Zu spät
"Sie sind was?"
Die Stimme des Drachentöters klang eine Spur höher als sonst, und rauer als bei einer Erkältung. Thranduil sah auf und hob eine Braue.
"Sie sind geschlüpft, habt Ihr etwas an den Ohren? Hier, lest selbst." Er reichte ihm den Brief, mit einer so beiläufigen Geste, als sei es ihm gleichgültig, und ließ Bard einige Sekunden, das Geschriebene zu überfliegen, während er ins Feuer sah und mit leerem Blick die glühenden Funken verfolgte, die durch die heiße Luft stoben.
"Ich denke, wir beide wissen, worauf diese Versammlung hinauslaufen wird. Ich war zwar nicht darauf eingestellt, hier einer Hinrichtung beiwohnen zu müssen, aber einen anderen Ausweg gibt es nicht."
Bard ließ das Blatt sinken. "Hinrichtung?" Er lachte auf, in einem Ton, der nicht zu ihm passte. "Für welches Verbrechen? Für ihre Existenz?"
Der Blonde seufzte. Es war ein leiser, kaum hörbarer Ton, und Thranduil überraschte es festzustellen, dass er Bedauern dabei spürte. "Machen wir uns nichts vor - es ist die einfachste Methode, sie aus dem Weg zu schaffen. Und dass sie aus dem Weg geschafft werden müssen, brauche ich euch hoffentlich nicht erst zu erklären." Er fixierte die Scheite im Kamin und nippte an seinem Glas Wein, das er an diesem Abend noch kein einziges Mal aus der Hand gegeben hatte, gerade so, als wollte er den bitteren Geschmack verdrängen, den die Worte auf seiner Zunge hinterlassen hatten. Es bewirkte nichts.
"Aber muss man sie denn gleich töten?", entfuhr es Bard, und als er bemerkte, wie aufgebracht er klang, senkte er seine Stimme, oder nein; er versuchte, seine Stimme zu senken. "Es... es erscheint mir nicht richtig, das zu tun."
"Ist es moralisch verwerflich, die Menschen und Zwerge dieses Tals und dieses Berges vor ihrem Untergang zu bewahren?" Er wandte sich von dem Feuer ab und starrte ihn an, und in seinen Augen spiegelten sich die Flammen, fast so, als wären sie ein Teil von ihm. Es war das erste Mal, dass Bard in sein Gesicht sehen konnte, seitdem sie den Brief erhalten hatten, und was er in seinen Zügen lesen konnte, behagte ihm nicht. "Ihr habt gesehen, was Drachenfeuer anrichten kann, Ihr wart dabei."
"Ja", erwiderte er trocken, "es ist moralisch verwerflich, wenn dafür Kinder sterben müssen." Es war nicht so, dass er die Sichtweise des Elbenkönigs nicht verstand, denn er verstand sie sehr gut. Mit tauben Fingern faltete er das Schreiben zusammen, legte es auf den Tisch, an dem Thranduil saß und öffnete erneut die Lippen.
"Lasst uns anhören, was Thorin und seine Gemeinschaft dazu zu sagen haben, und lasst uns erst dann ein Urteil fällen."
"Nun, was bleibt uns auch anderes übrig..." murmelte der Blonde, nippte erneut an seinem Glas und sah wieder ins Feuer, als würde ihn der Anblick von seinen trüben Gedanken befreien.
Bard jedoch sah zum Fenster, das sie von der Dunkelheit abgrenzte, und hätte die Sonne geschienen, so hätte er die Bergmauern gesehen. Ihm war, als könnte er sie dennoch erkennen. Unklar, blass, verschwommen, wie ein Traum; ein Traum, der ihn aus irgendeinem Grund in Angst versetzte.
Verwirrt schüttelte er den Kopf und wandte sich ab.
~~~
Thorin spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Er spürte es in der Luft, die er atmete, in der Kälte, die durch seinen Mantel kroch, in dem Boden, der unter seinen Füßen zu beben schien. Es fühlte sich falsch an, nicht echt. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte.
Mit müder Hand tastete er an seine Stirn, denn sie schmerzte ihn auf eine andere Weise, als sie es sonst tat. Als seine Fingerspitzen auf kaltes Metall trafen, erstarrte er, ließ einige Sekunden verrinnen und verstand, dass er seine Krone trug. Das machte Sinn, sein Kopf fühlte sich schwerer an als üblich.
Erschöpft glitt seine Hand wieder hinab, strich unabsichtlich über seine Narbe, spürte, dass sie glatt war und nicht länger schmerzte. Sein Bart war länger geworden, er brauchte keinen Spiegel, um dieses Detail zu bemerken. Es war ein Detail, das ihn stutzig machte, doch er nahm es hin und verdrängte es aus seinen Gedanken, die er nach wie vor nicht verstand.
Als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf eine Tür.
Er konnte sie kaum sehen, denn wo immer er sich befand, waren alle Lichter erloschen, doch etwas an ihm schien zu wissen, dass sie existierte, dass sie genau an diesem Ort lag, den er nun fixierte und sich zum Ziel machte. Es dauerte nur einen Augenblick, ehe er sie erreichte. Sachte legte er seine Handfläche auf das raue, modernde Holz und drückte zu, bis sie nachgab. Die Tür blieb stumm und verriet ihn nicht.
Etwas in Thorin wehrte sich dagegen, sie hinter sich zu schließen, und so ließ er sie angelehnt, als wollte er eine Brücke lassen zwischen dem Raum, den er verlassen hatte und dem Raum, in dem er sich befand. Er tat es aus demselben Grund, aus dem Kinder ihre Eltern bitten, ihre Schlafzimmertür nicht zu schließen und er kam nicht umhin, sich dabei merkwürdig zu fühlen. Langsam ließ er den Blick durch das Zimmer gleiten.
Das Licht, das durch die hoch aufragenden Fenster fiel, hüllte die schmucklosen Mauern in ein dämmriges Blau, zeichnete lange, schwarze Schatten auf den Boden, die bis zu seinen Zehen reichten. Es waren die Schatten der Gitter, die vor den Fenstern angebracht waren, Gitter, die verbeult und brüchig schienen, als hätten sich Hände daran zu schaffen gemacht; Hände Gefangener, die Hoffnung gehabt hatten, wo keine mehr sein sollte. Die Seelen, die an diesen Ort gebracht wurden, waren verdammt, er konnte es spüren. Verdammt, zu scheitern. Verdammt, zu bleiben.
Er wusste nicht, ob es weise war, seinen Sinnen zu vertrauen, denn sie wirkten nicht wie die seinen, fühlten sich nicht an wie sonst, sondern waren von einer Intensität, die ihn erschaudern ließ.
Seine Nackenhaare richteten sich auf, als sein Blick eine Nische streifte, die vom Dämmerlicht verschont wurde. Ihm war, als hörte er seine Atemzüge lauter als zuvor, und er hielt die Luft an, lauschte in die Finsternis, die ihre gierigen Arme nach ihm ausstreckte, stimmlos nach ihm zu rufen schien, mit lockenden tonlosen Worten, die er nicht verstehen konnte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er erkannte, dass die Atemzüge nicht die seinen waren.
Es war kein Entsetzen, das ihn packte, keine Furcht, es war etwas, für das ihm keine Bezeichnung in den Sinn kam, und er bezweifelte, dass es überhaupt eine besaß. Seine Hand schnellte zu Orkrist, er hätte schwören können, es vor wenigen Sekunden noch nicht getragen zu haben.
Behutsam zog er das Schwert aus der Scheide, noch immer im Bann dieses namenlosen Grauens, das nicht zu ihm passte. Als er einen Fuß vor den anderen setzte, schien es, als sei nicht er es, der lief, sondern als stünde er unter dem Einfluss eines anderen. Vielleicht unter dem Einfluss dieses Etwas', das in den Schatten lauerte. Er wehrte sich nicht.
Die Atemzüge, die er bislang verfolgt hatte, begannen zu stocken und wurden ungleichmäßiger, je näher er ihrem Ursprung kam, doch sie waren schwer und nervös, und nach kurzer Zeit erkannte er, dass ihm ihr Klang vertraut vorkam. Er senkte sein Schwert, wusste plötzlich, er würde es nicht brauchen.
Und dann sah er es. Dort, wo sich die Wände trafen, im toten Winkel der Fenster. Er ging drei weitere Schritte und blieb stehen, wartete auf eine Reaktion dieser dunklen Silhouette, die auf dem Boden kauerte und seine Schritte belauschte. Für einige Sekunden geschah nichts.
Dann hob das Wesen seinen Kopf.
Als es Thorin erblickte, wich es in einer verängstigten Regung zurück, drängte sich mit dem Rücken gegen die Wand, als hoffte es, sie durchbrechen zu können um seinen Blicken zu entfliehen, und erst da erkannte der Zwerg, dass es in Ketten gelegt war. Ketten, die dick wie Taue von seinen Gliedern und um seinen Hals hingen, Ketten, die nun schwer über den Boden schleiften und dabei ein Geräusch erzeugten, das ihm in den Ohren schmerzte. Die Art, wie sich die Gestalt bewegte, hatte etwas an sich, das den Schwarzhaarigen an ein verwildertes Tier erinnerte, das er gegen seinen Willen in die Enge trieb. Er öffnete die Lippen, wollte ihm eine Frage stellen, verstand nicht, weshalb dieses Etwas ihn fürchtete. Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er ihm in die Augen sah.
Mit einem dumpfen Geräusch sank er auf die Knie.
Das Schwert glitt ihm aus der Hand, durch den Körper seines Gegenübers ging ein unkontrolliertes Zucken, als die Klinge den Boden traf.
Thorin spürte, wie etwas Heißes über seine Wangen glitt, als er begann, zu verstehen.
Die Augen, die ihn in blankem Entsetzen angestarrt hatten, blickten nicht zurück. Thorin war sich sicher, dass sie es in der Hoffnung taten, er würde sich wieder abwenden und gehen. Den Teufel würde er tun.
Die Haare der Gestalt waren ungepflegt, hingen in braunen, schulterlangen Locken an ihm hinab wie Halme nach einem Regenguss. Seine bleiche Haut erinnerte an zerkratztes Kerzenwachs, durchzogen von kleinen, verdächtigen Narben, die vor nicht allzu langer Zeit noch geblutet haben mussten.
Wären diese Augen nicht gewesen, Thorin hätte ihn nicht wiedererkannt.
"B-bilbo...", hauchte er, doch die Tränen erstickten seine Stimme.
"Bilbo, was... was ist mit dir?" fragte er, wollte sich aufrichten, ihn in die Arme nehmen, irgendetwas tun, damit er sich nicht so nutz- und hilflos fühlte, doch sein Körper hielt seinem Willen entgegen. Er erhielt keine Antwort. Sein Blick fiel auf die aberwitzig vielen Narben auf der Haut des nun zitternden Halblings, es waren Narben von verdächtiger Präzision, keine Narben, die man in einem Kampf davontrug.
Seine Lippen bebten, als er weitersprach. "Wer hat dir das angeta-"
"Oh, tu nicht so, als wüsstest du das nicht!", fauchte der Meisterdieb mit rauer, gepeinigter Stimme, einer Stimme, die Thorin nicht wiedererkannte, und er schreckte zurück, ohne dass er es wollte. "Wir wissen beide, dass du das warst."
Langsam hob er den Kopf, in seinen geröteten, zu Schlitzen verengten Augen eine Abscheu, die dem Schwarzhaarigen das Herz brach.
"Ich hätte gehen sollen, als ich es noch konnte", kam es Bilbo über die Lippen, ehe er dem Gewicht seiner Ketten erlag, den Kopf wieder fallen und seine Schultern wieder sinken ließ, die er zuvor angespannt hatte. Es mochte aus Furcht geschehen sein, oder aus etwas Stärkerem, Thorin konnte es nicht sagen.
In einer unsicheren Bewegung hob er seine Hand, wollte nach einer der Ketten greifen, die den Körper seines Halblings umwanden wie im Kampf erstarrte Schlangen, wollte sie von ihm reißen, wenngleich er ahnte, dass seine Versuche vergeblich sein würden. Kaum dass Bilbo sein Vorhaben erkannte, zuckte er zusammen, bedeckte sein Gesicht, doch er bewegte sich zu abrupt und das Metall schnitt sich in sein Fleisch. Er schien es kaum zu bemerken.
"Fass mich nicht an!", schrie er, und als er zu wimmern begann, ließ Thorin seine Hand sinken, gelähmt von dem Schmerz, mit dem sein Herz auf Bilbos Worte reagierte. "Nie wieder. Ich flehe dich an."
"Wie soll ich dir helfen, wenn du mich nicht an dich heranlässt?" fragte er, in der Hoffnung, ihn zur Einsicht zu bringen und in der Erwartung, dass es nichts bringen würde. Und plötzlich erkannte er, was für ein Gefühl das war, das auf seinen Schultern lag, seit er den Raum betreten hatte. Es war das Gefühl von Niederlage. Als hätte er versagt; einen Kampf verloren, von dem er nicht wusste, dass er ihn geführt hatte, nicht bis zu diesem Augenblick. Die Schwere seiner Glieder, der Klang seiner Stimme, diese schmerzende Kälte in seiner Brust, all das fühlte sich nach Scheitern an, als hätte er gekämpft und verloren, ohne zu wissen, wem oder was dieser Kampf galt oder nutzte. Seine Tränen vereinten sich zu einer Lache, in der sich etwas spiegelte; vielleicht waren es die vergitterten Fenster, vielleicht waren es Erinnerungen an eine Zeit, die nun Jahre zurücklag und nach denen er sich so verzweifelt sehnte.
"Du kannst mir nicht mehr helfen", wisperte Bilbo, "das kann niemand."
Und schließlich hob er den Kopf, in einer langsamen, schwerfälligen Bewegung, und seine Augen schimmerten auf eine andere Art als zuvor. Thorin sah, wie sie hinter den zotteligen Strähnen aufblitzten, die ihm ins Gesicht gefallen waren. Auf seinen dünnen, rauen Lippen erschien der Beginn eines Lächelns, das seine Züge entstellte und dem Schwarzhaarigen einen Schauer über den Rücken jagte. Es war kein glückliches Lächeln, wie hätte es glücklich sein können. Es war ein Lächeln, das Thorin verriet, dass sein Gegenüber langsam aber sicher dem Wahnsinn verfiel.
"Ich wünschte, du hättest es damals getan und mich den Wall hinuntergestoßen", sprach er, starrte ihn an, mit diesen großen, braunen Augen, die Thorin einmal geliebt hatte. "Ich wünschte, du wärst in dieser Schlacht verreckt. Es wäre besser gewesen, für jeden von uns."
Er hatte nicht die Kraft, ihm zu widersprechen. Er fühlte sich, als besäße er kein Recht dazu, kein Recht es zu leugnen oder ihn zu korrigieren. Weshalb konnte ihn diese Stimme so sehr verletzen, diese Stimme, deren Klang ihm mit einem Mal so fremd war?
Vielleicht, weil sie die Wahrheit sprach?
Die Wahrheit ist die schärfste aller Klingen, das war sie schon immer.
Er konnte spüren, wie sie seine Brust durchdrang.
"Du weißt, dass das hier ein Traum ist", flüsterte Bilbo nach einer Weile.
"Los doch, verschwinde. Verlass mich, so wie du es immer tust. Wach auf, bevor es zu spät ist."
Thorin öffnete die Lippen, erkannte in den Augen seines Gegenübers eine Reflexion, die ihn verwirrte. "Zu spät wofür?", wollte er fragen, doch er kam nicht mehr dazu.
Als er an sich herabsah, erkannte er, dass er in Flammen stand.
~~~
In dem Moment, in dem er die Augen aufschlug, war ihm, als spürte er sie immer noch. Die Flammen, die sich in sein Fleisch fraßen, ihm die Haut versengten.
Schweißgebadet schlug er die Decke beiseite, setzte sich auf, stöhnte, als er nach seinen Wunden tastete, presste die Zähne aufeinander. Sie brannten wie Feuer; diesen Teil seines Traumes fand er wahr, und er ertappte sich bei der Hoffnung, dass dieses Detail das einzige war, das der Wahrheit entsprach, ertappte sich dabei, wie seine Hand an sein Kinn schnellte und wie erleichtert er war, festzustellen, dass sein Bart dieselbe Länge wie sonst besaß.
Sein Kissen war trocken; er hatte nicht wirklich geweint, es hätte ihn auch gewundert. Seine Tränen waren aufgebraucht.
Stumm biss er sich auf die Unterlippe, stützte sich mit der rechten Hand auf der Matratze ab und presste die andere auf den Verband, der sich nach wie vor um seine Brust spannte. Es brachte nicht viel, doch es machte einen Unterschied, und das Brennen ließ nach.
Sein Blick fiel auf ein Glas Wasser, das auf dem Tisch am anderen Ende des Raumes stand, und erst da bemerkte er, wie durstig er eigentlich war, fasste den Entschluss, sich zu erheben und hob vorsichtig seine Beine über die Bettkante. Im Traum hatten sie ihm nicht gehorcht, und auch jetzt taten sie es nicht, und zitterten als lägen sie in einem Krampf. Einen kurzen Moment lang ließ er sie ruhen, ehe er sich aufrichtete und mit benommenen Schritten auf den Tisch zuhielt.
Das Glas leerte er in wenigen Zügen, er hatte es gebraucht, doch es half ihm nicht, sich besser zu fühlen. Müde ließ er seinen Blick zu dem kleinen Stück Himmel gleiten, das er durch das Fenster betrachten konnte, versank in seinem dämmrigen Blau und in dem Traum, an den ihn dieses Blau erinnerte.
Dieser Traum hatte ihm nicht die Augen geöffnet, er bestärkte ihn nur in dem, was er all die Zeit befürchtet hatte, ohne es sich einzugestehen. Er hatte ihm gezeigt, wie alles enden könnte.
Gestern hatte er Bilbo darum gebeten, sich vor ihm in Acht zu nehmen. Wie närrisch das doch gewesen war. Bilbo würde sich nie vor ihm in Acht nehmen, wie könnte er das, nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war...
Vielleicht hätte er ihn an diesem Abend nicht küssen dürfen. Vielleicht hätte er auf einen Abschied bestehen sollen, standhaft bleiben sollen. Er schüttelte den Kopf. Wozu? Das hätte Bilbo das Herz gebrochen. Um sein eigenes hätte es ihm nicht leidgetan.
Seit wann war er so schwach geworden? So unsicher, so verletzlich? Was hatte ihn zu diesem Wrack gemacht, war er das selbst gewesen? Vielleicht war das der Preis; der Preis, den Liebende zahlen müssen; in der ständigen Angst zu leben, dass bald alles vorbei sein könnte. Vielleicht war das das Problem. Dass er fürchtete, Bilbo zu verlieren, indem er sich selbst verlor.
Vielleicht sollte ich jetzt zu ihm gehen, ging es ihm durch den Kopf, während er den Himmel betrachtete. Ihm von seinem Traum erzählen, ihm sagen, dass er drauf und dran war, seine Zuversicht zu verlieren, die er sich so mühsam erkämpft hatte.
Doch er tat es nicht.
~~~
Ein paar Stunden später saß Bilbo mit den anderen in der Küche, ohne etwas von Thorins Traum erfahren zu haben.
Der Morgen war weiter vorangeschritten und schickte einen dünnen, goldenen Strahl durch das geöffnete Fenster, der ihnen verriet, dass sich die Wolken lichteten. Normalerweise vermochte dies Bilbos Laune zu bessern, doch aus irgendeinem Grund blieb sie so trüb wie zuvor. Nun, nicht aus irgendeinem Grund. Er kannte den Grund sehr gut.
"Schläft Thorin noch?" fragte Kili schließlich, da es sonst keiner tat.
Bilbo schüttelte den Kopf und starrte in seine Tasse. "Ich hab an seine Tür geklopft, und es kam keine Antwort. Sein Zimmer war leer - ich dachte, er wäre bei euch."
"Mir lief er vorhin über den Weg", meinte Dwalin mit rauer Stimme. "Ich hab ihm geraten, sich noch ein oder zwei Stunden auszuruhen, aber ihr kennt ihn. Wahrscheinlich ist er nur ein bisschen durch den Wind, die letzten Tage waren recht... ereignisreich. Gebt ihm ein wenig Zeit."
Sie nickten.
"'Ein bisschen durch den Wind' waren wir auch gestern", meinte Bofur schließlich, als hätte er seit Minuten auf den richtigen Moment gewartet, das Eis zu brechen. "Heute Morgen hab ich mich noch gefragt, ob es vielleicht nur ein Traum war." Als Bilbo seinen Blick hob, lächelte er. "Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt, und ich werde hinter euch stehen, was immer auch geschieht. Ich will nur, dass du das weißt."
Der kleine Hobbit spürte, wie er rot wurde, räusperte sich und erwiderte das Lächeln zaghaft. "Ich danke dir", entgegnete er aufrichtig, und wandte sich den anderen zu, um seine Worte zu ergänzen. "Ich... ich danke euch allen. Dass ihr diese... Sache so gut aufnehmen würdet, hatte ich nicht zu hoffen gewagt."
"Es könnte daran liegen, dass viele von uns diese... Sache bereits erahnt haben, bevor sie überhaupt zustande kam", meinte Fili in einem amüsierten Ton und nippte an seiner Tasse, was seinem Satz eine gewisse Beiläufigkeit verlieh, als wäre es das Normalste auf der Welt. Auf irgendeine Weise war Bilbo ihm dankbar dafür.
"War es wirklich so offensichtlich?"
"Offensichtlicher als offensichtlich." Er lachte. "Nein, im Ernst, es freut mich, dass es nun endlich gesagt wurde. Das macht es leichter, für jeden von uns. Auch wenn ich mich erst noch daran gewöhnen muss, dass ihr zwei nun ein Paar seid."
"Glaub mir, da geht es mir nicht anders", seufzte der Halbling und beschloss, das Thema zu wechseln. "Lassen wir das. Haben die Drachen heute schon etwas bekommen?"
Dwalin schüttelte den Kopf. "Darum wollte ich mich gerade kümmern." Es schien fast, als wäre er erleichtert, den Raum verlassen zu können, als er sich erhob und nach dem Eimer griff, der neben der Anrichte stand.
Bilbo und die anderen beschlossen, sich in der Zwischenzeit um den Abwasch zu kümmern, doch sie sollten nicht weit kommen. Es waren keine fünf Minuten verstrichen, als Dwalin wieder zur Tür hereinstürmte.
Der Eimer in seiner Hand war noch voll, sein Blick glitt verwirrt von einem Zwerg zum nächsten, ehe er die Lippen öffnete.
"Habt ihr sie in einen anderen Raum gebracht?"
Der Ton, mit dem Dwalin diese Frage stellte, schickte Bilbo einen Schauer über den Rücken und erweckte in ihm eine tiefe Unruhe, eine böse Vorahnung darüber, was diese Frage zu bedeuten hatte.
Kili schüttelte den Kopf. "Wie kommst du darauf?"
"Also nicht?"
"Nein."
Der Zwerg stieß ein Seufzen aus, das einem Knurren nicht unähnlich war, bevor er den Eimer zu Boden stellte und etwas murmelte, das den Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. "Bei Mahal, wir hätten stärkere Ketten nehmen sollen..."
"Gibt es ein Problem?" fragte eine Stimme hinter seinem Rücken.
Noch ehe sie sich umwandten, erkannten sie, dass es Thorins Stimme gewesen war.
Sein Blick traf zuerst den des Halblings, und er ruhte lange dort, wenn Bilbo sich nicht irrte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihn sein Zeitgefühl verließ, er kannte Momente wie diesen. Kurze Momente, die zu einer Ewigkeit werden konnte, wenn er nicht vorsichtig war. Kurze Momente, in denen Worte nicht zählten.
Seine Augen waren anders als sonst, und auf den ersten Blick konnte er nicht sagen weshalb, konnte nur spüren, wie seinem Herzen anders zumute wurde, als er in ihnen ertrank. Er war sich sicher, dass sie ihm etwas sagen wollten, diese Augen, doch ihre Botschaft blieb ihm verschlossen, verbarg sich hinter diesem traurigen, sehnsüchtigen Schatten, den Thorin ohne Absicht trug und der ihm wohl selbst nicht einmal aufgefallen war.
Bilbo hingegen erkannte ihn. So deutlich, dass es ihm Angst machte.
"Ein Problem?", hörte er Dwalin sagen, und der Moment verschwand. "Zwei, um genau zu sein. Die beiden Vögelchen sind ausgeflogen." Durch die Menge ging ein Raunen.
Der Schwarzhaarige sah ihn an, als hätte der Zwerg eine Sprache gesprochen, die ihm fremd war. Dann, es mochten einige Sekunden verstrichen sein, konnte Bilbo erkennen, wie seine Züge härter wurden, wie sich seine Augen ein kleines Stück weiteten, und wie an die Stelle des Schattens, den er zuvor beobachtet hatte, ein kaltes Grauen trat. Seine Lippen öffneten sich, als wollte er etwas sagen, doch sie blieben stumm, als gehorchten sie ihm nicht länger.
Schließlich ging er los.
Bilbo und die Zwerge folgten ihm, halb benommen von Dwalins Feststellung. Thorin lief in schnellen Schritten, die - wie der kleine Hobbit bemerkte - nicht so sicher wirkten wie sonst. Es dauerte nicht lange und sie erreichten die Tür, die nun sperrangelweit offen stand und einen breiten Strahl des Morgenlichts auf den Boden des Flures schickte.
Kaum dass Thorin über die Schwelle getreten war, eilte er auf die Stelle zu, die den verschwundenen Brüdern als Schlafplatz gedient hatte, kniete sich nieder und legte eine Handfläche auf den Boden, tastete das Stroh ab, um zu fühlen, wie warm es war. Das Resultat schien ihm nicht zu gefallen, denn Bilbo konnte beobachten, wie sich sein Kiefer anspannte.
Der Blick des Zwergenkönigs glitt über die schwarzen Ketten, bemerkte, dass jeweils das Halsstück fehlte und dass ein entscheidendes Glied aufgebogen war. Er griff danach und hielt es sich vor die Augen, damit es auch die anderen im Raum erkannten. "Sie sind kräftiger als wir annahmen", murmelte er mit Zorn in der Stimme und ließ das Stück zu Boden fallen. Schließlich erhob er sich und sah zu Dwalin, als wäre ihm ein Einfall gekommen. "Aber können wir sicher sein, dass sie fortgeflogen sind? Sie könnten überall sein, auch im Berg."
Der Angesprochene schüttelte den Kopf. "Die Tür war verschlossen."
Noch ehe Dwalin den Satz zu Ende gesprochen hatte, eilte Thorin zum Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte hinab. Sie wussten, aus welcher Überlegung er es tat. Der Gedanke, dass Smaugs Söhne den Zweck ihrer Flügel erkannt und hinfort geflogen waren schien weniger einleuchtend als der Gedanke daran, dass ihr Fluchtversuch gescheitert war. Es waren noch Kinder, wie sollten sie wissen, wie man fliegt?
Die Felsen unterhalb des Fensters wären ihr sicherer Tod gewesen. In der furchtbaren Erwartung, ihre zerschmetterten, leblosen Körper sehen zu müssen, beugte sich Thorin ein kleines Stück weiter über den Rand und atmete unwillkürlich auf, als sich diese Erwartung nicht erfüllte. Stumm wandte er sich um und schüttelte den Kopf.
Die Erleichterung, die Bilbo dabei überkam, währte nicht lange. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Balin sich aus der Menge löste und schließlich zu dem Schwarzhaarigen an das Fenster trat.
"Wir müssen die Menschen warnen", kam es Thorin über die Lippen, in einem trockenen Ton, der Bilbo verriet, dass etwas nicht mit ihm stimmte.
Balin nickte. "Jemand von uns sollte nach Thal und es ihnen sagen."
"Das kann ich übernehmen", hörte der Halbling sich sagen, ehe er nachdachte, überrascht darüber, wie entschlossen seine Stimme klang.
Thorin hob den Kopf und sah ihn an, und als sich ihre Augen trafen, gefror Bilbo das Blut in den Adern; nicht auf dieselbe Weise wie es früher geschehen war, sondern auf eine sanftere Art. Sie hatten nicht viel Zeit, das wussten sie, und doch schien es, als würde der Schwarzhaarige zögern, während er ihn betrachtete als sähe er ihn das erste Mal an diesem Morgen; sein Blick war einer Natur, an der Bilbo schon oft verzweifelt war, er schien so seltsam privat, ja fast schon intim, so seltsam bedeutungsschwer.
Schließlich senkte Thorin den Kopf zu einem Nicken.
"Wartet", kam es von Balin, der noch immer am Fenster stand, seinen Blick an etwas geheftet, was den anderen verborgen blieb. "Ich fürchte, diesen Weg kannst du dir sparen..."
Und als er diesen Satz sprach, mischte sich ein sonderbar vertrauter Klang unter seine Worte, und sie erstarrten, als sie ihn erkannten.
Es war der blasse Klang von Glocken, die in der Ferne zu läuten begannen.
-------------------------------
Ich hab nächste Woche ein Vorstellungsgespräch in Bayern und bin so verdammt nervös.
Meh.
Aus Zeitgründen und so weiter bin ich mir zudem ziemlich sicher, dass der nächste Teil wieder etwas länger auf sich warten lassen wird, mein Gehirn bringt zurzeit irgendwie nichts brauchbares zustande. I'm sorry.
Ich geh jetzt mal Tee trinken und meine Kakteen gießen.
In diesem Sinne...
Lebt wohl.
*steckt sich den Ring an den Finger und verschwindet*
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top