Als ich am nächsten Morgen aufstand, spürte ich die kalte Schwere über meinen Körper gleiten. Meine Augen fühlten sich geschwollen an. Mein Gehirn hatte Startschwierigkeiten. Kein Wunder, das Chaos vom gestrigen Tag lag mir noch schwer in den Knochen.
Nachdem mein Vater und ich vom Internat zurückgekehrt sind, hätte ich schon ahnen sollen, dass ich nicht so leicht wieder zurückkehren könnte. Ich hätte es erkennen sollen, als mein Zimmer großenteils ausgeräumt wurde. Ich hätte bemerken sollen, dass Alyssia kein Wort mit mir wechseln konnte, weil das Anwesen abgeriegelt wurde. Mein Gefängnis wurde verstärkt. Meine Freiheiten wurden mir entzogen, um mich wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Kompetent. Leistungsfähig. Keine in sich zusammenfallende Versagerin.
Auch als ich dann im Anwesen drinnen war, konnte ich nicht einfach in mein Zimmer gehen. Im Gegenteil, ich musste mir eine Standpauke anhören, die besagte, dass alles erdenkliche getan werden würde, um mich wieder gesund zu machen. Meine Eltern schienen wirklich besorgt um mich zu sein, weil sie ganz blass waren. Wie konnten sie auch um meinen Zustand wissen, wenn ich vor allen immer so tat, als wäre alles gut. Aber ›gut‹ war subjektiv. ›Gut‹ war gut. ›Gut‹ war schlecht.
Aus diesem Grund haben sich meine Eltern mich entschieden, mich von der Außenwelt zu isolieren. Zum einen, um mich vor neugierigen Blicken zu schützen, zum anderen, damit ich mich auf mich selbst konzentrierte. Ich konnte mich leicht ablenken lassen, wenn meine Neugier geweckt wurde. Meine Eltern wussten das und auch ich selbst war mir dessen bewusst. Deshalb wollten sie nicht, dass ihr einziges Kind dem Wahnsinn verfällt.
Was zu meiner Ansage gehört, war, dass ich leider ärztliche Besuche machen musste. Diese waren nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Es wurde mir keine Pause gegönnt. Meine Termine begannen mit einer Untersuchung und mir wurde ein Stundenplan gegeben, um meinen Tag zu organisieren. Der Alltag sollte nicht entgleiten.
Und da ich natürlich keinen Schulstoff verpassen sollte, bekam ich auch noch einen Tutor. Mir war selbst klar, dass ich keinesfalls zurückfallen durfte. Das wäre fatal. Ich wollte nicht sitzenbleiben. Für mich würde es bedeuten, dass ich meinen Abschluss dann ein Jahr später machen würde. Ein Jahr länger versauen müsste. Das war nicht eines meiner Lebensziele.
Wie benommen lag ich in meinem Bett. Ich konnte mich noch nicht dazu bringen, aufzustehen. Der Morgen fühlte sich schwer an. Mir war, als wäre in mir ein regnerischer Tag. Normale Menschen sahen das immer als ein Problem an. Ich wollte meinen Eltern keine Schwierigkeiten bereiten. Ich wollte keine Belastung sein. Und dennoch lag ich da und kam mir vor wie die größte Baustelle, die mir im Weg stand.
Ich lag immer noch in meinem zerwühlten Bett. Ich konnte mich nicht dazu überwinden zu duschen. Es fühlte sich an, als würde das nicht das letzte Mal sein. Nach ganzen 23 Minuten konnte ich mich endlich aufraffen, aber nicht aufstehen. Also saß ich weitere zwölf Minuten dort, bis ich endlich auf den Beinen war.
Es war so seltsam, ohne den Handywecker aufzuwachen und erst die Nachrichten meiner Freunde anzuschauen. Es war genauso merkwürdig, nicht alle Gesichter der Schülerinnen und Schüler der Cardell Academy zu sehen, an die man sich gewöhnt hatte.
Mir war völlig klar, worüber sie sprechen würden. Über mich. Ich nahm es nicht übel. Schließlich hatte ich mit meiner Atemnot für die beste Aufführung aller Zeiten gesorgt Die Tragödie meines Lebens.
›Das Biest und...‹ Und wer?
»Auch deine Freunde wollen dich nicht mehr. Sie haben genug von dir, weil du das personifizierte Grauen bist. Die Ausgeburt des Teufels. Du wurdest durch eine skandinavische Blondine ersetzt. So schnell kann es gehen. Man braucht dich nicht. Du wirst in Vergessenheit geraten.«
Warum bin ich so müde? Ich habe doch so lange geschlafen.
Mein Körper begann zu zittern und die Übelkeit überwältigte mich. Irgendwie schaffte ich es, mich ins Badezimmer zu schleppen und mich zu übergeben. Meine Arme wurden schwach und mir wurde schwindelig. Ich schaffte es gerade noch, die Toilettenspülung zu betätigen und mir den Mund abzuwischen, bevor meine Energie mich verließ und ich auf den Boden sank.
Ich konnte meinen eigenen Mageninhalt in meinem Mund schmecken. Mir war jedoch nicht klar, was ich überhaupt ausgespuckt hatte, da ich in letzter Zeit kaum etwas gegessen hatte. Wahrscheinlich waren es die Reste der letzten zwei oder drei Tage.
Ich lag ganze zwei Minuten lang auf dem Boden, bis Angestellte hereinstürzten und mein erbärmlicher Zustand entdeckt wurde und meine Eltern gerufen wurden. Entsetzt und besorgt stachen ihre Augen heraus, als sie erkannten, was aus mir geworden war. Ein Elend.
Ich versuchte, mich aufzuraffen, aber meine Arme gaben einfach nach. Mein ganzer Körper schmerzte.
Meine Mutter legte mir liebevoll ihre Hand an mein Gesicht und hob mich mit Hilfe meines Vaters auf die Beine. Sie wollten mir jedoch nicht meine letzte Würde nehmen, indem sie mir die Möglichkeit gaben, selbst zu stehen. Ihnen war klar, dass ich auch wieder lernen musste, regelmäßig zu essen.
Mir war diese Zärtlichkeit so fremd, weil ich sie immer von mir weggestoßen habe. Sie war immer noch seltsam.
Ich zitterte und Gänsehaut überfiel mich, als ich vor dem Waschbecken stand und in mein Spiegelbild blicken konnte. Wer ist dieses Mädchen? Fahle Haut, ein eingefallenes Gesicht, trockene und struppige Haare. Die Lippen spröde, dicke Ringe unter den Augen. Die Iris ausgelaugt. Farblos. So sehe ich also jetzt aus.
Mir war nicht aufgefallen, wie erschreckend ich aussah. Wie meine Entscheidungen mich gezeichnet hatten.
Vielleicht trug ich deshalb nur einen Jogginganzug und ein langes schwarzes T-Shirt. Mir fehlte die Energie und Motivation, mich vernünftig anzuziehen. Auch sah ich keinen Sinn darin, weil ich niemandem gefallen musste - nicht einmal mir selbst. Also wozu mehr Zeit für etwas Belangloses verschwenden.
Einigermaßen gekleidet schlurfte ich ins Esszimmer. Diese Kleidung würde nun meine Schuluniform sein. Die Schulleitung hätte deswegen einen Herzinfarkt bekommen und sich im Grab umgedreht. Ich hätte ihn auch gerne mehr enttäuscht, wenn ich meine Socken über meine Hosenbeine gestülpt hätte.
Das Esszimmer war mit Sonnenlicht geflutet und ich musste mehrmals blinzeln, weil meine Augen brannten. Deshalb nutzte ich meine Haare als Vorhang. An dem langen Tisch warteten sowohl mein Frühstück als auch mein Tutor. Ich hatte meinen festgelegten Stundenplan schon etwas verschoben, aber man wurde auch fürs lose Rumhängen bezahlt.
Mein Magen rebellierte gegen das Frühstück. Ich konnte den Anblick des Obstes und des Grießbreis nicht ertragen. Man versuchte mir langsam leichte Kost zuzuführen, aber nach ein paar Bissen verging mir der Appetit. Nicht dass ich überhaupt einen hatte.
Genau so wenig war ich danach bereit, mich vom Privatunterricht berieseln zu lassen. Das Lernen wurde wegen der Kopfschmerzen zu einer nebensächlichen Angelegenheit, bis ich mich schließlich hineinstürzte, weil meine Gedanken begannen, mich in den Wahnsinn zu treiben. Nach einer Weile blieb mir jedoch nichts anderes übrig, als meine Strafe abzusitzen, bis ich für eine Stunde in den Garten konnte, um frische Luft zu schnappen.
So lange, bis nach einiger Zeit meine Psychiaterin vor mir saß und mich dazu zwang, mich mit etwas auseinanderzusetzen, was bescheuert war. Mir selbst.
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