Kapitel 16
Einige friedvolle Tage vergingen. Bastien und ich redeten öfter miteinander. Seltsamerweise hatten wir viel gemeinsam, zum Beispiel die unschönen Erfahrungen, die wir mit anderen gemacht hatten.
Ich erfuhr, wie gerne er Film Noir schaute und über seine Familie sprach er auch. Seine Mutter ist Französin und als Kind hat er zuerst Französisch gelernt, was seinen leichten Akzent für mich erklärte. Da ich die Sprache nicht sprechen konnte, bot er mir an, sie mir beizubringen. Dafür hatten wir jedoch kaum Zeit, außer für ein paar wenige Floskeln. Er wollte mir Begrüßungen lehren, ich wollte Beleidigungen lernen.
Im Vergleich zu ihm erzählte ich weniger Intimes, weil ich das Gefühl hatte, diese Mauer in mir nicht durchbrechen zu können. Und trotzdem erfuhr er beim Dartspielen, dass ich als Hobby Messer warf. Immerhin war ich darin ziemlich gut und spielte nicht absichtlich schlecht, um süß zu wirken. Nein, ich war diejenige, die einem Jungen auf die Eier zielte und ihm drohte, wenn er mir zu nahe kam.
Seltsamerweise fand Bastien meine Fertigkeiten mit dem Messer nicht abstoßend, sondern aufregend. Er verwendete sogar das Wort ›praktisch‹, da die Fähigkeit sicherlich in der Waffenindustrie relevant sein konnte. Das war nicht ganz falsch. Bei mir jedoch lag der Fokus mehr auf dem Spaßfaktor.
Also zeigte ich ihm, wie er besser Dart spielen konnte, denn im Vergleich zu mir stellte er sich mies an. Sogar schlechter als Hayden, und der war unter uns Freunden schon grottenschlecht.
Mein neuer Kumpel erzählte mir dann auch, dass sein Vater Kanadier sei und sie oft Snowboarden gehen würden. Im Winter auf einer Skipiste könnte er es mir sogar zeigen, falls wir uns mal sehen würden. Das war der Sport, den er bevorzugte. Aber Schneepisten waren nicht so leicht zugänglich wie ein Degen. Also probierte er sich ans Fechten, wenn auch nicht mit so großer Leidenschaft wie Hayden.
Ja, ich habe ihn kennengelernt. Und genau, ich habe es zugelassen. Aber was danach passierte, und womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass er mich küsste. Ja, aus für mich unerklärlichen Gründen ließ ich es zu. Und ja, es wurde auch intensiver, sodass ich seine Zunge spürte. Vielleicht wollte ein Teil von mir einfach diese Art von Kuss selbst ausprobieren. Mir war nicht klar, warum es ausgerechnet mit ihm passierte, und genauso merkwürdig war, dass es sich direkt danach falsch anfühlte. Und das sagte ich Bastien... nachdem ich ihn gebissen hatte...
Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob es mir vergönnt war, jemanden auf diese Art näher an mich herankommen zu lassen. Die ganze Zeit wurde ich von äußeren Umständen gestört und nun hindere ich mich selbst daran, eine Art Liebesbeziehung aufzubauen. Und ich konnte es nicht begründen, außer damit, dass es sich falsch anfühlte.
Letztendlich einigten Bastien und ich uns darauf, den Kuss hinter uns zu lassen und eine Art Freundschaft beizubehalten. Obwohl es schien, dass Bastien mehr wollte, schien es ihm wichtiger zu sein, mir keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Denn offensichtlich war diesmal etwas mit mir nicht in Ordnung.
Ich war meine eigene Romantik-Killerin.
»Du scheinst viel mit Bastien zu reden. Hat sich da etwa etwas angebahnt?«, fragte Brea mich beim Mittagessen mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Sie wirkte wie eine neugierige Hyäne, immer auf der Suche nach Informationen über mein Liebesleben.
Ich wollte ihr nichts erzählen, dass Bastien und ich uns geküsst hatten. Denn sobald ich ein paar Worte darüber verloren hätte, hätte sie meine Seite nie verlassen und mich mehr zu ihm gedrängt. Das hätte die Situation zwischen uns nur noch seltsamer gemacht, als sie ohnehin schon war.
Alle am Tisch wurden hellhörig, selbst Hayden, obwohl er in letzter Zeit abwesend wirkte. Mir war aufgefallen, dass er neben sich war, als würde er viel nachdenken.
»Ich würde nicht von ›viel‹ sprechen. Wir tauschen uns ab und zu aus. Manchmal schreibt er mir wegen Schulaufgaben. Aber da ist nichts, also bilde dir da nichts ein«, antwortete ich nüchtern und trank einen Schluck Wasser. Ich wollte nicht, dass das Thema durch weitere Geständnisse die Spitze der Peinlichkeit erreichte. Nicht so wie damals, als alle erfuhren, dass Treyton sozusagen mein erster Kuss war und er es so abstoßend fand und deshalb ans andere Ufer schwamm.
Blaze seufzte erleichtert, während meine kleine Freundin missmutig vor sich hin schmollte und ihre Erbsen mit der Gabel hin und her schob. Treytons Mund wurde ebenfalls schmal. Wahrscheinlich dachte er, wir würden etwas anfangen. Er war die Art von Person, die bereits eine Hochzeit in seinem Kopf plante, egal wie wenig man jemanden kannte.
Ich schielte zu Hayden rüber. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam, als hätte er gerade wieder angefangen zu atmen.
Irritiert von seinem Verhalten, widmete ich mich meinem Gumbo zu. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Bastien an einem Tisch in unserer Nähe sitzen. Er winkte kurz zu mir und alle, die ihn nicht als Staatsfeind Nummer Eins betrachteten, taten es ihm nach.
Danach plauderten meine Freunde und ich an unserem Tisch über die bevorstehende Theateraufführung. Selbst Hayden beteiligte sich, was mir zeigte, dass er sich wieder gefangen hatte. Blaze freute sich, dass ihm langsam wieder Snacks erlaubt waren, nachdem sein Essverhalten überwacht wurde. Ihm schien es wichtiger, darüber zu reden, anstatt über die Aufführung, bei der er sowieso schlafen würde.
Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und ich wollte gerade etwas trinken, als im Speisesaal auf einmal ein Tumult ausbrach und ein Mädchen aufkreischte. Wir sahen uns um, um dem Durcheinander zu folgen. Ich musste sogar aufstehen, um nachzusehen, worum es ging. Die anderen taten es mir wortlos nach.
Und dann sah ich, wie Bastien auf dem Boden lag. Auf seinem Gesicht bildeten sich Flecken und er hielt sich den Hals, als würde er ersticken.
Die Schülerinnen und Schüler starrten einfach nur und versammelten sich um ihn herum, als wäre es ein Spektakel. Anstatt irgendeine gesunde Reaktion zu zeigen, war es für sie wichtiger, ihre Handys herauszuholen und das Elend eines anderen zu filmen.
Meine Beine wurden von selbst aktiv und ich eilte zu Bastien. Er hatte mir erklärt, was passieren würde, wenn er eine allergische Reaktion hätte. Es war für ihn lebensgefährlich, Nüsse zu essen, daher hatte er unmöglich selbst welche gegessen. Besonders, weil er auf alle Nüsse allergisch reagierte. Also, wie konnte das passieren?
Ich schubste alle, die mir im Weg standen, zur Seite und schrie sie an, dass sie verschwinden sollten. Meine Freunde folgten mir, unsicher was los war. Ohne groß nachzudenken, sank ich, als ich bei Bastien ankam, auf die Knie. Seine Augen waren weit aufgerissen und er schaute mich glasig an.
»Was ist los?«, keuchte Brea voller Entsetzen im Gesicht. Sie war bleich und stand unter Schock. Ich übernahm schnell die Kontrolle. Was blieb mir anderes übrig? Ich war die Einzige, die ansatzweise begriff, was vor sich ging.
»Treyton, rufe einen Notarzt und den Schularzt. Blaze, sorge dafür, dass die Leute, die im Weg stehen, verschwinden und ihre beschissenen Handys weglegen. Brea, gehe und schau nach, was er gegessen hat. Wenn du das herausgefunden hast, lauf zur Essensausgabe und nimm das Kärtchen mit dem Kleingedruckten mit«, befahl ich die Anweisungen. Ohne viel Zeit zu verschwenden, gingen sie alle, ohne zu meckern, ihren Aufgaben nach.
Ich löste Bastiens Krawatte und Hemd auf. In seinem Blazer suchte ich hastig nach dem EpiPen und zog ihn heraus. Ohne zu zögern entfernte ich die Kappe und rammte ihn in seinen Oberschenkel, wie er es mir gezeigt hatte.
Hayden starrte mich mit weit aufgerissen Augen an. »Hayden«, sagte ich seinen Namen und er nickte sich fangend, »ich brauche seine Tasche. Such darin nach einem kleinen Täschchen.«
Kurz zögerte er, sprang dann aber auf und war binnen Sekunden wieder bei mir. Er kniete sich neben mich und legte seine Hand auf meine, während er mir die Notfalltasche reichte. Erst dann bemerkte ich, dass ich zitterte. Meine eigene Panik wollte ich mir nie anmerken lassen.
Nur einen Wimpernschlag später spürte ich Haydens Hand auf meiner eigenen. Noch bevor sich mein Körper aufgrund des Stresses verkrampfte, zerfloss ich innerlich und atmete tief ein und wieder aus.
»Kannst du das Täschchen öffnen und schauen, ob da irgendwas drin steht?«, bat ich ihn beruhigt. Ich stützte den Kopf des am Boden liegenden Jungen ab, während Hayden in der Notfalltasche nachschaute. Brea kam mit der Karte zu uns gelaufen und fiel neben uns auf den Boden. »Er hat Chili gegessen«, keuchte sie und reichte mir den kleinen Zettel mit den Bestandteilen des Gerichts. Nirgendwo standen Nüsse darin. Verunsichert runzelte ich die Stirn und fragte mich, was los war.
Treyton kam dann auch mit dem Schularzt angerannt. Die zuschauende Schülermenge wurde weiter in die Ecke gedrängt. Nur wir waren mit dem Arzt bei Bastien. Alle anderen standen nur im Weg für die noch kommenden Sanitäter. Blaze war kurz hinter mir und drückte meine Schulter, um mir zu zeigen, dass er bei mir war.
»Was ist passiert?«, ächzte der Arzt aus der puste. Ich reichte ihm die Notfalltasche und die Karte mit den Bestandteilen des Gerichts. Von letzteren machte ich ein Beweisfoto.
»Er reagiert allergisch auf alle Nüsse. Zum Mittag hat er Chili gegessen, aber darin werden keine Nüsse aufgelistet«, antwortete ich leise, immer noch aufgeregt. »Ich habe einen EpiPen benutzt.« Mein Atem war aufgrund der Hektik leicht keuchend.
Der Schularzt untersuchte Bastien kurz und legte mir dann eine Hand auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht. Die Notärzte werden gleich hier sein und danach muss er ins Krankenhaus. Ich muss den Vorfall dem Schulleiter und den Eltern melden. Solange...« Der Schularzt unterbrach und stand auf, als wir das Quietschen einer Sanitäterliege hörten. Das Notfalltäschchen mit den Daten nahm er mit, um sich mit den Sanitätern zu unterhalten.
Ich wollte auch Platz machen, doch plötzlich griff Bastien nach meiner Hand. Er konnte immer noch nicht sprechen.
Da ich unsicher war, was ich machen sollte, entschied ich mich dafür, ihn zu unterstützen, da er offensichtlich niemand anderen hatte, dem er vertrauen konnte. Dabei kannten wir uns noch nicht so lange.
Meine Freunde folgten uns und für den Moment schien jegliche Feindseligkeit wie weggeblasen.
»Woher wusstest du das?«, fragte Hayden direkt an meiner Seite. Er folgte mir mit Bastians Rucksack und ich spürte seine Hand stützend zwischen meinen Schulterblättern. Ich wand mich beim Gehen ihm zu. »Er hat mir davon erzählt. Ich wollte wissen, was man in Notfällen tun muss und wo er die wichtigsten Dinge bewahrt«, keuchte ich den Sanitätern nacheilend. Hayden nickte nur. In seinen Augen stand Mitgefühl.
Irgendwie musste ich aufgrund der Anspannung verkrampft lachen. Meine Gesichtsmuskeln fühlten sich so an, als hätte ich mir Botox ins Gesicht gestochen. »Ich bin neugierig, weißt du doch«, scherzte ich, obwohl ich mich nicht danach fühlte. Hayden betrachtete mich gründlich, und noch bevor er das aussprechen konnte, was ihm auf der Zunge lag, wurde ich von Bastien, der sich noch immer an meine Hand klammerte, vorangezogen.
Vor dem Krankenwagen blieben wir stehen. Die bunten Lichter blinkten und mir schwirrte der Kopf.
»Wie heißt du?«, fragte die Sanitäterin mich an. »Aella Taysten«, antwortete ich. Sie nickte mir zu und schaute zu Bastien, der meine Hand immer noch hielt. Er schien benommen zu sein, während eine Atemmaske ihn unterstützte. »Du musst uns ins Krankenhaus begleiten«, wie sie mich hin und neigte ihren Kopf in Richtung des dunkelhaarigen Jungen.
Bei dem Wort ›Krankenhaus‹ erstarrte ich und wollte einen Schritt zurücktreten. Das konnte ich aber nicht. Die sich an mich krallenden Finger hielten mich gefangen.
Mir wurde urplötzlich kalt. Aber nicht lang, denn Hayden trat hinter mich und legte einen Arme um mich. »Ich weiß, dass du das schaffst, aber ich kann auch mitgehen«, flüsterte er mir zu. Ihm war klar, dass ich es im Krankenhaus nicht leiden konnte. Die permanenten Untersuchungen, die ich seit meiner Kindheit regelmäßig ertragen musste, nur um meinen Eltern bestätigen zu können, dass ich, ihre einzige Erbin, belastbar war. Ich es aushalten konnte. Aber konnte ich das wirklich?
Mir graute es schon, die mehlweißen Wände, Krankenschwestern, Ärzte und Untersuchungsgegenstände zu sehen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und abgestandenem Kaffee stieg mir in die Nase, denn meine Erinnerungen vermischten sich mit der Gegenwart.
Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. »Nein...ich schaffe das«, krächzte ich schwer und nahm Bastiens Rucksack von seiner Schulter. Es war eher so, dass ich mir einredete, dass ich es schaffen würde. ›Eine Taysten zeigt keine Schwäche.‹
Ich drehte mich beim Einsteigen in den Krankenwagen noch einmal um. Meine Freunde standen alle da und sahen mich an. Einen nach dem anderen schaute ich an. Die Situation war bedrückend. Meine Hand bebte und ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass ich so bleich wie Kreide war. Doch es gab kein Zurück mehr für mich, denn die Tür wurde geschlossen und der Krankenwagen düste mit mir darin eingesperrt davon.
...Hilfe.
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