8 | Zu weit gegangen

2.568 Worte

Am nächsten Montag sitze ich mit meiner bereits für das Schwimmen gepackten Tasche und mit dem Rücken an meine Schranktür gelehnt in meinem Zimmer.

Auch den Donnerstag und den Freitag bin ich noch von Ginger verschont geblieben. Hin und wieder hat sie mir einen abschätzigen Blick oder eine dumme Bemerkung über mein Äußeres zugeworfen, wenn ich ihr auf dem Schulflur über den Weg gerannt bin, aber so schlimm wie am Dienstag nach dem Sportunterricht ist es nie geworden.

Sehr zu meinem Glück!

Doch nun sitze ich wie ein kleines Häufchen Elend auf meinem Fußboden und bin unschlüssig, ob ich ins Schwimmbad fahren soll oder nicht.

Reece wird dasein. Das weiß ich mit hundertprozentiger Sicherheit. Und genau aus dem Grund zögere ich.

Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich noch fünf Minuten Zeit habe, um mich zu entscheiden. Wenn ich mich dann nicht auf den Weg mache, werde ich den Bus zum Fitnesscenter verpassen.

Einerseits ärgere ich mich, dass ich mich so von Reece abhalten lasse, andererseits weiß ich genau, dass ich mich in seiner Gegenwart weder wohlfühlen noch richtig auf mein Trainig konzentrieren werde. Wahrscheinlich wird er mir wieder nur den gleichen dummen Satz an die Stirn werfen, dass ich doch bei jedem Schwimmzug untertauchen solle. Darauf kann ich getrost verzichten.

Nein, ich habe mich entschieden. Ich werde nicht zum Schwimmen fahren. Zumindest nicht mehr montags. Suche ich mir eben einen anderen Tag aus. Hauptsache Reece sieht mich nicht noch einmal im Badeanzug.

Doch bereits fünf Minuten später könnte ich mich ohrfeigen. So werde ich wirklich nie abnehmen. Warum bin ich bloß so inkonsequent? Ich lasse ernsthaft zu, dass Reece mich vertreibt. Zum Kuckuck!

Aus Frust schnappe ich mir in der Küche einen Schokoriegel und setze mich damit wieder in meinem Zimmer auf mein Bett.

Vielleicht wäre ich konsequenter, wenn Dad mich in meinem Vorhaben bestärken würde, aber ihm scheint es ja nur recht zu sein, wenn ich meinen Trainingsplan vernachlässige. Seit unserer Abmachung hält er sich zwar aus diesen Dingen heraus, aber Unterstützung gibt er mir auch nicht wirklich. Und das nervt mich, das nervt mich gewaltig.

Manchmal frage ich mich, ob Mum mich eher in solchen Angelegenheiten bestärken würde. Ob sie besser verstehen würde, warum mir das so wichtig ist. Männer werden schließlich kaum bis gar nicht wegen ihres Gewichts gedemütigt und wenn doch stecken die meisten das mit einem Schulterzucken weg.

Aber die Antwort lautet wahrscheinlich trotzdem nein, denn warum sollte Mum Dad und mich auch nur im Geringsten unterstützen, wenn sie uns mitten in der Nacht sang- und klanglos verlassen hat?

Mum und Dad hatten oft Streit. Zumindest im letzten Jahr, bevor sie abgehauen ist. Meistens haben sie sich abends gestritten – dann, wenn ich schon im Bett lag und schlief, doch manchmal waren sie so laut, dass ich davon wieder aufgewacht bin.

Eigentlich ist mir klar gewesen, dass ihre Ehe wohl nicht mehr lange halten würde, aber ich hätte niemals damit gerechnet, dass Mum einfach abzieht. Wenn sie Dad nicht mehr liebt, okay, aber was ist mit mir? Mich gibt es doch auch noch. Ich bin ihre Tochter verdammt! Mich sollte sie lieben! Aber anscheinend tut sie das nicht.

Es war eines Freitag nachts, als sie ihre Sachen gepackt und gegangen ist. Ich habe bei einer Freundin übernachtet und war deshalb nicht zu Hause. Keine Ahnung, ob die Fetzen geflogen sind oder ob Mum Dad gar nicht zu Wort kommen lassen hat, sondern einfach gegangen ist. Dad schweigt darüber.

Ich weiß nur, dass ich samstag abends nach Hause kam und Dad auf der Couch saß, den Laptop auf dem Schoß und die Füße auf dem Kaffeetisch. Da wusste ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Mum hat es gehasst, wenn Dad die Füße auf den Tisch gelegt hat, deshalb tat er es nicht mehr. Weder wenn sie zu Hause war, noch wenn sie weg war.

Ich habe meine Tasche am Fuß der Treppe abgestellt und bin zu meinem Vater gegangen. Erst als ich ihn angesprochen habe, hat er gemerkt, dass ich wieder zu Hause bin.

»Dad, wo ist Mum?«, war meine erste Frage an ihn, obwohl ich die Antwort insgeheim schon kannte.

Erschrocken fuhr er zu mir herum und sah mich ertappt an. »Sie ist – Sie ist weg, mit ihren Freundinnen.« Ich wusste, dass er mich anlog. Und er wusste, dass ich das wusste. Ich war fünfzehn, alt genug, um zu wissen, wann eine Trennung bevorstand.

Zwei Sekunden hat er mich angestarrt, hat gesehen, wie sich Tränen in meinen Augen gebildet haben und ist dann resigniert seufzend in sich zusammengesunken. Er hat den Laptop neben sich gestellt, die Füße vom Tisch genommen und mich aufgefordert, sich neben ihn zu setzen.

»Sie kommt nicht mehr wieder, oder?« Damals habe ich damit nur gemeint, dass sie nicht mehr nach Hause kommt. Dass sie wirklich gar nicht mehr wiederkommen würde, damit habe ich nicht gerechnet.

»Nein, kommt sie nicht.«

Eine Scheidung hat es trotz allem bis heute nicht gegeben. Mum meldet sich nicht und Dad scheint es inzwischen egal geworden zu sein. Er hat den Ring abgelegt und seitdem nichts weiter unternommen.

Wo er den Ring hingelegt hat – keine Ahnung. Vielleicht hat er ihn weggeschmissen oder versteckt ihn irgendwo. Er scheint jedenfalls kaum noch an Mum zu denken. Manchmal habe ich das Gefühl, es war eine Erleichterung für ihn, dass sie gegangen ist.

Plötzlich klopft es sachte an meiner Zimmertür, ehe die Klinke heruntergedrückt wird und Dad durch den Spalt zwischen Rahmen und Tür schaut.

»Hey, wieso bist du denn zu Hause? Ich dachte, montags gehst du schwimmen, aber deine Haustürschlüssel liegen unten ... «

»Ich hatte heute keine Lust«, erkläre ich rasch.

Überrascht zieht er eine Augenbraue hoch und tritt komplett in mein Zimmer. »Alles okay?«

»Dad, ich hatte schon öfter keine Lust. Das ist nichts Besonderes«, erwidere ich mit einem ein wenig angenervten Unterton. Gerade wäre ich wirklich lieber alleine, als von ihm ausgefragt zu werden.

»Klar, ich ... « Dad stoppt, als sein Blick auf die Tabelle an meinem Kleiderschrank fällt. »Was ist das?«, fragt er und seine Stimme hört sich an, als hätte ich etwas Verbotenes getan.

»Das ist nichts.«

»Giovanna, lüg mich nicht an. Seit wann zählst du Kalorien?«

Ich stöhne. »Dad, ein Ernährungsplan basiert auf nichts anderem.«

Er löst das Blatt Papier vom Kleiderschrank. »Das ist Blödsinn. Und alles, was hier drauf steht, ist ja wohl offensichtlich aus deinem Ernährungsplan ausgeschlossen.«

»Ja, und so komme ich noch weniger auf die Idee es zu essen.« Und plötzlich bricht alles aus mir heraus. »Warum kritisierst du alles, was ich tue? Ich will doch nur ein bisschen schlanker sein. Was ist so falsch daran? Warum kannst du mich nicht einfach unterstützen?« Wütend stehe ich auf, um auf einer Höhe mit ihm zu sein, und verschränke ich die Arme vor der Brust.

»Ich unterstütze dich doch«, protestiert Dad.

»Nein, tust du nicht! Du willst, dass ich weniger Sport treibe, dass ich morgens ungesund esse und am liebsten wäre dir, dass ich alles hinwerfe.«

»Ja«, erwidert Dad nun strenger, »weil ich mir Sorgen um dich mache. Und das«, er wedelt mit der Tabelle in seiner Hand herum, »geht definitiv in eine ganz falsche Richtung.«

»Ich bin SIEBZEHN Jahre alt. Ich kann auf mich aufpassen«, brause ich auf. »Ich werde, seit wir hier nach Brownsville gezogen sind, wegen meines Gewichts gemobbt. Und du willst alle Versuche, etwas abzunehmen, eindämmen. Weißt du, Mum hätte mich unterstützt, sie hätte mich verstanden.« Im nächsten Moment weiß ich, dass ich mit diesen Worten zu weit gegangen bin.

Dad hat nie gezeigt, ob und wie sehr ihn die Trennung mitgenommen hat, aber kalt gelassen hat sie ihn auf keinen Fall. Doch auch jetzt lässt er mich mit keiner Miene erahnen, ob das, was ich gesagt habe, ihn getroffen hat.

Seine Stimme ist umhüllt von einem Eismantel. Solch einen strengen Unterton habe ich noch nie von ihm gehört. Dad und ich hatten immer ein fabelhaftes Verhältnis zueinander. »Ich habe gesagt, ich halte mich aus allen heraus, wenn du morgens anständig frühstückst, aber wenn du so weitermachst, dann wird sich das ändern. Und das fängt damit an, dass du das isst, was ich koche. Und zwar morgens und abends.«

»Das ist doch nicht dein Ernst. Mir geht es gut.«

Ohne ein weiteres Wort zu sagen dreht Dad sich um und verlässt den Raum. Die Tabelle nimmt er mit.

Aufgebracht renne ich in meinem Zimmer zweimal auf und ab, ehe ich die Tür aufreiße, die Treppen nach unten stürme und aus der Haustür verschwinde.

»Wo gehst du – «, höre ich Dad noch fragen, ehe die Tür ins Schloss kracht. Trotzdem belle ich ein ›Sammy‹, damit er nicht auf die Idee kommt, mir zu folgen.

Im Laufschritt ziehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wähle Sammys Nummer. Nach fünf Sekunden nimmt er ab.

»Bist du zu Hause?«, falle ich mit der Tür ins Haus.

»Ja«, antwortet er irrtiert. »Ist was passiert?«

»Nein, ich habe mich nur mit Dad gezofft.« Die Information dürfte auch für Sammy völlig neu sein, denn so schlimm, dass ich danach das Haus verlasse, habe ich mich noch nie mit ihm gestritten.

»Du – Okay – Weswegen?«, fragt er etwas überfordert.

»Erzähle ich dir, wenn ich da bin.« Mit den Worten lege ich auf und laufe weiter in Richtung seines Hauses. Dad wird sehen was er von seiner übertriebenen 'Fürsorge' hat. Ich werde ganz bestimmt nicht von meinem Ernährungsplan abweichen. Im Gegenteil: Ich will jetzt mindestens so viel Gewicht abnehmen, dass ich nur noch 65 Kilogramm wiege. Und das werde ich!

Nach fünfzehn Minuten erreiche ich Sammy Haus und klingel. Seine Mutter öffnet mir. »Oh, hey Giovanna, wie geht's dir? Komm rein.« Sammys Mum ist eine junggebliebene Frau Anfang vierzig. Sie hat das gleiche blonde Haar wie ihr Sohn und dazu wunderschöne grüne Augen und eine Topfigur. Es gab schon oft Momente, in denen ich eifersüchtig auf sie war. Und eifersüchtig auf Sammy, weil er so eine tolle Mutter hat. Weil er überhaupt noch eine Mutter hat.

»Hey Lydia. Mir geht's gut. Ich habe Sammy gefragt, ob ich vorbeikommen kann«, antworte ich freundlich und versuche den Ärger über meinen Dad hinunterzuschlucken.

»Klar, er ist oben.« Mit den Worten zieht sie sich wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sie mit ihrem Mann einen Nicolas Cage Film schaut, wie ich vom Flur aus sehen kann, und ich verschwinde nach oben zu Sammy.

Sammy liegt mit Kopfhörern in den Ohren auf seinem Bett und spielt irgendein Spiel auf seinem Handy. Als er mich jedoch sieht, zieht er sich die Stöpsel aus den Ohren, schaltet das Handy aus und setzt sich aufrecht in den Schneidersitz. Ich lasse mich ihm gegenüber plumpsen.

»Also, was ist passiert, dass du so dringend von zu Hause wegmusstest?«

»Dad unterstützt mich nicht. Kein bisschen«, beginne ich meinem Ärger über ihn Luft zu machen.

»Wobei?«, fragt Sammy irritiert.

»Bei meinem Trainingsplan, bei meinem Ernährungsplan, dabei, dass ich abnehmen will. An allem hat er etwas auszusetzen. Man, ich werde von Ginger schon jeden Tag kritisiert, da brauche ich nicht auch noch Dad, der mir sagt, dass ich das und das sein lassen sollte.«

»Hey, ich bin sicher, so meinte dein Dad das gar nicht.«

»Ja, er glaubt, er macht sich Sorgen um mich. Ich bin fast volljährig. Ich kann auf mich aufpassen.«

Sammy lacht. »Er ist dein Vater. Er muss sich Sorgen um dich machen. Das ist seine Aufgabe. Väter sorgen sich nunmal um ihre Töchter.«

Ich seufze. »Aber er könnte mich doch trotzdem unterstützen.« Resigniert fahre ich mir mit den Händen übers Gesicht.

»Ach, ich denke, du nimmst das alles ein bisschen zu wichtig.«

»Es ist mir wichtig, Sammy. Nach diesem hier müssen wir noch ein weiteres Schuljahr überstehen und ich habe nicht vor, mich auch dann weiterhin von Ginger fertigmachen zu lassen.«

»Da spricht ja auch gar nichts gegen, aber vielleicht hat dein Dad ein bisschen recht und du solltest wirklich langsamer machen. Ich meine, ich kann kaum noch Zeit mit dir verbringen, weil du jeden Abend im Fitnesscenter bist. Und ganz ehrlich: Glaubst du, Ginger wird aufhören, wenn du schlanker bist? Sie wird etwas anderes finden, mit dem sie dich demütigen kann. Einfach weil sie Spaß daran hat und nicht, weil sie möchte, dass alle Mädchen auf der Schule schlank werden.«

Ist das sein Ernst. »Das stimmt doch überhaupt nicht.« Muss er mir jetzt auch noch in den Rücken fallen? »Gerade bin ich zum Beispiel hier und an den Wochenenden unternehmen wir doch auch öfter etwas«, halte ich gegen seine Behauptung. Den zweites Teil seiner Aussage übergehe ich. Diese Option steht überhaupt nicht zur Auswahl.

»Ja, was mich wundert, da du eigentlich gerade beim Schwimmen sein müsstest. Und wenn wir ins Kino gehen, dann bestelle ich Popcorn für mich alleine. Du isst nicht mal mehr eine Pommes mit mir zusammen.« Enttäuscht sieht Sammy mich an und scheint seine Worte wirklich ernst zu meinen. »Du musst lernen mit dir selbst zufrieden zu sein. Nur dann wird Ginger dich in Ruhe lassen, weil sie merkt, dass dich ihre Worte nicht mehr treffen.«

»Ich bin zu dir gekommen, damit du mir recht gibst und dich nicht auf die Seite meines Vaters schlägst«, werfe ich Sammy vor und erhebe mich vom Bett. Irgendwie scheinen alle zu wollen, dass ich dick bleibe. »Ich werde mit mir selbst zufrieden sein! Sobald ich schlanker bin.«

»Wo willst du hin? Willst du jetzt wie bei deinem Dad die Flucht ergreifen?«

»Ja, denn wenn du der gleichen Meinung wie Dad bist, dann habe ich hier gerade nichts verloren.« Sammy hat kein Recht, enttäuscht von mir zu sein, bloß weil ich mir im Kino kein Popcorn mehr mit ihm teile. Ich bin enttäuscht. Weil er mein bester Freund ist und mir gerade in den Rücken fällt.

Entschlossen öffne ich seine Zimmertür und laufe die Treppe nach unten. Dort ziehe ich mir meine Schuhe an, während Sammy zwei Treppenstufen über mir steht und mir einfach nur dabei zuschaut.

»Wenn so viele Leute sagen, dass du langsamer machen solltest, dann solltest du vielleicht mal darüber nachdenken, ob etwas Wahres dran ist.« Mit den Worten dreht er sich um und geht die Stufen wieder hoch.

Perplex schaue ich ihm nach und spüre, wie sich neue Wut in meinem Bauch zusammenbraut. Er hat kein Recht, soetwas zu behaupten. Ohne mich von Lydia und Casper zu verabschieden verlasse ich das Haus und schlage wild irgendeine Richtung ein. Nachdem ich gut zwanzig Minuten ziellos durch die Gegend gelaufen bin, erkenne ich auf einmal, in welchen Teil von Brownsville mich meine Füße getragen haben.

Zwei Blocks von hier entfernt wohnt Ginger. Und wenn ich da vorne gleich um die Ecke biege, sehe ich die Kreuzug, auf der ich den Unfall gebaut habe.

Eigentlich müssten meine Füße stoppen, doch sie gehen weiter in die Richtung der Ampelkreuzung. Seltsamerweise fühlt es sich nicht merkwürdig an, hier zu stehen. Generell musste ich seit dem Unfall wenig an diesen Tag zurückdenken. Es ist nicht so, dass ich jetzt Angst hätte Kreuzung zu überfahren, wenn ich bei Sammy im Auto sitze. Eigentlich ist alles so wie immer.

Über diese Erkenntnis nachgrübelnd setze ich mich an einer Bordsteinkante auf den Boden und beobachte die vorbeifahrenden Autos, sehe, wenn ein Auto noch knapp über gelb fährt.

Plötzlich nehme ich die Bewegungen einer Person, die sich rechts neben mir niederlässt, wahr. Durchtrainierte Beine in einer dunklen Jeans geraten in mein Blickfeld und ich erkenne einen schwarzen Haarschopf.

Selbst wenn ich nicht beim Schwimmen bin, begegne ich ihm. Wie ist das möglich?

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