Kapitel 47
Ich hätte mir denken können, dass Goldlöckchen seinen Freunden die wöchentlichen Besuche verschwiegen hatte.
Vorsichtig ging ich auf Hayden zu. Er hatte sich wie erschlagen auf den Rasen gesetzt und starrte auf den Boden. So wie ich seinen Blick über die ganze Zeit deuten konnte, ist da etwas in ihm, was definitiv nicht nur reine Freundschaft ist.
Goldie hat sich in die Wilde verknallt. Na das kann ja was werden.
Seufzend versuchte ich, mich vorzubeugen. Meine Knie und mein Rücken machten aber nicht mehr so mit wie damals, als ich jung war. Deshalb brauchte ich einen Hocker, der mir sofort gebracht wurde, um mich zu setzen.
»Ich hätte ahnen können, dass deine Freunde nichts von dieser hirnrissigen Stalkingaktion wissen, wenn sie bis heute nie selbst hier waren. Sie sind übrigens zu Recht sauer«, hustete ich und legte meine Hände auf die Knie.
In Haydns Augen konnte man erkennen, dass er niedergeschlagen war. Man konnte ihm ansehen, dass er all das am liebsten weiterhin verschwiegen hätte, wenn sein Gewissen ihn nicht zur Offenbarung gedrängt hätte.
Ich atmete hörbar aus und klopfte, wie es sich für einen Mann meines Alters gehörte, auf meine Knie. Das wollte ich schon immer machen, um dem Bild gerecht zu werden und die jungen Leute damit zu ärgern.
»Aber ich verstehe, warum du die ganze Zeit geschwiegen hast. Manchmal muss man egoistisch sein, wenn man der Person, die man liebt, näher sein möchte.«
Nachdem die Worte meinen Mund verlassen hatten, sah mich Hayden voller Entsetzen an.
»Wie...?« flüsterte er ungläubig, ob er richtig gehört hatte. »Ja, ich bin alt, aber nicht total blind und bescheuert. Die ganze Zeit, die du hier gesessen hast, war auffällig genug. Ich bin nicht von gestern, ich war selbst jung und das ein oder andere Mal bitterböse verknallt und verliebt«, erinnerte ich ihn an mein Alter, obwohl es mir auf den Keks ging. Hey, ich fühlte mich noch wie 27 Jahre.
Hayden blickte von mir zum Boden. Er schien verlegen. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Sein Blick war gesenkt.
»Die Wilde hat ihren Charme, aber mach dir jetzt keine Vorwürfe wegen deiner Freunde. Man kann nicht alles im Leben haben. Und in wen du verschossen bist, kann man auch nicht steuern. Das liegt außerhalb unserer Macht.«
Ich wusste nicht, ob meine Worte es besser oder schlimmer machten. Das Goldlöckchen schwieg.
»Ich habe sie nicht gesehen. Ich werde sie nicht mehr sehen können«, murmelte der niedergeschlagene Schüler vor sich hin. Seine triste Stimmung brachte mich selbst in Unbehagen.
»Vielleicht siehst du nicht die aktuelle Aella, du verliebter Verrückter, aber ich kann ein paar Aufnahmen der Irren für dich heraussuchen. Versuch nicht, mir zu sagen, dass sie es nicht ist. Eure ganze Truppe ist nicht ganz Dicht, aber wer ist das schon.«
Etwas wackelig auf den Beinen rappelte ich mich auf. Hayden blieb sitzen und ich tätschelte seinen Kopf, als wäre er ein Labrador zu meinen Füßen. Goldie passt wohl.
»Na los, Goldie, sonst wirst du hier noch Wurzeln schlagen oder landest in einer anderen Art von Einrichtung, als ob das Internat nicht schon genug wäre«, schnaubte ich und richtete meinen alten Rücken auf. Ich konnte spüren, wie sich meine Wirbel gegeneinander rieben.
Aus einem mir unergründlichen Grund stand Hayden auf und folgte mir, nachdem er die Leiter weggebracht hatte. Anders als Aella beschwerte er sich nicht über den Spitznamen, sondern nahm ihn einfach hin.
Zurück im Anwesen ließ ich erst einmal wie immer etwas zu essen bringen. Es schien tatsächlich mein Projekt zu sein, am Wochenende eine Jugendhilfe zu gründen.
Hayden stocherte später in seinem Kirschtomaten-Pasta und gegrillten Steaksalat mit Blauschimmelkäse herum. Ich drängte ihn, wie letzte Woche, fertig zu essen und dann auch noch sein Joghurt-Orangen-Creamsicle zu lecken.
Man könnte es als Gesundheitskontrolle bezeichnen. Der Junge hatte, wie meine wilde Kleine von nebenan, seine Macken. Was hast du nur für einen Haufen Freunde, Aella.
Nach dem Essen gingen wir gemeinsam in meinem Schleichtempo ins Wohnzimmer. Etwas zögernd setzte ich mich hin. Im Sommer fühlte ich mich immer sehr schwach, die Hitze bekam mir nicht gut.
Ich ließ wie sonst immer die Fotos von Aella bringen, welche ich ganz altmodisch in ein blaues Fotoalbum geklebt hatte. Ich schob das Buch zwischen uns und schlug es auf. Das erste Bild, das erschien, war Aella, als sie nach einer Woche ihr Spielzeug in meinen Garten geworfen hatte. Dass ich die Nase nicht davon vollbekommen hatte, grenzte an eine Wunde. Ich wollte sie sogar als Wiederholungstäterin melden. Das Foto, das ich dafür hatte aufnehmen lassen, war als Beweis im Album.
Die Erinnerung an diesen Tag erschien vor meinen Augen. Aella war viel kleiner, sie trug ein schwarzes Kleidchen, welches einen perlenbesetzten Hemdkragen hatte. Sie hatte einen Zopf, mit einer weißen Schleife im Haar. Sie schien so anständig, kindlich und durchtrieben zur selben Zeit.
Ich schob das Album weiter zu Hayden, weil der Junge aus Höflichkeit seinen Mund nicht öffnen konnte. Man könnte meinen, dass er durch Aella und Blaze gelernt hätte, sich wie eine asoziale Göre zu verhalten, aber das war nicht der Fall.
Ich musste jedoch zugeben, dass ich eine Schwäche für Missratenes hatte. Ich selbst war auch so.
»Was hat sie gemacht?«, fragte Hayden und strich über das Bild, als würde er an seine Kindheit mit Aella zurückdenken. Damals, als er dachte, dass sie nur Freunde wären. Aber wo liegt schon die feine Linie zwischen Freundschaft und mehr?
»Sie hat mich genervt und jedes Mal, wenn sie ihr verdammtes Spielzeug rübergeworfen hat, meine umzutopfenden Blumen beschädigt. Es war, als ob diese kleine Triebtäterin das mit Absicht gemacht hätte.«
Nach meiner nicht ganz unwahren Anekdote musste Goldie kurz lachen. Doch dann verblasste das Lachen zu einem melancholischen Schmunzeln. Er schien so verträumt.
»Und dann?« Natürlich möchte er mehr erfahren. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
»Ich glaube, sie hatte eine lebensgroße Puppe rübergeworfen, die ihr unglaublich ähnlich sah. Zumindest dachte ich das. Ich habe es Aella gebracht. Die Puppe war aber in einem Zustand... vor Langeweile hat sie sie verunstaltet. Nicht im Sinne von geschminkt, nein, eher sah das Spielzeug so aus, als hätte es Experimente durchgemacht. Fallschirmspringen oder so etwas Ähnliches. Das Über-die-Mauer-Werfen wäre da noch eine Leichtigkeit. Aella war nie eine Puppenspielerin«, erzählte ich ihm.
»Nein, das war sie nicht. Sie stürzte sich lieber in waghalsige Aktionen mit Blaze oder suchte Konflikte, um ihre Freunde zu schützen. Oft hat sie mich sogar vor Erwachsenen in Schutz genommen«, fügte Hayden seine Haltung dazu hinzu.
Ich musste kurz auflachen, es war tonlos.
»Möchtest du, dass ich ehrlich meine Meinung dazu sage?« Hayden schmunzelte betrübt. »Du brauchst mir nicht zu sagen, dass ich keine Eier habe, Mervlyn, das weiß ich auch so.«
Daraufhin musste ich nur lachen und an meinem Tee nippen. Der Junge kann anscheinend Gedanken lesen.
Hayden trank reichlich von seinem Tee, oder seinem Schlummertrunk, wie ich es nannte. Und kurz darauf nickte er auch schon ein.
Ach das keiner weiß, dass ich Mervlyn der Sandmann heiß. Schlaf gut, Goldie, und denke daran, dass du nur einschläfst, weil du eine schlechte Schlafgewohnheit hast. Ich denke, ich bin es der kleinen Wilden schuldig, mich um dich zu kümmern, auch wenn es auf eine Weise ist, die sie nie erlauben würde.
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