3 | Rundgeschickt

2.414 Worte

Nach dem Wochenende, das mehr Desaster als Entspannung war, muss ich mich wieder dem Schulalltag stellen und kann nur hoffen, dass Ginger nichts von der Aufnahme weiß und dass auch Reece nichts damit vorhat.

Normalerweise fährt mein Dad mich morgens, da diese Option dank dem von mir verursachten Autounfall aber nun flach fällt, nehme ich den Schulbus, der einen Block weiter jeden Morgen hält. Rasch quetsche ich mich in eine der Sitzreihen ans Fenster und stelle meine Schultasche auf meinem Schoß ab. Zum Glück lässt sich kein Schüler neben mich sinken. Warum auch? Wer will schon neben mir sitzen?

Auf dem Schulgelände angekommen, erwartet mich bereits Sammy, der mich wie gewohnt umarmt. Liebevoll erwidere ich die Umarmung. Von Ginger ist keine Spur.

»Hat Ginger ihren Schock von vorgestern abend immer noch nicht überwunden, oder was?«, frage ich, um meine Nervosität herunterzuspielen, und schaue mich irritiert auf dem Gelände um.

»Welchen Schock?«

»Ich habe ihr fast ein Büschel Haare ausgerissen«, antworte ich eher beiläufig, weil meine Augen die Umgebung immer noch nach potenziellen Angreifern abtasten, und schlendere mit Sammy auf den Schuleingang zu.

»Du hast was?«, fragt mein bester Freund leicht schockiert und reißt die Augen auf. »Warum hast du das gestern nicht erwähnt?«

»Ich wüsste nicht inwiefern, das relevant gewesen wäre.«

»Na, du hast dich gegen diese Stelzenschlampe zur Wehr gesetzt. Das ist doch toll.«

Mit einem Ruck drehe ich mich zu Sammy um und bleibe stehen, nehme ihm den Wind aus den Segeln. »Sammy, ich habe sie vor versammelter Mannschaft angegriffen und für einen kurzen Moment von ihrem Thron gestoßen. Glaubst du, das wird sie so einfach auf sich sitzen lassen? Verstehst du, warum sie auf keinen Fall von dieser Aufnahme wissen darf? Sie wird mich fertig machen.« Verzweifelt schlage ich die Hände überm Kopf zusammen und will gar nicht erst über die Folgen nachdenken. »Warum habe ich nicht einfach auf dich gehört? Warum habe ich bloß geglaubt, sie könnten tatsächlich anfangen mich zu mögen?«

»Hey«, sanft legt er mir eine Hand auf die Schulter und schaut mich mit festem Blick an, »jeder macht mal Fehler. Du hast dir einfach Hoffungen gemacht. Das ist doch verständlich. Und ehrlich: Ich habe mir wirklich gewünscht, dass sie dich endlich akzeptieren würden. Außerdem mache ich mir schon genug Vorwürfe, dass ich dich nicht stärker davon abgehalten habe.«

Ich nicke und presse die Lippen aufeinander, dann schlendern wir weiter. Als Sammy und ich den Eingang ins Schulgebäude passieren, ertönt gleichzeitig das Klingeln, das den Unterrichtsbeginn einläutet. »Mach dir nicht so einen Kopf. Wir sehen uns in der Pause«, verabschiedet er sich von mir und zieht mich nochmal in eine Umarmung, dann macht er sich auf den Weg zu seinem Kursraum.

Ich hole mir eben noch mein Buch aus meinem Schließfach und begebe mich zu Mathe. Zum Glück habe ich dieses Fach weder mit Ginger noch mit einem ihrer Gefolgsleute zusammen und kann für's Erste aufatmen, muss mich für kein Gefecht wappnen. Auch in Geschichte bleibe ich noch verschont, doch in Englisch kann ich ihr nicht mehr aus dem Weg gehen. Und ich habe keinen Sammy bei mir, der mir helfen könnte. Den sehe ich erst in der Mittagspause wieder.

Deshalb mache ich mich auf meinem Platz in der Mitte des Raumes so klein wie möglich und verstecke mich hinter meiner Tasche, die ich vor mir auf den Tisch stelle. Ginger ist noch nicht da.

Doch als sie, sich mit ihren treusten Gefolgsfreundinnen unterhaltend, den Raum betritt, bemerke ich das auch, ohne dass ich sie sehe. Ihr Stimme würde ich zwischen tausenden erkennen. Augenblicklich spannt sich mein gesamter Körper an und ich sinke noch ein Stück weiter auf meinem Stuhl zurück. Aber als sie an ihrem Platz vorbei auf mich zuläuft, weiß ich, dass ich einem erneuten Wortgefecht nicht ausweichen kann.

Langsam beugt sie sich zu mir herunter und flüstert mir bedrohlich zu. »Glaube ja nicht, dass ich schon mit dir fertig bin. Das, was du dich am Samstag gewagt hast, wird ein Nachspiel haben.«

Mein Herz schlägt wild gegen meine Brust. Ich bekomme kein Wort heraus. Aber das brauche ich auch nicht, denn Ginger wendet sich ohne auf irgendeine Reaktion meinerseits zu warten, direkt nach ihrer Drohung wieder ab und lässt sich auf ihrem Platz nieder.

Es kann nur einen Grund geben, warum sie mich nicht hier vorführt: Das Publikum ist ihr zu klein. Deshalb kann ich nicht mal aufatmen, weil sie mich noch in Ruhe lässt.

Ich bete, dass sie nichts von der Aufnahme weiß. Die gesamte Unterrichtsstunde ist für nichts anderes in meinem Kopf platz, sodass ich das Klingeln, das die Stunde beendet, fast nicht mitbekomme.

Nach Englisch habe ich noch eine weitere Stunde und in der Pause sehe ich Sammy endlich wieder. Bereits vor der Tür der Mensa erwartet er mich, musterst mich mit einem prüfenden Blick noch während ich auf ihn zulaufe.

»Siehst du, ich habe doch gesagt, das Reece die Aufnahme nicht an Ginger geschickt hat.«

»Woher willst du das wissen?«

»Na, weil du zwar besorgt aber im Großen und Ganzen noch ziemlich zufrieden aussiehst. Das heißt, Ginger hat dich in Ruhe gelassen.« Dass mein Todesurteil schon feststeht, ich nur noch keinen Termin kenne, verschweige ich ihm. Lächelnd legt mein bester Freund seinen Arm um meine Schultern und spaziert mit mir durch die Eingangstür der Mensa.

Doch nachdem wir unser Essen geholt und uns gesetzt haben, wünsche ich mir, dass wir diesen Ort heute niemals betreten hätten.

Hinter Sammy kommt Ginger mit ihrem Handy in der Hand auf uns zustolziert und bleibt vor unserem Tisch stehen.

Mit einem zuckersüßen Grinsen wendet sie sich an mich. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir noch nicht fertig sind.« Ein Tippen auf ihr Handy folgt und kurz darauf ertönen diverse Klingeltöne in der gesamten Mensa.

Meine Augen weiten sich vor Schreck, als ich begreife, was das gewesen sein muss, und meine Atmung wird panisch. Gleichzeitig sackt mein Puls in den Keller und alles Blut weicht aus meinem Gesicht.

»Du klingst echt süß, wenn du verzweifelt bist. Du hattest mit allem Recht. Sie haben mich reingelegt. Es war alles gespielt«, äfft sie meine weinerliche Stimme nach und spielt danach zum Beweis die Aufnahme ab. Die Aufmerksamkeit der halben Cafeteria inbesondere der Tische um uns herum liegt inzwischen auf uns.

Mein Kopf fühlt sich wie leergefegt an, weil ich unfähig bin auch nur irgendetwas zu tun. Ich starre einfach nur in Gingers Gesicht, spüre wie sich meine Mundwinkel von ganz alleine nach unten ziehen und Tränen meine Augen füllen. Trotzdem rasen gleichzeitig tausende von Gedanken durch meinen Kopf.

Warum verbündet Reece sich ausgerechnet jetzt mit Ginger? Ich wusste, dass sie diese Aufnahme gegen mich verwenden würde. Wahrscheinlich habe ich mit meiner Attacke auf sie, auch noch die letzte Chance auf Besserung zerstört. Sie wird mich niemals in Frieden lassen.

»Weißt du, ich habe fast gedacht, mit der Kostümfete hätte ich zu dick aufgetragen, aber du bist tatsächlich - « Der Inhalt einer Flasche Wasser trifft Ginger im Gesicht und bringt sie augenblicklich zum Verstummen. Gleichzeitig zieht Sammy mich vom Stuhl hoch, greift sich meine Tasche und führt mich so schnell er nur kann aus der Mensa.

»Das wirst du büßen«, vernehme ich noch Gingers wütendes Geschrei, ehe wir draußen sind und gib hinter der nächsten Ecke zwischen Spinden verschwinden.

Sofort zieht Sammy mich in seine Arme. Stumme Tränen fließen meine Wangen hinab und ich kralle mich in sein Shirt, weine hemmungslos an seiner Schulter. Wilde Japser nach Luft dringen immer wieder durch den Schulflur.

»Ich - Ich - Ich habe dir - gesagt, dass - sie die Aufnah - nahme gegen mich ver - verwenden wird, we - enn sie davon Wi - ind bekommt.«

Mein bester Freund erwidert darauf nichts, sondern hält mich einfach nur fest, schlingt so fest er nur kann seine Arme um mich. Versucht mir den Halt zu geben, den ich gerade brauche.

»Sammy!«

Ich höre erst, dass jemand nach ihm gerufen hat, als der blonde Junge scharf zurückzischt. »Verpiss dich Reece! Auf der Stelle!« Augenblicklich versuche ich meine Schluchzer einzustellen.

»Sammy, ich - «

Sammy wendet Reece halb den Rücken zu, um mich vor ihm zu verbergen, dreht seinen Kopf über die rechte Schulter. Ich vergrabe mich noch tiefer in seiner Schulter und versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Seine Stimme nimmt einen gefährlich drohenden Unterton hat. »Eine Bitte Reece. Ich hatte eine einfache Bitte an dich. Ich schwöre dir, wenn ich dich auch nur noch einmal in Giovannas Nähe sehe, mache ich dir die Hölle heiß. Das hast du eigentlich bereits seit Samstag verdient.«

Ich höre, wie Reece zu einer neuen Erklärung ansetzen will, aber direkt wieder verstummt und anschließend geschlagen weggeht. Sammy muss ihm einen seiner vernichtenden Blicke zugeworfen haben, die man dem leicht pumpligen Jungen gar nicht zutrauen würde.

Doch mir kreist ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf? Welche Bitte hatte Sammy an Reece? Seit wann bittet Sammy Reece überhaupt um irgendetwas?

Ichbfühle, wie die Finger meines besten Freundes zärtlichen über meinen Rücken streichen und merke, wie sich sein Brustkorb gleichmäßig hebt und senkt. »Gio, du musst dich endlich gegen Ginger behaupten. Wenn du ihr die Stirn bietest und das Ganze nicht mehr so sehr an dich heranlässt, dann ist es nicht mehr interessant, wenn sie dich demütigt«, vernehme ich seine Stimme an meinem Ohr und spüre, wie er einen Kuss hinter dahinter setzt.

»Ich schaffe das nicht«, spreche ich mit leiser Stimme in sein Oberteil, meine Tränen sind fürs Erste versiegt. »Ich schaffe es nicht, dass mir egal ist, was sie sagt.«

Sammy stößt einen großen Schwall Luft aus und schiebt mich anschließend auf Armeslänge von sich weg, wischt mir einzelne Tränen von der Wange und fixiert mich mit seinem Blick.

»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das schon gesagt habe, aber ich werde es solange weiter sagen, bis du mir endlich glaubst: Du bist ein toller Mensch, den man nur gerne haben kann, wenn man ihn erstmal richtig kennt. Ich bin froh, dich zu meinen Freunden zählen zu dürfen. Du musst nur endlich selbstbewusster werden. Es gibt so viele Menschen, die dich schätzen. Wenn du es zulassen würdest, dann könntest du dich auch mit meinen Freunden anfreunden. Also vertraue einmal auf das, was ich dir sage und hör auf dich selbst zu bemitleiden.«

Sammys letzter Satz versetzt mir einen Stich im Herzen. Bemitleide ich mich wirklich selbst? Stehe ich mir selbst im Weg?

»Hörst du?«, fragt Sammy noch einmal eindringlicher, als ich nicht antworte. »Du bist eine tolle Persönlichkeit und musst nur endlich aus dir rauskommen.«

Ich will Sammy darauf jetzt nicht antworten. Will mir nicht eingestehen, dass ich seit Monaten im Selbstmitleid versinke und einfach Ginger für alles verantwortliche mache, was in meinem Leben falsch läuft. Dabei müsste ich einräumen, dass Sammys Freundeskreis schon mehrfach versucht hat, mich zu integrieren, ich aber immer wieder abgeblockt habe, aus Angst sie könnten es nicht ehrlich meinen.

Und weil ich über all das nicht nachdenken will, stelle ich Sammy eine andere Frage: »Welche Bitte hattest du an Reece?« Seine Antwort überrascht mich.

Er seufzt. »Keine. Er hat sie ja ohnehin nicht befolgt.«

Sammy hat mir gegenüber noch nie Geheimnisse gehabt. Zumindest glaube ich das, aber wenn es um Reece geht, erzählt er plötzlich gar nichts mehr. Alles, was ich weiß, ist, dass die beiden, bevor ich an diese Schule kam, einmal miteinander befreundet waren. Mehr hat er mir noch nie erzählt. Es sei nicht relevant, weil es auch nichts an der Situation ändern würde.

Nach Pausenende gehen wir beide wieder in den Unterricht. Zum Abschied gibt Sammy mir noch einen sanften Kuss auf die Wange und sagt: »Lass dich nicht unterkriegen. Wir sehen uns nach dem Unterricht. Ich warte am Auto auf dich.«

Schon oft habe ich mich gefragt, warum ich mich nicht einfach in ihn verlieben kann. Er ist immer da, wenn es mir schlecht geht. Er war der erste, den ich vor zwei Jahren hier auf der neuen Schule kennengelernt habe. Er steht für mich ein, wenn Ginger auf mir herumhackt. Er kümmert sich um mich, er baut mich auf.

Und trotzdem spüre ich kein Kribbeln, wenn er mir einen Kuss auf die Schläfe gibt, wenn er meinen Rücken runterstreicht, wenn er mich in eine innige Umarmung zieht. Mein Herz beschleunigt sich nicht und mir wird auch nicht angenehm warm. Ich sehe ihm einfach einen engen Freund, einen Bruder, nicht mehr. Und ihm scheint es mit mir genauso zu gehen, also sollte ich froh sein, keine Gefühle für ihn zu entwickeln. Womöglich würde das alles zwischen uns zerstören.

Nach Schulende laufe ich durch den Schuleingang und will gerade die kleine Treppen runtergehen, als ich Sammy in Gegenwart von Reece erblicke, die am Fuße der Treppe stehen und wütend miteinander reden. Abrupt halte ich an. Reece ist völlig auf Sammy fokussiert und Sammy steht mit dem Rücken zu mir, weshalb sie mich nicht bemerken.

»Sammy, glaub mir, ich habe Ginger die Aufnahme nicht geschickt. Ich habe ihr nur davon erzählt, aber das war bevor du mich darum gebeten hast, sie für mich zu behalten. Und als sie wollte, dass ich ihr die Aufnahme zuschicke, habe ich abgelehnt. Sie muss sich mein Handy geschnappt und das selbst getan haben.«

»Ach, erzähl mir doch nichts. Du hast mir gesagt, du würdest die Aufnahme für dich behalten. Warum hast du das getan, wenn Ginger doch längst davon wusste?«, faucht Sammy zurück und ich sehe wie Reece verzweifelt nach Worten sucht.

»Ich - «

»Spar dir deine Ausreden. Du bist immer noch genauso feige wie vor drei Jahren. Dir ist dein Ruf und dein Ansehen wichtiger als irgendwelche Menschen. Halt dich einfach von Giovanna fern.«

»Du wirst doch niemandem davon erzählen, oder?« Reece Stimme klingt beinahe panisch und er blickt Sammy ängstlich an.

»Ich bin nicht wie ihr. Aber du solltest lernen, dass du eindeutig die falschen Freunde hast, wenn sie dich deswegen verstoßen würden. Eigentlich tust du mir nur leid.«

Reece will zu einer Erwiderung ansetzen, aber Sammy hebt die Hand und winkt ab, dreht sich von ihm weg. Damit die beiden nicht merken, dass ich ihr Gespräch belauscht habe, laufe ich die Treppen schnell weiter runter und tue so, als wäre ich gerade erst aus dem Schulgebäude gekommen. Den Schwarzhaarigen ignoriere ich dabei.

»Hey Sammy.«

»Hey Gio. Da bist du ja schon. Ich hatte gar keine Zeit zu meinem Auto zu laufen. Dann müssen wir das jetzt wohl gemeinsam tun«, lacht mein bester Freund und tut ebenfalls so, als wäre Reece Luft, als hätte er sich nicht gerade mit ihm gestritten. Sein Verhalten wird mir immer suspekter.

Wovon haben die beiden gerade eben geredet? Was verbirgt Reece und warum weiß Sammy davon?

A./N.: Ja, wovon haben die beiden wohl geredet? Was, denkt ihr, verbirgt Reece und wie kommt es, dass ausgerechnet Sammy davon weiß? Glaubt ihr, Reece hat Ginger die Aufnahme geschickt? Ich würde mich mega freuen ein paar Spekulationen von euch zu hören.

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