23 | Autofahrt

2.311 Worte

Traurig senkt er den Blick, schultert seine Tasche und lässt mich im Klassenraum zurück. Mit bebender Unterlippe und am ganzen Körper zitternd schaue ich ihm und den anderen Schülern nach.

Er ist noch nicht soweit.

Bedeutet das, dass wir irgendwann reden werden oder wollte er mir damit zu verstehen geben, dass unsere Freundschaft aus ist? Endgültig vorbei?

Ich fühle mich wie ein Baum ohne Wurzeln, wie ein Fisch ohne Flossen, wie Regen ohne Wolken. Etwas stimmt nicht, weil Sammy nicht da ist, um mir Halt zu geben.

Ob er sich auch so fühlt? Als würde ihm etwas fehlen ...

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass er nicht reden möchte, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es wirklich so kommt. Sammy war bisher immer bereit zum Reden.

Ich habe seine Gefühle in einer Weise verletzt, wie ich es mir nicht einmal vorstellen kann.

Nervlich am Ende packe ich meine Sachen zusammen. Dabei fällt mir ein Stift herunter, der unter den Nachbartisch rollt. Frustriert bücke ich mich danach und stoße mir beim Aufheben den Kopf.

Den Tränen nahe fasse ich mir an den Kopf. Der Stoß tat nicht sehr weh, aber meine Nerven liegen blank und inzwischen kann jeder Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen. Aus dem Grund pfeffere ich den Stift einfach in die Tasche und werfe sie mir über.

Auf dem menschenleeren Gang läuft mir Reece entgegen. Seine Lippen sind besorgt zusammengepresst, während er mich aus aufmerksamen Augen anschaut. Er weiß, wie das Gespräch gelaufen ist. Er muss Sammy begegnet sein.

Unschlüssig bleibe ich vor ihm stehen, während er den Kopf neigt. Der Wunsch von irgendjemandem in den Arm genommen zu werden und die gesamte Last für kurze Zeit abzugeben ist übermächtig und für einen Augenblick stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Reece mich an seine Brust zieht.

Wie so oft in letzter Zeit durchflutet mich bei der Vorstellung ein warmes Gefühl und ein Kribbeln läuft mir den Rücken hinab. Auf Sammys Berührungen hat mein Körper nie so reagiert.

Hat sein Körper so auf meine Berührungen reagiert?

Die Vorstellung macht mir Angst. Das würde bedeuten, ich wäre dabei, mich in Reece zu verlieben, obwohl aus uns niemals etwas werden kann. Selbst wenn er nicht mit Ginger zusammen wäre, lägen immer noch Welten zwischen uns, die keine Brücke jemals verbinden könnte.

»Was ist passiert?«, holt Reece mich aus meinen Gedanken. Seine blauen Augen sind auf mich gerichtet und wieder wird mir bei seinem Blick warm ums Herz.

»Er wollte nicht – Also er hat gesagt – Also ich habe gefragt und er hat gesagt, er, er ... « Ich stoppe, schlage mir eine Hand vor den Mund und schaue zur Seite, dann flüstere ich: »Er ist noch nicht so weit.«

Ein tiefer, ehrlicher Seufzer entfährt Reece. »Verdammt.«

»Wem sagst du das?«

»Hey.« Sanft stupst er meine herabhängende Hand mit seiner an.

Es ist nur eine kurze Berührung, aber sie bringt mein Herz zum Stolpern. Ich schaue zu ihm hoch.

»Er hat gesagt, er ist noch nicht so weit, das heißt nicht, dass er nie wieder mit dir reden möchte. Gib ihm einfach etwas Zeit.«

»Okay.« Ich nicke und ziehe halbherzig einen Mundwinkel nach oben. »Danke.« Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Ausgang.

Vor dem Schulgebäude, vor dem noch ein paar Schüler herumlungern, die Reece nicht weiter beachtet, fragt er: »Wie kommst du nach Hause?«

Vor Überraschung fängt mein Herz wild an zu klopfen. Will er mich mitnehmen? Vor ein paar Tagen noch wäre es undenkbar gewesen, allein mit ihm hier zu stehen und jetzt möchte er mich heimfahren?

Ich kann kaum glauben, welche Wandlung Reece binnen kürzester Zeit durchgemacht hat. Trotzdem zügle ich meine Hoffnung. Würde Ginger oder eine ihrer Speichelleckerinnen hier stehen, würde er einknicken. Da bin ich mir sicher. So schnell legt man alte Persönlichkeitsmuster nicht ab. Aber er arbeitet an sich. Mehr kann ich doch gar nicht verlangen.

Obwohl mir das Herz immer noch bis zum Hals schlägt, zucke ich betont gleichgültig mit den Schultern. »Wahrscheinlich nehme ich den Bus.«

Unsicher beißt er sich auf die Lippe und überlegt, was er als nächstes sagen soll. Bereut er, gefragt zu haben? Hat er gehofft, ich hätte eine Mitfahrgelegenheit? Die Vorstellung versetzt meinem Herzen einen Stich. Ganz fein nur, aber doch deutlich spürbar.

Als Reece immer noch nichts sagt, nehme ich ihm die Entscheidung ab. »Keine Sorge. Du musst mich nicht heimfahren«, sage ich mit einem leicht bitteren Ton und wende mich zum Gehen.

Sofort greift er nach meiner Hand und hält mich auf. »Warte. Ich ... Ich wusste nicht, ob du mit mir fahren würdest. Deshalb habe ich gezögert. Ich hätte nicht gefragt, wenn ich dich nicht mitnehmen wollte.«

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt und schaue schnell zu Boden. Natürlich habe ich ihm direkt das Schlimmste unterstellt, dabei wollte er Rücksicht auf mich nehmen. »Tut mir leid. Ich dachte – «

»Ich weiß, was du dachtest. Und ich kann es dir nicht verübeln. Ich bin ja selbst daran schuld.«

Zerknirscht, weil ich ihm ein schlechtes Gefühl gegeben habe, beiße ich mir auf die Unterlippe und schaue an ihm vorbei.

»Möchtest du denn, dass ich dich heimbringe?«

Plötzlich werde ich unsicher. Was bedeutet es, wenn ich jetzt mit ihm nach Hause fahre? Doch so schnell, wie sie Frage aufkommt, ist sie auch schon wieder verschwunden. Es bedeutet gar nichts. Er bringt dich einfach nur heim.

Ich nicke. »Gerne.«

Mit einer leichten Kopfbewegung bedeutet Reece mir, ihm zu seinem Auto zu folgen. Ich schultere meine Tasche neu und gehe ihm hinterher. An seinem Wagen zögere ich einen Moment mit der Hand auf dem Türöffner und denke daran, dass Sammy bisher der einzige Junge gewesen ist, mit dem ich alleine im Auto gefahren bin.

Ich schiebe auch diesen Gedanken beiseite, öffne die Tür und steige ein. Das Auto ist sauber. Es liegen weder Dosen im Fußraum noch ist die Mittelkonsole mit Verpackungen und Kaugummipapier zugemüllt. Ich muss schmunzeln, als ich einen leichten Apfelduft wahrnehme und das grüne Bäumchen entdecke, das unauffällig in der Beifahrertür klemmt.

Ich stelle meine Tasche auf meinem Schoß ab und drücke sie als Schutzschild an meinen Körper. Dann fische ich mit Zeige- und Mittelfinger das Duftbäumchen aus der Tür und halte es in Reece' Richtung.

»Das ist schon ein bisschen Klischee, oder?«, bemerke ich mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

Seine Augen blitzen belustigt auf, als er mich ansieht, und er sagt: »Ist es nicht viel klischeehafter, dass du mein Auto direkt beim Einsteigen unter die Lupe nimmst?«

Ertappt spüre ich, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Schnell drehe ich mich weg und stecke das Bäumchen zurück an seinen Platz, damit er nicht bemerkt, wie ich rot werde.

Ohne weiter darauf einzugehen steckt er den Schlüssel ins Zündloch und startet den Motor. Lässig dreht er sich nach hinten, legt seinen rechten Arm auf meiner Kopfstütze ab und manövriert uns aus der Parklücke.

Ihn so dicht neben mir zu wissen, lässt mein Herz wieder höher schlagen und es spielt beinahe verrückt, als ein leichter Hauch seines Deos zu mir herüberschwappt.

»Möchtest du etwas Musik hören?«, fragt er, während er den Vorwärtsgang einlegt und sich wieder nach vorne wendet. Sein Arm verschwindet von meiner Kopfstütze und lässt nur die Erinnerung daran, wie nah er mir gewesen ist, zurück.

»Was hörst du denn so?«

»Hier.« Überrascht stelle ich fest, dass er, während er vom Parkplatz rollt, sein Handy aus der Hosentasche zieht, per Fingerabdruck entsperrt und mir reicht. »Such dir was aus.«

Er will mir sein Handy geben? Entsperrt?! Zögerlich nehme ich es entgegen und betrachte den fast leeren Bildschirm. Er scheint kaum Apps installiert zu haben. Der Hintergrund zeigt ihn und ein Mädchen, das definitiv nicht Ginger ist. Es hat das gleiche Blitzen in den Augen wie er, wenn er grinst, und ihre kupferroten Haare leuchten wie Feuer.

»Ist das deine Schwester?«, stelle ich die naheliegendste Frage.

»Was?« Kurz ist er irritiert und wirft einen Blick zu mir, dann versteht er, was ich meine. »Ach so. Ja. Das ist Penelope.«

»Ihr habt das gleiche Lachen.«

»Ich weiß.«

Ohne weiter darauf einzugehen, öffne ich seine Musik und scrolle durch die Songs, während ich mich frage, was es über ihn und Ginger aussagt, dass er kein Bild von ihnen als Hintergrund benutzt.

Die obersten seiner meistgehörten Songs sind fast ausschließlich irgendwelche DJ-Lieder von Avicii und Kygo, die ich grob überfliege. Dazwischen tauchen immer wieder Lieder ganz verschiedener Bands auf, die mir alle nicht sonderlich viel sagen. Reece und ich scheinen nicht denselben Musikgeschmack zu teilen, deshalb klicke ich einfach wahllos auf eins und bin überrascht, was ich zu hören bekomme.

»Kennst du Ashes Remain?«, fragt er, weil es wahrscheinlich so wirkt, als hätte ich das Lied bewusst ausgesucht.

Ich schüttle den Kopf, kann aber nicht leugnen, dass mir der Song gefällt. Nicht ganz das, was ich sonst höre, aber definitiv nicht schlecht.

»Schade«, grinst er, »ich hatte schon Hoffnungen. Also, in welche Richtung muss ich fahren?«

»Nach links. Ich lotse dich.«

»Und? Was willst du jetzt wegen Sammy tun?«

Ich brauche einen Moment, um dem Themenwechsel zu folgen, dann zucke ich teilnahmslos mit den Schultern und schaue aus dem Beifahrerfenster. »Keine Ahnung. Wie du schon sagst: ihm Zeit geben.«

»Mhm«, murmelt er zustimmend und hängt dann weiter seinen Gedanken nach, während ich ihm zwischendurch sage, wo er abbiegen muss.

»Die nächste rechts und dann das fünfte Haus auf der rechten Seite.«

Vor der Auffahrt hält er an und lässt mich aussteigen. Ich will gerade die Tür zuschmeißen, als Reece sich über den Beifahrersitz lehnt und fragt: »Wir sehen uns aber morgen beim Schwimmen, oder?«

Ein warmes Gefühl breitet sich, ausgehend von meinem Herzen, in meiner Brust aus, während ich versuche das freudige Lächeln auf meinen Lippen zu verstecken. »Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte.«

🍭🍭🍭

Am nächsten Tag stecke ich in einer Zwickmühle. In Bioethik schaut Sammy mich immer noch nicht an, weshalb ich bete, dass die neunzig Minuten so schnell wie möglich vorbeigehen, aber in Musik bekomme ich plötzlich Angst vor der Pause und wünschte, die Zeit wäre nicht so schnell vergangen.

Es ist keiner da, mit dem ich sie verbringen kann ...

Ich kann nicht zu Sammys Freunden gehen, weil Sammy garantiert auch da sein wird und er ihnen bestimmt erzählt hat, was passiert ist. Wahrscheinlich kann mich jetzt keiner von ihnen mehr leiden.

Wird das von nun an so bleiben?

Werde ich jetzt jede Pause alleine verbringen?

Der Gedanke sorgt dafür, dass sich ein Knoten von gewaltigem Ausmaß in meinem Bauch formt und sich immer fester zuzieht. Dieses und das kommende Schuljahr ohne einen einzigen Freund zu schaffen, ist einfach unmöglich. Außerdem bin ich mir sicher, dass es mich früher oder später zu Gingers Zielscheibe machen wird, wenn sie mitbekommt, dass ich in Zukunft zu jeder Zeit alleine bin.

Ich lasse mir so viel Zeit, wie noch nie in meinem Leben, während ich meine Musikunterlagen zurück in meine Tasche räume und danach den Raum verlasse. Trotzdem ist nur ein mickrig kleiner Teil der Pause vorbei, als ich vor der Tür zum Kursraum im Flur stehe und mit nervösen Fingern den Riemen meiner Tasche knete.

Trotzdem überstehe ich die Pause irgendwie – hinten bei den Tischen, an denen niemand sitzen möchte. Diese Tische, die es in jeder Highschool gibt und an denen immer ein merkwürdiger Schüler sitzt.

Ich habe kaum Appetit, während ich das Essen auf meinem Teller mit der Gabel von links nach rechts und wieder zurückschiebe und mir zwischendurch einen Bissen in den Mund stecke.

Und wieder stecke ich in einer Zwickmühle, als die Pause endet und mir bewusst wird, dass ich jetzt erst eine Doppelstunde Französisch und dann eine Doppelstunde Literatur habe – beides mit Sammy.

Beides neben Sammy.

Es ist die reinste Qual.

Und kurzzeitig fällt mein Herz in sich zusammen, als ich begreife, wie es für Sammy gewesen sein muss, neben mir zu sitzen, Gefühle zu hegen, die weit über Freundschaft hinaus gehen, und zu wissen, dass sie nicht erwidert werden. So nah neben mir zu sitzen und zu wissen, dass ich doch ganz weit weg bin.

Wird das zwischen uns jetzt immer so bleiben? Werden wir jetzt bis zum Ende nebeneinander sitzen und so tun, als wären wir Fremde, die man noch nie in seinem Leben gesehen hat? Oder wird er sich irgendwann wegsetzen und dann mit jemand anderem während der Stunde die Aufgaben lösen und über die bescheuerten Dialoge im Buch lachen?

Falls es überhaupt möglich ist, zieht sich der Knoten in meinem Magen noch fester zusammen. Es wundert mich, dass mir noch nicht speiübel ist.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihm einen kleinen Zettel vor die Nase zu legen, aber dann denke ich an seine gestrige Reaktion.

Er ist noch nicht so weit.

Und ein Tag wird sicherlich nicht ausgereicht haben, um sich mit dem Chaos, in dem wir stecken, auseinanderzusetzen.

Ich male mit meinem Zeigefinger Kreise auf den Tisch, während ich versuche mich auf den Unterricht zu konzentrieren und überall anders hinzuschauen, nur nicht nach links.

Aber es ist so schwer.

Sammy Präsenz neben mir ist wie ein starker Magnet – je mehr ich versuche mich zu wehren, desto stärker wird seine Anziehungskraft, denn eigentlich will ich ihn nicht ignorieren.

Ich will mit ihm lachen, ich will mit ihm weinen, ihn in meine Arme schließen, gemeinsam mit ihm heimfahren, picknicken, wieder lachen und ihn doof nennen, weil seine Witze so schlecht sind.

Ich will ...

Aber ich bekomme nicht.

Als der Schultag endlich vorbei ist, bin ich gleichermaßen erleichtert und niedergeschlagen, weil ich nicht weiß, wie viele Stunden ich noch so neben Sammy verbringen kann.

Ich möchte meinen besten Freund wiederhaben!

Der einzige Lichtblick ist das Schwimmtraining am Abend. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber es ist tatsächlich so. Ich freue mich darauf, mit Reece zu schwimmen.

Hätte ich jedoch gewusst, was heute Abend passieren wird, hätte ich mir vielleicht noch einmal überlegt dort aufzutauchen.

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