Kapitel 46

Es war schon eine Weile her, seit wir uns zu viert in unserer kleinen Runde versammelt hatten. Ich war überrascht, dass ausgerechnet Hayden uns zusammenrief. Daher war es nicht ungewöhnlich, dass wir uns diesmal ausnahmsweise bei Blaze und ihm im Zimmer trafen.

Blaze saß gedankenversunken auf seinem Bett. Sein Körper war vorgelehnt und die Arme an seine Knie angewinkelt. Brea saß auf dem Sitzsack und ich war an seinem Schreibtisch. Hayden stand an seinem eigenen Tisch. Sein Körper fiel in sich zusammen. Die Schultern sackten nach unten, seinen Kopf hielt er gesenkt, das Gesicht zum Boden gerichtet.

Es war gut, dass Blaze und Hayden in entgegengesetzten Richtungen waren. Die beiden hatten in letzter Zeit eine seltsame Beziehung zueinander. Ich nahm an, dass es auch an den vielen ungeklärten Dingen lag, wie zum Beispiel die Sache mit Hayden und Aellas Zimmer. Wie versprochen hatte ich niemandem davon erzählt und ging auch nicht mehr dorthin. Ich wollte ihn nicht weiterhin in seinen verletzlichen Momenten stören, denn wie ich ihm schon damals gesagt hatte, ich verstand es einfach nicht.

»Ich... ich habe euch schon eine Weile etwas vorenthalten«, begann Hayden mit einem ruhigen, aber angespannten Unterton. »Mir ist klar, dass ich das nicht hätte tun sollen«, fuhr er fort. Er sah uns immer noch nicht an, weswegen ich ein mulmiges Gefühl bekam.

»Schreib keinen Roman und komm endlich zum Punkt«, brummte Blaze und knetete seine Hände zusammen. Die Spannung in der Luft nahm weiter zu.

Hayden fuhr sich über seinen Nacken. Er schien verkrampft, nahm aber seine Arme herunter. Sie hingen schlaff an seinen Seiten.

»Ich habe das schon vor einer Weile entdeckt...«, unterbrach Brea ihn aufgeregt. »Was meinst du damit?« Ihr Bein zuckte nervös und sie pullte an der Haut an ihren Fingern herum.

»Es hat mit Aellas Nachbarn zu tun. Ich habe ihn vor einer Weile kennengelernt und ihn um einen Gefallen gebeten. So verrückt es auch klingt, es ist tatsächlich machbar. Man kann Aella von seinem Garten aus sehen«, erklärte Hayden schließlich.

Die Worte schienen ihm schwer zu fallen. Es kam mir so vor, als wollte er uns die Information vorenthalten, genauso wie so viele andere auch.

»Wie lange?«, fragte Blaze so rau, dass mir das Blut gefror. Ich schauderte.

Blaze Augen waren auf seine Hände gerichtet, die er sehr fest zusammenpresste. Seine Knöchel stachen weiß hervor.

»Eine Weile«, wiederholte unser blonder Freund mit schwindender Stimme. »WIE LANGE?!«, knurrte nun der andere und bestand auf eine Antwort. Blazes Augen bohrten sich in Hayden, doch der blickte nicht auf. Die Temperatur im Raum stieg brennend an.

»Lang genug.«

Blaze sprang auf und warf ein Kissen in Haydens Richtung. Es verfehlte ihn nur knapp, aber er rührte sich nicht. Ich hingegen zuckte zusammen und bewegte mich, um notfalls zwischen die beiden zu gehen.

»WIE LANGE VERDAMMT?«, schrie er ihn nun mit großen grauen Augen an. Ich hatte das Gefühl, dass seine Augen platzten. Seine Hände waren schon zu Fäusten geballt. »Zwei Monate.«

Bevor ich überhaupt reagieren konnte, wurde ich zur Seite gestoßen. Blaze, groß und hitzig, hatte mich von den Beinen gerissen. Unser sommersprossiger Freund griff Hayden an, und Brea tat nichts, um ihn aufzuhalten. Ich stand zwischen den Fronten, obwohl ich auch Hayden gerne eine verpasst hätte.

»Du hast uns zwei Monate verschwiegen, dass du Aella siehst! Was bist du für ein Arschloch! Egoistischer Mistkerl!«, brüllte Blaze ihn an und trat fest nach Haydens Holzstuhl. Der Rückenteil flog ab und kurz danach hörte man nur, wie die Tür zuknallte. Blaze war weg.

Nur eine Sekunde später folgte eine Ohrfeige, die Brea unserem blonden Freund verpasste. Er wehrte sie nicht ab, als verdiente er sie. Um ehrlich zu sein, stand sie ihm zu.

»Die ganze Zeit über hast du bei unseren Treffen nichts zu ihrem Zustand gesagt«, schluckte sie enttäuscht und ging, ohne Hayden weiter eines Blickes zu würdigen.

Ich stand als Einziger mit ihm da. Die Holzstücke lagen vereinzelt auf dem Boden.

Ein Sturm war zwischen uns geraten, obwohl uns erst kürzlich einer verlassen hatte.

Ich schaute zu Hayden, der nicht von seinen Füßen aufsehen konnte.

»Wieso?«, entwischte mir die Frage, »wieso hast du das getan?«

Er schwieg, und ich konnte es mir erlauben, wenigstens einmal derjenige zu sein, der so hart versuchte, die Truppe zusammenzuhalten. Auch ich wollte enttäuscht sein.

»Weißt du was, du hast recht, ich verstehe dich wirklich nicht.«

Nach Haydens Geständnis und mehreren schweigsamen Tagen fanden wir uns am Samstag vor der Tür von Aellas Nachbarn wieder. Um nicht unhöflicher zu sein, als wir bereits waren, hatten wir Geschenke dabei.

Die Tür wurde vom Personal geöffnet und sofort erkannten sie Haydens schuldbewusstes Gesicht. Er war aufgrund seiner regelmäßigen Besuche bereits bekannt.

Wegen des Mistkerls, ja ich war noch sauer auf ihn, wurden wir ohne Probleme reingelassen.

Das Anwesen war offen und in warmen Brauntönen eingerichtet. Pflanzen dekorierten die Gegend, als würde die Natur ihren Platz auf der Welt zurückfordern. Die Holzmöbel und Stoffmuster schufen eine gemütliche Atmosphäre. Ich konnte mir gut vorstellen, warum Aella so gerne zu ihrem Nachbarn ging, um ihre ›ehrenamtlichen Stunden‹ zu absolvieren. Ich glaubte jedoch, dass er nur ein Teil ihrer Motivation war.

Nicht weit vom Wohnzimmer entfernt erstreckte sich ein Wintergarten. In der Mitte des Raumes, umgeben von Pflanzen, standen zwei Sessel und dazwischen ein zierlicher Beistelltisch. Diese zeigten auf den Garten, als ob dies der eigentliche Fokus des Anwesens wäre.

In einem der Sessel konnte man weiße Haare erkennen. Ein Angestellter ging auf die Person zu und flüsterte ihm etwas zu. Man konnte sehen, wie der Kopf sich bewegte, bevor der ältere Mann hochgeholfen wurde. Der Mann hatte gepflegte, kurze weiße Haare. Er wirkte mürrisch. Seine Kleidung war ordentlich, aber relativ lässig. Seine beige Hose schrie förmlich nach einem alten Herrn und sein Leinenhemd machte es nicht besser. Er hatte blaue, klare Augen. Weiche Falten schmückten sein ovales Gesicht, welches durch seine strubbeligen Augenbrauen strenger erscheinen ließ.

»So, ihr seid also die anderen Freunde von meiner wilden Kleinen«, sprach der alte Mann, der sich als Mervlyn vorstellte. Er hatte eine raue Stimme, obwohl es nicht schien, als ob er Raucher wäre. Weder Mervlyn noch das Anwesen rochen nach Zigaretten.

Der ältere Mann schaute Hayden an, der vor Reue den Blick nicht erheben konnte. Das Verhalten unseres Freundes überraschte uns nicht, denn es gab genug Gründe dafür.

Ich trat vor und reichte meine Hand. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, ich bin Treyton«, stellte ich mich vor. Der Mann nahm meine Hand. »Mach mich nicht älter, als ich bin. Ich bin für jeden Mervlyn, außer für Aella... manchmal. Es ist wohl offensichtlich, dass ich der Nachbar bin. Eine wirklich sonderbare Situation, euer Rudel kennenzulernen.«

Der Mann sprach so frech, dass ich ein Lächeln unterdrücken musste. Brea schien es genauso zu gehen.

Jetzt verstehe ich, warum Aella so gerne bei ihm ist. Er hat einen ganz eigenen Humor.

Brea reichte als nächstes ihre Hand, nachdem sie das Geschenk überreicht hatte. Blaze hielt das andere.

Mervlyn schien unsere kleine Freundin etwas länger zu betrachten. Sein Kommentar, den er abgab, war jedoch nicht so leise, wie er vielleicht dachte. Möglicherweise war es aber auch absichtlich.

»Du bist wirklich so winzig, wie meine Kleine dich beschrieben hat.« Ich hörte Blaze prusten, als er näher kam und sich dann vorstellte. »Du musst Blaze sein, der verrückte fast-Bruder. Deine Sommersprossen verraten dich.«

Blaze grinste selbstgefällig, bevor Hayden stumm vorbeiging. Mervlyn bemerkte es und noch bevor er weitersprechen konnte, raste unser sommersprossiger Freund an ihm vorbei in Richtung Garten. Brea eilte hinterher, und ich entschuldigte mich für das unhöfliche Verhalten meiner Freunde.

Mervlyn schien nicht überrascht. Sein Blick blieb auf Hayden haften, der mit Distanz zu uns blieb.

Wie dem auch sei, wir traten nach draußen und stießen zu Blaze und Brea. Sie standen ungeduldig wartend da. Genauso wenig wie ich wussten sie nicht, was nun folgte. Doch Hayden schien zu wissen, was er machte. Er nahm eine angelehnte Leiter und stellte sie vor der Mauer auf, dabei erklärte er uns, wie der Zeitplan verlief. Er hatte vom ganzen Beobachten eine Art Stundenplan für Aellas Draußenzeiten im Kopf.

Das ist krank... Wie viel...? Wie oft...?

Ich blieb etwas abseits von den anderen. Mervlyn war bei mir, während die anderen zuschauten und wie ich Haydens gestörte Informationen zuhörten.

»Das ist ein trauriger Anblick. Ich habe mit angesehen, wie der Junge acht Wochen lang auf der Leiter saß und der gestörten Person von nebenan nachsah«, kommentierte der alte Mann. Ich hob die Augenbraue, weil das ziemlich harte Worte waren.

»Keine Sorge, Aella würde darüber lachen. Sie hat und wird mich noch genug dissen. So nennt ihr es doch, oder nicht?«

Okay, Aella und Mervlyn haben ein seltsames Verhältnis zueinander.

»Wie haben Sie...du, Aella kennengelernt?«, fragte ich, während Blaze und Brea darüber stritten, wer als erster Aella beobachten konnte. Ladies first — dachte ich nur.

»Die Irre hatte Langeweile und sie hat ihr Spielzeug über die Mauer geworfen. Ich nenne es einen versuchten Einbruch, um sie zu ärgern. Dann ist es dazu gekommen, dass wir gemeinsam Zeit verbrachten. Ich muss zugeben, dass mir ebenfalls langweilig war. Wenn du es ihr verrätst, mache ich deine Haare kaputt. Ja Aella hat mir von deinem Tick erzählt, Treyton«, drohte der alte Mann mir.

Sie könnten mit diesem Humor echt verwandt sein.

Brea stieg als erste hoch und setzte sich. Es schien nicht besonders bequem zu sein, was man an ihrem Gesichtsausdruck erkennen konnte. Aber sie würde wohl 20 Minuten aushalten müssen. Von der ganzen Stunde, die Aella draußen verbrachte, teilten wir zu dritt auf. Hayden hatte jegliches Anrecht verloren. Wir waren an der Reihe.

Abwechselnd beobachtete ich nach dem Zeitplan, was Aella so trieb. Sie sah schrecklich aus.

Als Blaze, der letzte, fertig war, stieg er leise die Leiter hinab. Seine Stille war beunruhigend und das aus gutem Grund, denn sobald er unten ankam, stieß er Hayden so fest an, dass er mehrere Schritte rückwärts taumelte. Mühsam rappelte er sich wieder auf.

»Fick dich!«, stieß Blaze beleidigend aus, »du hast uns die ganze Zeit vorenthalten, dass sie wie eine Obdachlose aussieht. Was bist du nur für ein Freund?!«

Dann ging er schon, Brea gleich hinterher. Mervlyn schien nun mehr als überzeugt zu sein, dass Hayden in einigen Dingen geflunkert hatte.

Ich entschuldigte mich jedenfalls für die Unannehmlichkeiten.

Was Hayden betrifft, konnte ich ihn nur enttäuscht ansehen. Ich brauchte keine Worte, denn er wusste bereits, dass er er es verbockt hatte.


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