihr aufgetischt hatte.
Als der 24. November kam, hatte sie immer noch nichts von Phineas gehört - vermutlich wollte er sich für ihr abweisendes Verhalten rächen, auch wenn es kindisch von ihm war, sie verstand es. Sie war furchtbar zu ihm gewesen, und nun zahlte er es ihr heim.
Der Tag begann wie jeder andere. Während des Frühstücks herrschte eine beinahe statisch aufgeladene Stille, bei der vor Aufregung kaum jemand etwas sagte. Alle schaufelten das Essen ungeduldig in ihre Mägen, während sie darauf warteten, dass der Zeiger der großen Uhr endlich verkündete, dass die Schüler sich in Richtung Quidditschfeld begeben sollten.
Lilian wusste nicht, was sie erwartet hatte, als sie gegen elf Uhr am Schauplatz des Ereignisses eintraf, doch sie fühlte sich überwältigt von den farbenfrohen Bannern, den bunten Zelten der Champions und Schiedsrichter, dem magischen Flimmern in der Luft. Man hatte innerhalb des Stadions das Gras wachsen lassen und die hohen Quidditchtore entfernt, stattdessen war eine Art riesiges Nest aufgebaut worden.
Sie blickte hinüber zu Melissa, die jedoch eng eingekeilt zwischen Miranda und einem ebenfalls honigblonden, spitzbübisch dreinblickenden Gryffindor-Jungen saß, der ihr etwas ähnelte. Lilian verzog die Lippen, erspähte dann allerdings ihren Pflegebruder Blaise, neben dem noch ein Platz frei war. Sie winkte den ihm und Draco zu und eilte hinüber, bevor sich jemand anderes den freien Sitzplatz unter den Nagel reißen konnte.
"Wo warst du?", wurde sie von Blaise begrüßt.
Sie verdrehte die Augen und erwiderte: "Auch schön dich zu sehen, Bruderherz."
Er schnaubte beleidigt, doch sie sah, wie seine Mundwinkel sich leicht hoben. Doch es war auch etwas Besorgtes in seinem Blick. "Du hast seit Monaten nicht mehr richtig mit mir gesprochen, das ist dir schon klar, oder? Natürlich, du musstest dich erst an all das hier gewöhnen, aber es ist ja jetzt nicht so, als hättest du viel zu tun", murrte er.
"Ich hatte wirklich viel um die Ohren", gab Lilian etwas bedrückt zu. Sie hatte in den letzten Monat tatsächlich kaum an ihren Bruder gedacht - ihren Bruder, der sich die letzten Jahre mehr um sie gekümmert hatte als sonst jemand. "Tut mir Leid", murmelte sie, und meinte es auch so.
Blaise verzog keine Miene, aber seine Stimmung schien sich deutlich aufzuhellen. Die Sache war noch nicht geklärt, aber fürs Erste zumindest zu den Akten gelegt.
"Ich habe mir Sorgen gemacht, okay? Ich dachte, du-", er unterbrach sich selbst und meinte stattdessen: "Ist ja auch egal, Lils. Komm und setz dich, das Spektakel fängt gleich an", sagte er mit einem Lächeln und klopfte auf den Platz neben sich.
„Schülerinnen und Schüler von Hogwarts!", begann der Schulleiter,
"Dies ist ein außerordentlicher Augenblick in der Geschichte von Hogwarts."
In Windeseile legte sich Stille über das Feld.
„In den letzten Jahren ist viel passiert, doch das soll uns nicht aufhalten, diesen großartigen, großartigen Tag zu feiern. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten treffen sich Beauxbatons, Durmstrang und Hogwarts wieder zum Anlass des Trimagischen Turniers und treten sich in diesem Wettstreit gegenüber.
Die erste Aufgabe steht nun kurz bevor, unsere Champions werden gerade vorbereitet, bis dahin allerdings möchte ich euch erklären, worum es eigentlich geht.
In dem Vorbereitungszelt dort drüben haben sie jeweils einen Gegner und eine Nummer per Zufall gewählt. Ihre Aufgabe wird es sein, dieses goldene Ei dort", er wies auf das seltsam reflektierende Objekt inmitten des Nestes, „zu ergattern. Wer jetzt allerdings denkt, die Champions müssten gegeneinander antreten, der liegt falsch: Stattdessen werden ihre Gegner Drachen sein."
Ein Raunen ging durch die Menge, aufgeregtes Flüstern begann sich auszubreiten wie ein Lauffeuer. Dumbledore schmunzelte, ehe er verkündetet:
„Und nun, lasst die erste Aufgabe-"
Weiter kam er nicht, denn der Schuss der Eröffnungskanone ertönte und ein verstecktes Gitter wurde hochgefahren. Mit einem Brüllen tauchte ein riesiger, blau-silberner Drache mittlerer Größe aus diesem Tor auf. Mittlere Größe, das bedeutete nicht, dass er vergleichsweise klein war, ganz im Gegenteil: Lilian hatte noch nie einen Drachen gesehen, und dieser hier war eindeutig eine ausgesprochen imposante Erscheinung. Seine Schuppen bildeten ein elegantes, schimmerndes Gesamtbild, dass sie ein wenig an die Musterung eines Fisches erinnerte, während sein Brüllen ihr eindeutig etwas Gänsehaut bereitete.
Cedric Diggory, ein Hufflepuff aus den Jahrgängen über ihr, war der Erste. Sowohl Blaise, als auch Draco jubeltem ihm zu, als er einen Stein in einen Hund verwandelte, um so den Drachen abzulenken. Eine Taktik, die nur kurz funktionierte. Als die Echse bemerkte, was Diggory vorhatte, dauerte es nicht lange, bis ein Feuerstrahl ihn traf und ein Raunen durch die Menge ging. Trotz einer Verbrennung im Gesicht schaffte er es, das Ei zu entwenden.
Lilian bezweifelte, dass wirklich alle so begeistert von Diggory waren. Er war keine Schulberühmtheit und wahrscheinlich kannten ihn die wenigsten. Aber er war nicht Harry Potter, und deshalb brachten ihm die meisten Wohlwollen entgegen - nicht anders erging es ihr selbst. Mal ganz abgesehen davon, dass er ganz gut aussah, was durchaus nicht unbemerkt geblieben war.
Die nächste war Fleur Delacour. Sie nutzte einen eleganten Trance-Zauber, um den Drachen loszuwerden. Es war nicht sonderlich kreativ oder aufwendig, erfüllte aber seinen Zweck, und Fleur wäre sicherlich ohne große Probleme mit der Aufgabe fertig geworden, hätte der Drache nicht beim Einschlafen Flammen ausgeatmet, woraufhin Fleurs Rock Feuer fing und sie in Panik geriet, ehe sie sie löschen konnte.
Bis jetzt war Lilian nicht allzu beeindruckt von den Champions, sondern mehr von den verschiedenen Drachenarten, die sie zu sehen bekam. Ein Schwedischer Kurzschnäuzler für Diggory, ein Gemeiner Walisischer Grünling für Delacour, Viktor Krum bekam einen Chinesischen Feuerball, dem er einen Fluch zur Bindehautentzündung verpasste, woraufhin der Drache geblendet sein eigenes Gelege zerstörte. Lilian hoffte bloß, dass es Atrappen waren.
Als Potter als Letzter auf den Platz kam, herrschte keine allzu große Begeisterung. In Gryffindor und Ravenclaw gab es vereinzelt Applaus, doch niemand schien sich so richtig wohl dabei zu fühlen, den Jungen anzufeuern. Kurz hatte Lilian die Hände gehoben, um wenigstens für etwas Ünterstützung zu sorgen, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich damit keinen Gefallen tun würde. Potter war kein armer kleiner Junge, und sie war die Erbin zweier uralter reinblütiger Familien. Sich jetzt einen Fehler in ihrer sorgsam aufgebauten Fassade zu erlauben, wäre töricht.
Dann jedoch verblüffte Potter sie immer wieder aufs Neue: Erst, indem er sich mithilfe seines Zauberstabs einen Besen herbeirief, dann, als er sich mit dem Drachen - einem Ungarischen Hornschwanz, wie Lilian voller Begeisterung feststellte - eine Verfolgungsjagd über die Dächer von Hogwarts lieferte.
Ihre Begeisterung schwand, als sich herausstellte, dass der Gryffindor den Drachen in einen schier unendlichen Abgrund fliegen ließ, nur, um sich das Ei zu holen. Während alle um sie herum johlten vor Spannung, lehnte sie sich mit verschränkten Armen zurück.
"Warum vergessen die Menschen eigentlich immer, dass Tierwesen auch Lebewesen sind?", murmelte sie leise, doch niemand hörte sie in dem begeisterten Gekreische.
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