21 | Weltuntergang

2.146 Worte

Manchmal gibt es Situationen im Leben, in denen man sich fragt, warum man diese Katastrophe nicht kommen gesehen hat. Man denkt darüber nach und auf einmal sieht man all die Vorboten, die die ganze Zeit über dagewesen sind, die man aber einfach nicht wahrgenommen hat.

Wie bei einem Gewitter. Wenn sich der Himmel langsam verdunkelt, die Vögel plötzlich verstummen und der Wind auffrischt. Aber man achtet nicht darauf, weil man mit seinen Freunden gemütlich bei einer Grillparty im Garten sitzt. Doch dann öffnet der Himmel schlagartig seine Pforten und es fängt an zu donnern und zu blitzen und von einem Moment auf den anderen wird man klatschnass.

Panisch springt man auf und flüchtet in Haus. Drinnen fragt man sich dann, wo dieser Sturzregen so plötzlich herkommt und wann es so dunkel draußen geworden ist. Manchmal erinnert man sich, wann die ersten Anzeichen kamen. Manchmal auch nicht.

Sammys Geständnis, dass er verliebt in mich ist, ist mein persönlicher Platzregen.

Und so sehr ich mich auch anstrenge, ich finde den Punkt, an dem seine Gefühle von freundschaftlich zu romantisch umgeschlagen sind, nicht.

Den gesamten Sonntag liege ich im Bett, starre auf die Kennzeichenfotos meiner Tante, die an der Wand hängen, und denke darüber nach, wie blind ich gewesen bin. Warum habe ich Addisons Worte so leichtfertig in den Wind geschlagen? Warum habe ich Sammy nicht einfach gefragt? Warum habe ich ihn nicht gefragt?

Und warum hat er nie mit mir über seine Gefühle gesprochen?

Doch schlussendlich lande ich immer wieder bei der gleichen Frage: Warum habe ich es nicht gesehen? Warum war ich so blind? War ich wirklich so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass alles andere nebensächlich war oder hat er sie so gut versteckt?

Ich denke an die vielen Umarmungen zurück, an die Küsschen, die er mir auf den Kopf gegeben hat ... nein, er hat seine Gefühle nicht versteckt. Er hat sie zwar auch nicht überdeutlich gemacht, aber versteckt hat er sie nicht.

Eine Hand an meine Brust gepresst wälze ich mich auf die andere Seite und starre in mein Zimmer. Shira schaut mit schiefgelegtem Kopf zu mir und ich schließe die Augen. Ich will gerade niemanden sehen, nicht einmal Shira.

Zwischendurch steckt Dad den Kopf in mein Zimmer, aber ich schicke ihn wieder weg.

🍭🍭🍭🍭🍭

In der Nacht von Sonntag auf Montag wälze ich mich schlaflos hin und her, weil ich nicht weiß, wie ich Sammy begegnen soll. In meinem Bauch zieht sich alles schmerzhaft zusammen, wenn ich daran denke, ihn in der Schule zu sehen.

Wie soll ich mich ihm gegenüber bloß verhalten?

Ich kann unmöglich auf ihn zugehen, aber genauso wenig möchte ich ihm aus dem Weg gehen. Sammy ist mein bester Freund. Er ist derjenige, der immer da war, seit ich hierher gezogen bin.

Ich – Wie soll ich das wieder geradebiegen?

Er hat mir seine Gefühle gestanden und ich bin weggelaufen.

Vollkommen fertig ziehe ich wie ein Embryo die Knie an die Brust und fange still an zu weinen. Am liebsten möchte ich laut aufschluchzen, weil mich der Schmerz in meinem Inneren fast zerreißt, aber ich habe Angst Dad zu wecken, also presse ich mir ein Kissen vors Gesicht, bis ich mich wieder etwas beruhigt habe.

Dann wird mir von Neuem bewusst, dass ich meinen besten Freund wahrscheinlich für immer verloren habe, weil ich mich nur für mich selbst interessiert und nicht wahrgenommen habe, wie es in ihm aussieht.

Also fährt der Schmerz in meinem Inneren erneut seine Krallen aus, um sie noch tiefer in mein Herz zu schlagen. Neue Tränen schießen mir in die Augen und mein ganzer Körper verkrampft, um den Schrei in meinem Inneren gefangen zu halten. Verzweifelt grabe ich die Hände in den Bezug meiner Matratze und balle sie zu Fäusten, um ein Ventil für den Druck zu schaffen, der sich in mir aufbaut.

In Wellen jagt der Schmerz über mich hinweg, bis ich in den frühen Morgenstunden vor Erschöpfung einschlafe. Kurz darauf reißt mich mein Wecker wieder aus dem Schlaf.

Für einen kurzen Moment glaube ich, einem schlimmen Albtraum erlegen zu sein und Erleichterung will sich in mir breitmachen, aber dann wird mir bewusst, dass ich nicht geträumt habe.

Ich spüre neue Tränen an die Oberfläche steigen, doch ich kämpfe sie nieder, indem ich die Decke zur Seite schiebe und mich vom Bett erhebe. Wie ein Geist mache ich mich an diesem Morgen fertig. Appetitlos stochere ich in meinem Frühstück herum und versuche dem Blick meines Dads auszuweichen. Was natürlich sinnlos ist. Auch ohne ihn anzuschauen merkt er, dass etwas gewaltig nicht stimmt.

»Gio, was ist los? Du hast dich gestern schon den gesamten Tag in deinem Zimmer verkrochen. Konntest du die Sache mit Samuel nicht klären?«, fragt er sanft.

Sofort ist es um meine Selbstbeherrschung geschehen. Meine Unterlippe fängt an zu beben und eine stumme Träne rinnt meine Wange hinab.

Ohne weitere Fragen zu stellen, steht mein Dad auf, zieht mich von meinem Stuhl hoch und schließt mich in seine starken Arme. »Hey, was es auch ist, es wird sich schon wieder klären. Ich kenne Samuel. Er kann dir niemals lange böse sein.«

Ich schluchze auf und kralle mich in Dads Shirt, weil ich weiß, dass es diesmal nicht so ist. Diesmal nicht. Aber ich bringe es nicht über mich, ihm zu erzählen, was passiert ist. Also löse ich mich irgendwann von ihm, reibe mir mit meinem Pulloverärmel die Tränen aus dem Gesicht und gehe wortlos ins Bad.

Ich sehe grausam aus. Meine Augen sind rot und verquollen – wenigstens sieht man so die tiefen Schatten darunter nicht – und meine Haare sehen aus, als würde ich die Knoten niemals wieder rausbekommen. Erneut den Tränen nahe stütze ich mich am Waschbecken ab und stehe einfach nur da ohne etwas zu tun.

Nach einiger Zeit klopft Dad an die Tür und fragt, ob alles okay ist, wir müssten in fünf Minuten losfahren. Als ich nicht antworte, öffnet er die Tür einen Spalt und spinkst hinein. Sobald er mich reglos vor dem Spiegel stehen sieht, öffnet er die Tür ganz und stellt sich hinter mich, während er mir eine Hand auf die Schulter legt. »Ach Schatz. Ich glaube, du bleibst heute besser zu Hause.«

Erleichtert Sammy heute noch nicht gegenübertreten zu müssen, drehe ich mich um und vergrabe mein Gesicht wieder an Dads Brust. Er hält mich einfach nur fest und streicht mir sanft über die Haare. »Ich muss los, mein Schatz. Schreib mir zwischendurch, okay?«

Die Nase ins T-Shirt gedrückt nicke ich und löse mich anschließend von ihm.

»Heute Abend bin ich wieder zu Hause. Dann sieht die Welt bestimmt ganz anders aus.«

Wieder nicke ich nur, obwohl ich weiß, dass es nicht so sein wird. Dann schlurfe ich nach oben in mein Zimmer, lasse mich rückwärts aufs Bett plumpsen und lege einen Arm über meine Augen. Wenig später fällt unten die Haustür ins Schloss und ich höre, wie Dad das Auto startet.

Shira krächzt leise und knabbert an den Gitterstäben zum Zeichen, dass sie gerne im Zimmer fliegen würde. Die ersten paar Minuten ignoriere ich sie, weil ich es nicht schaffe, mich von meinem Bett aufzuraffen, aber schließlich gebe ich mir einen Ruck.

Der arme Vogel kann nichts dafür.

Also schlurfe ich erst zu meiner Schreibtischschublade und schütte mir ein paar ungeschälte Sonnenblumenkerne in die Hand. Sofort legt Shira aufmerksam den Kopf schief und schaut zu mir rüber, weil sie das Geräusch erkannt hat.

Ich verberge die Kerne in einer Hand, während ich mit der anderen die Voliere öffne, an dessen Tür der Papagei bereits hängt. Erwartungsvoll hüpft sie von der Tür auf meinen Unterarm, den ich ihr hinhalte und klettert dann seitwärts weiter hinauf zu meiner Schulter, wo sie zärtlich mit ihrem Schnabel an meinem Ohrläppchen zupft.

Diese vertraute Geste weckt ein warmes Gefühl in meiner Brust, das für kurze Zeit den Schmerz verdrängt. Mit einem kleinen Lächeln im Gesicht halte ich Shira die volle Hand hin und sie beginnt genüsslich, die Schalen der Kerne aufzuknacken.

»Meine Süße.« Sanft reibe ich meinen Kopf an ihrem und blende alles andere aus. In diesem Moment gibt es nur Shira und mich. Wie vor ein paar Jahren, als Mum plötzlich einfach gegangen ist.

Also verbringe ich den Tag mit Shira, schreibe hin und wieder eine SMS an Dad und versuche möglichst alle Gedanken an vergangenen Samstag oder den morgigen Schultag zu verdrängen, obwohl ich weiß, dass das nicht der richtige Weg ist. Es wird mich morgen genauso überrollen wie heute.

Trotzdem schaffe ich es nicht, ins Auge zu fassen, was ich morgen tun müsste – nämlich mit Sammy zu reden.

🍭🍭🍭🍭🍭

Als Dad am nächsten Tag vor der Schule hält, traue ich mich nicht, einen Blick zum Eingang zu werfen. Zu groß ist die Angst, dass Sammy dort steht. Und noch viel größer die Angst, dass er nicht dort steht.

Dad legt mir eine Hand aufs Knie und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Du schaffst das, Schatz. Du bist stark. Das warst du schon immer.«

Ich versuche, sein Lächeln zu erwidern, aber ich spüre, dass es misslingt, also steige ich einfach aus. Mit dem Eingang im Rücken warte ich, bis Dad weggefahren ist, um den Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Als ich mich schließlich umdrehe, fühlt es sich an, als würden sich Dornenranken immer fester um mein Herz winden, bis es völlig zerfetzt ist.

Sammy steht nicht am Eingang.

Nicht weinen! Bloß nicht hier weinen, sage ich mir, während ich begreife, was das für unsere Freundschaft heißt: Es ist aus. Endgültig vorbei. Er kann mir nicht verzeihen.

Schnellen Schrittes, um irgendwo einen Ort zu finden, an dem weniger Schüler sind, laufe ich auf das Gebäude zu und beschließe, schon zu den Kursräumen zu gehen.

Das erste Unterrichtsfach, das ich heute habe, ist Biologie. Ausgerechnet Biologie!

Vor dem Raum angekommen lehne ich mich seitlich an die Wand und greife mir mit einer Hand an die Brust, um dem Schmerz, der darin tobt, entgegenzuwirken. Ich weiß, dass ich etwas tun muss, aber das Sammy nicht vor der Schule auf mich gewartet hat, trifft mich so entsetzlich tief, dass ich wie gelähmt bin.

Egal, wie sehr wir uns auch gestritten haben, Sammy war immer da. Wir haben uns angeschwiegen, wenn wir nebeneinander hergelaufen sind oder zusammen im Unterricht gesessen haben, aber er war immer da.

Dass er heute nicht da war, zeigt, wie sehr ich ihn verletzt habe. So sehr, dass ich glaube, es ist nicht wiedergutzumachen.

Als die ersten Schüler eintreffen, habe ich mich wieder soweit im Griff, dass mir keine Tränen mehr in die Augen steigen. Trotzdem spüre ich noch immer diesen dumpfen Schmerz in meinem Herzen, weil ein sehr wichtiger Teil davon fehlt.

Hoffnungslos, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, folge ich den Schülern in den Raum und setze mich auf meinen Platz. Ich lege gerade meine Unterlagen auf den Tisch, als Reece den Raum betritt.

Obwohl er immer noch glauben muss, dass ich ihn für sein Verhalten maßlos verurteile, verweilt sein Blick kurz bei mir. An seiner Reaktion sehe ich, dass meine Gefühle wahrscheinlich für jedermann sichtbar in meinem Gesicht stehen. Er runzelt kurz die Stirn, dann bemerkt er, dass ich ihn beobachte und geht weiter zu seinem Platz.

Ich stütze die Ellenbogen auf die Tischplatte und vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Das ist einfach zu viel – Sammy, Reece, Addison. Wie soll ich das alles wieder ins Lot bringen?

Vielleicht kann ich wenigstens das Missverständnis mit Reece heute Abend beim Schwimmen aus dem Weg räumen.

Die Doppelstunde Biologieunterricht zieht einfach an mir vorbei, ohne dass ich dem Unterricht groß folge. Als die Schulklingel ertönt, beginnt mein Herz laut zu klopfen.

Kunstunterricht.

Mit Sammy.

Mit zittrigen Händen packe ich meine Unterlagen in meine Schultasche und hänge sie mir über die Schulter. Reece hat den Raum schon verlassen.

Im Flur gehe ich mit langsamen Schritten, als befände ich mich auf dem Weg zu meiner Hinrichtung, zum Kunstraum. Einen Gang vorher bleibe ich wie vom Donner gerührt stehen. Wenige Meter von mir entfernt steht Sammy zusammen mit unserer Kunstlehrerin und macht einen gequälten Eindruck.

»Mir geht's leider überhaupt nicht gut, Miss Jicks. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich nach Hause gehe.«

»Du siehst auch ziemlich blass aus, Sammy. Bitte melde ich dich noch im Sekretariat ab, dann kannst du natürlich nach Hause gehen. Gute Besserung.«

»Danke.«

Miss Jicks wendet sich ab und geht zum Kunstraum, während Sammy sich in meine Richtung dreht und ebenso erstarrt stehen bleibt wie ich.

Zwei endlose Sekunden schaut er mich einfach nur an. Der Schmerz steht ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, als trüge er ihn auf einem blinkenden Reklameschild über seinem Kopf, aber ich bin unfähig, auf ihn zuzugehen.

Er schwänzt den Unterricht, um mir aus dem Weg gehen zu können.

Mein Herz fällt buchstäblich in sich zusammen, während mich eine neue Welle des Schmerzes überrollt.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen schultert er seinen Rucksack neu und stürmt mit gesenktem Blick an mir vorbei in Richtung Ausgang.

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