Von Eicheln und Ponys

"Er ist mein Freund, Gandalf! Der engste, den ich je hatte! Und der, der mir am meisten bedeutet..."

"Das weiß ich, Bilbo. Und glaube mir, das beruht auf Gegenseitigkeit."

"Warum verstehst du dann nicht, dass ich gehen will? Gehen muss?"

Der kleine Hobbit war in Rage. Vor wenigen Stunden noch war er sich sicher gewesen, dass alles gut werden würde. Dass er einen Weg finden würde, um mit allem abzuschließen. Um mit Thorin abzuschließen und einfach alles so zu akzeptieren, wie es nun einmal war. Doch dieses Gefühl der Hoffnung und Sicherheit war nun dem Gefühl des Pflichtgefühls und der Unvernunft gewichen. Bilbo spürte, wie Zorn und Tränen in ihm aufstiegen und kurz davor waren, auszubrechen. Thorin brauchte ihn.

Der Zauberer blieb ruhig und senkte seine Stimme zu einem tiefen, eindringlichen Flüstern.

"Mit der Drachenkrankheit ist nicht zu scherzen. Gerade du solltest das wissen!"

"Aber... aber Thorin hatte sie schon besiegt! Seit der Schlacht der fünf Heere und bis zu meinem Abschied war er wieder vollkommen er selbst! Ich... ich fühle mich schuldig, Gandalf. Vielleicht bin ich der Grund, weshalb er wieder dem Wahnsinn verfallen ist... Damit könnte ich nicht leben." Er schloss die Augen. Eine warme Träne rann seine Wange hinab und ließ ihn bei dem Gedanken an Thorin erschaudern. Was mussten er und seine Freunde wohl gerade durchmachen?  

"Du fühlst dich schuldig?"

"Ja..." Bilbos Stimme war nur noch ein Flüstern.

"Wie kommst du auf den Gedanken, dass du der Grund für Thorins Krankheit bist? Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen. Niemand kann etwas dafür, und du schon gar nicht."

Der kleine Hobbit atmete tief durch. "Ich... ich habe gemerkt, dass... Nun ja, dass Thorin meine Abreise näher ging, als er es mir gegenüber zu zeigen wagte."

Der Zauberer wölbte eine Augenbraue. Bilbo spürte, wie er seinen prüfenden Blick über ihn streifen ließ. Ahnte er, dass der Hobbit das Gespräch zwischen ihm und Thorin mitangehört hatte? Nein, völlig unmöglich. Oder?

"Ich halte es nicht für weise, dorthin zurückzukehren."

Bilbo lachte auf. "Ach, ich soll meine Freunde also einfach ihrem Schicksal überlassen? Sie im Stich lassen? Das habe ich nie getan und werde es auch in Zukunft nicht tun!"

"Das habe ich auch nicht von dir verlangt. Und ich bin überzeugt davon, dass wir ihnen helfen müssen. Ich zweifle nur daran, dass du etwas ausrichten kannst. Du würdest dich - und das leider nicht zum ersten Mal - unnötig in große Gefahr begeben!"

"Gandalf! Du hast mich in dieses Abenteuer verwickelt. Und ich habe mich bis jetzt ganz gut durch die Gefahren geschlagen, würde ich sagen - immerhin stehe ich noch vor dir! Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich zurück nach Beutelsend gehe und allem den Rücken zuwende!"

"Jetzt geht der Tuk mit dir durch, Bilbo Beutlin! Sei kein Narr! Du hast Filis Worte gelesen! Die Drachenkrankheit ist stärker denn je! Wenn er dich schon zu Beginn der Schlacht den Wall hinunterstürzen wollte, was wird er dann erst jetzt tun?! Wenn er sich deines Verrats erinnert und - " Bilbo unterbrach ihn.

"Mein Verrat? Er hat den Arkenstein wieder! Er hat mit Elben und Menschen Frieden geschlossen! Er hat keinen Grund mehr, auf mich wütend zu sein! Ich habe keine Angst vor Thorin!"

"Das solltest du aber. Ich kann nicht zulassen, dass du umkehrst und dich erneut in Gefahr bringst! Das erlaube ich nicht!"

Bilbo lächelte gequält und schüttelte den Kopf. "Ich bitte nicht um Erlaubnis, Gandalf."

Der Zauberer seufzte und der Hobbit fuhr fort. "Ich werde morgen früh aufbrechen, heute Nacht würde ich nicht weit kommen. Und bitte, schau mich nicht so an, als wäre ich ein Kleinkind, das noch nicht weiß, was es tut. Ich weiß, was ich tue. Und ich weiß, dass es richtig ist."

Der Zauberer sah ihn traurig an. "Und es gibt nichts, womit ich deine Meinung ändern könnte?"

Bilbo schüttelte den Kopf. "Nichts auf dieser Welt könnte mich davon abhalten. Lieber würde ich sterben, als mitansehen zu müssen, wie mein engster Freund an einer Krankheit zerbricht. Man kann mich nicht mehr umstimmen. Mein Herz sagt mir, dass ich gehen muss. Und mein Herz hat mich bisher immer richtig geleitet. Das wird es auch dieses Mal tun."

~~~

Der Morgen graute und allmählich kroch der Nebel zwischen den dicht stehenden, alten Bäumen des Düsterwaldes hervor, breitete sich langsam auf der taunassen Wiese aus und erreichte schließlich die knorrigen Wurzeln der Eiche, unter der der Hobbit und der Zauberer lagen. 

Die dünne Wolkenschicht war weitergezogen, die Sterne schon längst verschwunden. Nun ja, bis auf einen. Und zu diesem blickte der kleine Hobbit auf. Er hatte in den letzten Stunden kein Auge zugemacht, zu groß war die Aufregung über den Brief und zu beißend die Gedanken an seine Freunde.

Er saß aufrecht und atmete die vom Nebel erkaltete, frische Luft ein. Die weißen Schwaden, die von den ersten Strahlen der Morgensonne in ein orangefarbenes Licht getaucht wurden, ließen in erschaudern und er kuschelte sich enger in seinen Mantel. Bald würde er aufbrechen.

Er sah hinunter zu Gandalf. Er atmete ruhig und lag mit dem Rücken zu ihm, sodass Bilbo nicht ausmachen konnte, ob er noch schlief oder bereits wach war. 

Sein Herz pochte und seine Gedanken kreisten unermüdlich in seinem Kopf. Ihm war, als würden sich kalte, gierige Finger um seine ohnehin schon zitternden Knöchel legen, doch als er nach unten sah, erkannte er, dass es nur der immer dichter werdende, kriechende Nebel war, der in der Zwischenzeit seine baren Füße erreicht hatte. Sobald die Sonne vollkommen aufgegangen war, würde er wieder verschwunden sein. 

Bilbo sah wieder nach oben. Auf dem inzwischen blassblauen Himmel war noch immer der Stern zu sehen. Nur ein winziger, weißer Punkt. Am Horizont bahnte sich die Sonne ihren Weg nach oben und ließ ihn allmählich verblassen.

Der kleine Hobbit streifte sich den Mantel ab und streckte sich. Mit zittrigen Fingern tastete er nach dem Brief, den er sich zusammengefaltet in seine Jackentasche gesteckt hatte. Jetzt, bei dem klaren Licht der aufgehenden Sonne fiel es ihm deutlich leichter, den Schriftzug auf dem vergilbten Papier zu erkennen. 

"Adressiert an: Herrn Bilbo Beutlin, Meisterdieb des Königs unter dem Berge..." flüsterte er, als er erneut die hastig geschriebenen Zeilen überflog. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Meisterdieb des Königs... Er war nie ein Meisterdieb gewesen. Er hatte sich schon immer gefragt, was Gandalf sich dabei gedacht hatte, als er ihn für dieses Abenteuer auswählte - schließlich war er nicht aus Diebesholz geschnitzt - und schon gar nicht aus dem Holz eines Meisterdiebs. Doch mit der Zeit gefiel es ihm, die Bezeichnung eines solchen zu tragen, besonders wenn diese Bezeichnung aus dem Munde seines besten Freundes kam. Was seine Gefühle diesem gegenüber betraf, so war er sich gar nicht mehr so sicher, was er überhaupt für ihn fühlte. Diese paar Tage Abstand hatten gereicht, um Zweifel in seinem Herzen zu säen. Er schüttelte den Kopf. Du wirst noch genug Zeit haben, dir darüber klar zu werden, Bilbo Beutlin. Mit einer schnellen Bewegung steckte er den Brief wieder in seine Tasche.

Nachdenklich wippte er hin und her. Er war unruhig. Vor ihm lag ein langer Rückweg. Doch dieses Mal würde er sich beeilen.

Die Sonne schien inzwischen in all ihrer Helligkeit oben am fast wolkenlosen Himmel und der Stern war nicht mehr zu sehen. Der Nebel hatte sich schon fast vollkommen verzogen und die Landschaft um den Düsterwald wirkte bei hellem Tageslicht schon fast einladend. Ein schöner Tag für eine Rückreise. Wenn nur ihr Grund nicht so bedrückend wäre...

Mit einem lauten Seufzer lehnte er sich an die raue, dunkle Rinde der alten Eiche. Ihre Äste waren stark und schwer und streckten sich weit über ihn, sodass sie in einigen Metern Entfernung fast den Boden berührten. Wieder kam ein leichter Wind auf und ließ die Blätter und Zweige sanft rascheln. 

"Autsch!" - Plötzlich fiel Bilbo etwas kleines auf den Kopf und riss ihn aus seinen Gedanken. Grummelnd rieb er sich die schmerzende Stelle und tastete mit einer Hand auf dem Boden nach dem Ding, das ihn gerade unsanft aus seinem Tagtraum, zurück in die Realität geholt hatte. Auf einmal stieß er auf etwas Glattes, Rundes. Seine Finger umschlossen es wie von selbst und führten es vor seine Augen.

Eine Eichel. Was auch sonst. Behutsam strich er mit der anderen Hand darüber. Sie hatte eine rötlich-braune Färbung und war recht groß, jedoch nicht so groß wie diejenige, die er in Beorns Garten aufgelesen hatte, mit dem Ziel, sie in seinen Garten zu pflanzen, sollte er dieses Abenteuer je überleben. 

Nun, er hatte es überlebt. Unbeschadet. Im Gegensatz zu manch anderem. 

Während er die Eichel betrachtete und vorsichtig in den Händen wand, als handelte es sich um ein kostbares Schmuckstück, kamen die alten Erinnerungen wieder hoch. Die Erinnerungen an Thorin.

Und er erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. 

Er schloss die Augen und konnte seinen Freund wieder vor sich sehen. Gekleidet in ein königliches Gewand. Seine langen Haare wurden von wenigen grauen Strähnen durchzogen. Dort stand er. Mit vor Wut und Misstrauen weit geöffneten Augen, aus denen er ihn fassungslos anstarrte. In ihnen brannte ein Feuer, doch es hatte nichts mit dem Feuer gemein, welches in alten Legenden von Drachen gespien wurde. Es war ein weit grauenvolleres. Es war das Feuer der Drachenkrankheit.

"Was hast du da?! Was ist das in deiner Hand?!" Das war nicht Thorins Stimme. Ihr Klang war scharf und von einer rasselnden Tiefe, welche ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war der Klang puren Misstrauens. Der Klang purer Gier. Und dennoch kamen die Worte aus dem Mund seines Freundes.

"Es... es ist nichts!" hatte Bilbo gestammelt, die Hand mit dem Gegenstand vor Thorin verbergend. Er wusste, was er dachte. Er dachte, er hätte den Arkenstein. Es war verletzend und traurig, zu sehen, wie tief sein Freund gesunken war. Niemals hätte der Thorin Eichenschild, den er in Beutelsend kennengelernt hatte, die Loyalität und Ergebenheit seiner Freunde angezweifelt, hätte nie in Erwägung gezogen, sie könnten ihn hintergehen. Doch dann wurde Bilbo bewusst, dass er genau das getan hatte und fühlte sich unglaublich schlecht. Er hatte den Arkenstein gestohlen. Doch das konnte Thorin nicht wissen. 

Dieser erhob wieder seine Stimme. "Zeig es mir!"

Widerwillig, doch wohl wissend, dass es keinen Ausweg gab, öffnete Bilbo die Hand. Eine Eichel, kein Arkenstein. Die Eichel aus Beorns Garten. Thorin war nicht anzusehen, was er dachte. War er verwirrt? Tat es ihm leid, Bilbo verdächtigt zu haben, er hätte ihn um sein Erbe bestohlen? 

Stumm und betreten stand er da und starrte auf den kleinen Gegenstand in der Hand seines Freundes.

"Ich... ich hab sie in Beorns Garten aufgelesen." sagte Bilbo leise, nicht wissend, was im Kopf des Zwergenkönigs vorging. Er hatte seine Augen bis jetzt noch immer auf die Eichel gerichtet, doch nun hob er langsam seinen Kopf.

Das fiebrige Feuer in seinen Augen hatte an Stärke verloren. Seine Gesichtszüge waren weicher und sanfter. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem fast unscheinbaren, aber gütigen Lächeln. Befand er sich noch immer in den Klauen der Krankheit? Oder war dies wieder einer dieser Momente, in denen Thorin zu stark war, in denen ihm irgendetwas die Kraft gab, gegen diese Krankheit anzukämpfen?

"Du hast sie bis hierher gebracht?" Seine Stimme war angenehm zärtlich und sanft, es schien, als strahlte sie eine gewisse Wärme und Berührtheit aus. Ja, tatsächlich, das ist das richtige Wort - er war berührt.

Bilbo erwiderte das Lächeln leicht, war sich jedoch noch nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. "Ich werde sie in meinen Garten pflanzen, in Beutelsend." 

Jetzt verschwand das Feuer ganz aus Thorins blauen Augen und sein Blick veränderte sich. Sein Lächeln wurde breiter und Bilbo sah in das altbekannte Gesicht, nicht verstellt durch die Drachenkrankheit. Das Gesicht von dem Thorin Eichenschild, in dem er einen Freund gefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht bewusst gewesen, was er wirklich für ihn empfand. 

"Ein recht kleines Andenken... für das Auenland." raunte die sanfte Stimme seines Freundes.

Bilbo sah zu der Eichel in seiner Hand und dann wieder zu Thorin und lachte leise auf. "Nun ja, sie wird ein Baum." Er sah in die strahlend blauen Augen seines Gegenübers und seufzte. "Und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, werde ich mich erinnern, an alles was geschehen ist. An das Gute, das Böse, an jene die es überlebt haben und die, die es nicht geschafft haben." Er riss sich von dem Anblick los. "Und an das Glück, nach Hause gekommen zu sein."

Ja, nach Hause. Das stand nun nicht mehr zur Debatte. Seit der Nachricht war das Verlangen nach seinem Sessel vor dem Kamin und seinem Teekessel in seiner warmen Hobbithöhle fast zur Gänze erloschen. In ihm brannte nun ein anderes Verlangen. Das Verlangen, seinen Freunden zu helfen.

Langsam ließ er die Eichel in seine Tasche gleiten. Mit der anderen Hand fuhr er sich über die Wange und zuckte zusammen, als er mit seinen Fingerspitzen plötzlich auf etwas Nasses traf. Hatte er etwa geweint? Ja, tatsächlich. All die Erinnerungen an Thorin waren einfach zu viel für ihn.

Hobbits mögen zwar klein sein, doch sie haben ein größeres Herz, als es manch einer vermutet.

Und sein Herz schmerzte bei der Erinnerung von gerade eben. Für einen kurzen Moment zwischen ihnen beiden war es Thorin gelungen, die Krankheit zu überwinden - auch, wenn dieser Zustand zum Leidwesen aller nicht lange angehalten hatte. Aus irgendetwas hatte der Zwergenkönig die Kraft geschöpft, wieder zu seinem alten Ich zurückzufinden. Oder aus irgendjemandem...

Bilbo war sich sicher, ihm helfen zu können. Thorin hatte es schon einmal geschafft, er würde es auch ein zweites Mal überstehen. Mit seiner Hilfe.

Er schluckte. All diese Träume, die er gehabt hatte. Es war, als hätte er es tief in sich drin schon die ganze Zeit geahnt. Als hätte er über die Entfernung gespürt, dass etwas nicht stimmte. Als gäbe es eine unsichtbare Verbindung zwischen ihm und seinem besten Freund.

Eine weitere Träne rann seine Wange hinab. Auf diese folgte die nächste. Seit nun zehn Tagen war Thorin nicht mehr er selbst. Durch eine gnadenlose Krankheit, die in seinem Körper hauste und seine Gedanken steuerte, sich seiner Stimme bemächtigte und von seinen Gefühlen zehrte.

Was die anderen wohl gerade durchmachen mussten? All der Hass, die Gier und das Streben nach mehr und immer mehr. 

Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Jetzt ist der perfekte Augenblick, um aufzubrechen, egal, ob Gandalf noch schläft oder nicht. Du hast eine Aufgabe, Meisterdieb. Eine letzte Mission.

Entschlossen sprang er auf, klopfte sich den Mantel ab und schlich auf leisen Sohlen über das mit Tau bedeckte Gras, um nach dem Zauberer zu sehen.

"G-gandalf?" flüsterte Bilbo zögerlich. Keine Antwort. Der Zauberer hatte sich den Hut tief ins Gesicht gezogen. Offenkundig lag er noch im Schlaf, erschöpft von dem langen Ritt am Vortag. Der kleine Hobbit beschloss, ihn nicht zu wecken. 

Doch noch länger zu warten hätte ihm den Verstand geraubt. Er musste jetzt gehen, er wurde gebraucht. Und je eher er aufbrach, desto eher würde er sein Ziel erreichen. Aber einfach so verschwinden, ohne ein Wort des Abschieds? Das passte nicht zu ihm. 

Kurzerhand griff er in seine Tasche und zog ein Stück Papier heraus. Vorbildlich wie er war führte er immer welches bei sich, denn er schrieb gerne. Vor allem Gedichte, denn dies half ihm, die Gefühle zu verarbeiten, die er niemandem anvertrauen konnte. In den letzten Tagen und Nächten waren ihm diesbezüglich mehrmals Ideen für Verse zugeflogen. Doch er hatte nie den Mut gehabt, sie niederzuschreiben, denn das wäre für ihn eine Art Eingeständnis, und er wollte sich nicht eingestehen, was er für Thorin empfand. Denn darum ging es in diesen Versen. Um die Hoffnung und Trauer, einen Freund verloren zu haben, und das nur, weil man seine Gefühle diesem gegenüber nicht im Zaum halten konnte.

Er seufzte und kritzelte hastig ein paar Zeilen darauf.

"Lieber Gandalf! 

Bitte verzeih mir, denn wenn Du das hier liest, werde ich bereits auf dem Weg zum Einsamen Berg sein. Ich weiß, dass Du mein Vorhaben nicht gutheißt, doch Du solltest auch wissen, dass ich keine andere Wahl habe, auch wenn es unvernünftig erscheinen mag. 

Ich kann nur wiederholen, wie leid es mir tut!

Bilbo"

Schnell besah er sich das Geschriebene, nickte kurz und faltete den Zettel zusammen. Zögerlich legte er ihn neben den schlafenden Zauberer ab. War das, was er tat wirklich richtig? Am Liebsten hätte er Gandalf dabei gehabt, denn er hatte es schon früher vermocht, Thorin ins Gewissen zu reden, und es hatte sich in den meisten Fällen bewährt. Doch am Abend zuvor hatte er ihm klar gemacht, dass er nicht mit ihm kommen könnte, da er sich wichtigen Angelegenheiten widmen muss, die keinen Aufschub erdulden. Um welche Angelegenheiten es sich dabei handelte, darüber ließ er Bilbo im Unklaren doch er meinte, etwas von einem Nekromanten gehört zu haben. Der kleine Hobbit war daraufhin zornig geworden und seine Sorge hatte sich in Wut verwandelt. "Und was ist mit Thorin? Was bitte soll schon wichtiger sein als das Wohl meines Freundes?! Unseres Freundes?!" hatte er daraufhin gerufen. Jetzt im Nachhinein tat es ihm aufrichtig leid, den Zauberer, seinen Freund, so angegangen zu haben, denn eigentlich wusste er es besser - Gandalf war nicht blind gegenüber dem Leid von Thorin und den anderen Zwergen - er tat nur, was er für das Beste hielt. Er hatte Bilbo in dieses Abenteuer geholt, um Ordnung in die Gemeinschaft und deren Mission zu bringen, welche vorrangig von Gier und Rache geführt wurde, er hatte Bilbo als wertvollen Teil dieser Gemeinschaft gesehen, wenn es kein anderer tat - und Bilbo hatte sich in nicht wenigen Fällen als äußerst nützliches und hilfreiches Mitglied erwiesen. Er hatte für sein Ansehen und seinen Platz in der Gemeinschaft kämpfen müssen, und er stand vor vielen Hindernissen. Doch er hatte in der Mission der Zwerge auch seine eigene Mission gefunden. Und das Schicksal wollte, dass diese Mission noch nicht vorbei war.  

Er atmete tief durch. Die Luft war inzwischen wärmer und das Blau des Himmels kräftiger geworden. So kräftig blau wie Thorins Augen. Diesen Gedanken schüttelte er ab. Versucht, sich auf sein Ziel zu konzentrieren, schritt er auf sein Pony zu, stieg auf, nahm die Zügel in die Hand und drückte mit den Waden, um es zum Gehen zu bewegen. Langsam entfernte er sich von der alten Eiche und näherte sich Schritt für Schritt seinem Ziel, seiner Aufgabe, seinem Freund.

Er schloss die Augen, trieb sein Pony weiter an und trabte schließlich so schnell es nur ging den von Blumenwiesen gesäumten Trampelpfad am Rand des Düsterwaldes entlang. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie alles begonnen hatte. Zu Beginn hatte er nicht einmal gewusst, wie man die Zügel richtig führt, geschweige denn, wie man auf einem Pony sitzt. Doch er hatte es gelernt. Bei dem besten Lehrer. Seinem besten Freund.

~~~

"Habt Ihr schon einmal auf einem Pony gesessen, Meisterdieb?" Die Stimme klang genervt und belustigt zugleich. Bilbo drehte den Kopf und blickte in die Augen seines Anführers, Thorin Eichenschild. In seinem Blick lag etwas, was er nicht so richtig deuten konnte. Doch es war deutlich zu spüren, wie wenig der Zwerg, der sein Pony nun neben das seine lenkte, von seinen Bemühungen, den Anforderungen eines Meisterdiebs gerecht zu werden, hielt. 

"Ich denke, meine... nun ja, >Reitkünste< sprechen für sich." erwiderte er schnell. Seine Stimme klang etwas zu provokant und sarkastisch, als er es beabsichtigt hatte.

Thorin lachte kurz und leise auf, verfiel dann aber sofort wieder in die ernste Stimmung, die er auch sonst ausstrahlte. Dennoch umspielte ein fast unmerkliches Lächeln seine Lippen.

"Ich habe Euch lediglich eine Frage gestellt, Meisterdieb. Ihr tut weder Euch noch dem Pony etwas Gutes, wenn Ihr auf Dauer in einer derart verkrampften Position im Sattel hängt."

"Ich - ich hänge nicht im Sattel!" rechtfertigte er sich schnell, bemüht, eine annähernd aufrechte Haltung zu erlangen. "Ich komme zurecht, danke der Nachfrage." 

Thorin blickte ihn belustigt von oben herab an und zog eine Augenbraue hoch. "Gut, wenn Ihr meint..." Er trieb sein Pony weiter und überholte Bilbo. 

"Äh... Wartet!" 

Das Pony des Zwergen blieb stehen und Thorin blickte über seine linke Schulter zu dem kleinen Hobbit zurück. "Ja?" fragte er mit einem so genervten Unterton, dass Bilbo zuerst zögerte, ob er etwas sagen sollte.

"Vie-vielleicht habt Ihr recht..." brachte er hervor und schloss zu ihm auf. Als er ihn erreicht hatte, ritten sie nebeneinander weiter.

"Ach, tatsächlich?" Thorins Stimme klang unangemessen herablassend, doch Bilbo konnte erkennen, dass dies nur gespielt war.

Er versuchte, sich davon nicht stören zu lassen und räusperte sich. "Ja, tatsächlich. Ich habe noch nie zuvor auf einem Pony gesessen, bisher war das noch nie nötig gewesen - schließlich bin ich ein Hobbit. Dafür könnt Ihr mich nicht verurteilen." 

Der Zwerg wölbte eine Braue. "Das habe ich nie."

"Was ist dann der Grund?"

"Der Grund wofür?"

"Ihr seid skeptisch. Man sollte meinen, Ihr wärt umso dankbarer, je mehr Euch bei der Rückeroberung Eures Königreiches behilflich sind, doch bei mir scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Warum?"

"Ist es das, was Ihr wollt? Dankbarkeit?"

"Ich habe Euch eine Frage gestellt. Wäre es zu viel verlangt, diese zu beantworten?"

Thorin sah ihn verblüfft an. Offenkundig war er es nicht gewöhnt, so angesprochen zu werden, er war schließlich ein König und bisher hatten es viele, die ihn barsch angegangen waren, bitter bereut. Doch er versuchte, sich sein Erstaunen über die Kühnheit - wohl eher aber schlichte Unbedachtheit -  des Hobbits nicht anmerken zu lassen und schüttelte lächelnd den Kopf. 

"Ihr seid kein Mann für ein Abenteuer. Und schon gar nicht für eins wie dieses."

Irgendetwas in diesen Worten verletzte Bilbo. Gleichzeitig motivierten sie ihn, es Thorin zu beweisen, ihm zu zeigen, dass er sich irrte.

"Was lässt Euch so denken?" fragte er so provokant wie er es vermochte.

"Habt Ihr jemals ein Schwert geschwungen? Habt Ihr jemals den Tod gesehen? Jemals eine Schlacht erfahren?" Sein Blick verlor an Ernsthaftigkeit und er grinste amüsiert. "Und habt Ihr jemals Bekanntschaft mit einem Sattel gemacht?"

"Die letzte Frage werde ich jetzt einfach Mal überhören." grummelte der Hobbit.

"Ihr gehört hier nicht hin, Meisterdieb. Nun, vielleicht sollte ich Euch nicht so nennen... Ihr scheint mir nicht aus Diebesholz geschnitzt zu sein." Bilbo öffnete die Lippen, um dem ein Argument entgegenzusetzen, doch Thorin ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Ihr seid verloren in diesen Gegenden. Noch habt Ihr die Möglichkeit, umzukehren."

"Ich werde bleiben! Meint Ihr, ich hätte diesen Vertrag unterzeichnet, ohne zu überlegen?" Nun, genau genommen hatte er das. Als er sich dessen bewusst wurde, schluckte er. Was hatte er sich auch dabei gedacht? Sein Rücken schmerzte vom schiefen Sitzen, irgendwo am Ziel dieser Reise wartete ein Drache auf ihn, seine Reisebegleiter waren ihm fremd und sein Anführer hasste ihn. Tolle Aussichten.

Auf Thorins Gesicht zeichnete sich plötzlich ein unerwartetes Lächeln ab. "Der Tag ist noch lang, Meister Beutlin, ebenso wie unsere Reise - und ich wette, Ihr haltet Euch keine zwei Stunden länger im Sattel. Jemand sollte Euch zeigen, wie Ihr die Zügel richtig haltet."

Bilbo sah verblüfft auf. "Wenn das jetzt ein indirektes Angebot gewesen sein sollte, mich in die Kunst des Ponyreitens einzuweihen, so bin ich gewillt, zuzustimmen."

Thorin lachte. "Redet Ihr immer so geschwollen?"

Der kleine Hobbit spielte beleidigt, was den Zwerg nur noch mehr zum Lachen brachte. "Ich lese viel. Vermutlich rührt es daher, Meister... Eichenschild."

"Thorin."

"Hm?"

"Nennt mich Thorin. Das tut jeder hier. Und da Ihr jetzt Teil dieser Gemeinschaft seid - ob es mir gefällt oder nicht..." - "Hey!" - "... so ist es nur angebracht, dass Ihr mich beim Vornamen nennt."

Bilbo wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Einerseits gefiel es ihm, da es bedeutete, dass er als Mitglied der Gemeinschaft Thorin Eichenschilds akzeptiert wurde, andererseits behagte es ihm nicht, da er nicht mit dem Träger dieses Namens vertraut war. Er wusste rein gar nichts über diesen Zwerg, doch er hatte schon genug gehört und gesehen, um zu erkennen, dass aus ihnen beiden nicht mehr die besten Freunde werden würden. Wenn er heute an diesen Irrtum dachte, so musste er lächeln. Wie falsch er damals gelegen hatte.

"Meister Beutlin?"

Verlegen räusperte sich der Hobbit.

"B-bilbo." sagte er schließlich. "Für Euch... äh... dich Bilbo."

"Angenehm." Der Zwerg lächelte und trieb sein Pony weiter voran, sodass der kleine Hobbit nur schwer mithalten konnte. 

"Und... ähm... Wie macht man es?"

"Was genau, Bilbo?"

"Reiten..."

Der Zwerg sah ihn amüsiert an und wies lachend auf ihn. "Nun, so jedenfalls nicht."

Bilbo grummelte wieder. "Willst du mir nun helfen oder dich über mich lustig machen?"

Thorin fasste sich wieder. "Ersteres natürlich. Doch wie es scheint, haben wir noch einen weiten Weg vor uns..."

Nun, wie sich herausstellen sollte, stellte sich der kleine Hobbit geschickter an, als vermutet. Schon nach den ersten drei Tagen konnte er ohne Hilfe längere Strecken ohne Pause zurücklegen und mit den anderen auch im Trab mithalten - er hatte schließlich keine Wahl. Tagsüber war er immer neben Thorin geritten, hatte auf dessen Ratschläge gehört und dessen Lob geerntet, wenn er etwas richtig gemacht hatte. Wenn die Abenddämmerung einsetzte und die anderen Zwerge zusammen an einem Feuer saßen, Geschichten über längst vergangene Schlachten zum Besten gaben und Lieder über ihre Heimat, über die Pracht und den Reichtum Erebors sangen, legte Thorin besonders viel Wert darauf, dass der kleine Hobbit dabei anwesend war. Bilbo kam es zuerst merkwürdig vor, dass der Zwerg sich so viel Zeit für ihn nahm, wo er doch zu Beginn der Reise so wenig von ihm gehalten hatte. Doch mit der Zeit gefiel es ihm, die Abende mit ihm zu verbringen und er hatte sich mehrmals gefragt, ob es Thorin genauso ging. Als Bilbo selbst von Thorin als "einigermaßen guter Ponyreiter" bezeichnet worden war, setzten sie ihre gemeinsamen Abende damit fort, dem kleinen Hobbit beizubringen, sein Schwert (nun ja - sagen wir besser: seinen Brieföffner) einzusetzen. Doch Hobbits sind schließlich Hobbits und für Kämpfe mit Waffen gänzlich ungeeignet - so hatte er jedenfalls Thorin seine "Unfähigkeit" erklärt. Die Wahrheit war das allerdings nicht. 

In vielen Fällen hatte er sich mit Absicht besiegen lassen oder hatte sich dumm gestellt, denn es gefiel ihm, Thorin als Lehrer zu haben und er wollte diesen Zustand so lange wie nur möglich aufrechterhalten.

Er schluckte erneut. Hätte er damals schon gewusst, was er da wirklich gefühlt hatte. Es war schon länger ein weit größeres Gefühl als Freundschaft gewesen, doch er war zu blind, es zu erkennen. 

Und jetzt war es zu spät. 

~~~

Er ritt ganze Tage und Nächte durch, und wenn er müde wurde, so schlief er im Sattel. Er machte nur wenig Rast, doch wenn, dann tat er es weniger für sich als für das Pony. Sein Proviant wurde von Tag zu Tag spärlicher, ebenso wie seine Kraft, die nach den ersten vier Tagen der Rückreise schon fast gänzlich erloschen schien.

Das einzige, was ihn weiterreiten ließ, war die Hoffnung und die Angst. Die Angst vor dem, was er vorfinden würde. Denn wer konnte ihm versichern, dass die anderen noch wohlauf waren? Doch seine Gedanken kreisten vorrangig um Thorin. Und er wusste, dass Fili ihm diesen Brief nicht geschrieben hätte, wenn es sich nicht wirklich um einen Notfall handeln würde. 

Der ausgesprochen bemerkenswerten Ausdauer des Ponys war es zu verdanken, dass es an zwei Tagen die Strecke zurücklegte, die Bilbo, als er noch mit dem Zauberer geritten war, an dreien geschafft hatte.

Und so kam es, dass sich ihm bereits nach weniger als einer Woche ein allzu vertrautes Bild bot, weit hinten, am Horizont. Es war ein Bild, das ihm, obwohl er es schon so oft erblickt und bestaunt hatte, erneut Gänsehaut bereitete und vor Ehrfurcht den Atem raubte.

Es war das Bild des Einsamen Berges.

Dort stand er. Wie eine Pfeilspitze ragte der Gipfel über den weiten Landen auf und stellte alles, was um ihn lag, in seinen Schatten. Bei seinem Anblick wurde alles andere zur Nebensächlichkeit und schien wie Nebeldunst zu verblassen.

Bilbo sah wehmütig und voller Sehnsucht in die Ferne...

... zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht wissen, dass genau in diesem Moment vom fernen Horizont ein zweites Augenpaar ebenso sehnsüchtig zurückblickte. Ein strahlendes, blaues. 

Eine Träne rann seine Wange hinab, doch der kleine Hobbit ignorierte sie. Er blickte zu der spitzen Erhebung am Horizont, die sich in einem dunklen Grau vor der untergehenden Sonne abbildete. Und er blickte so lange, dass es wie eine Unendlichkeit schien, ehe er sich von dem Anblick losreißen konnte.

"Ich komme, Thorin." hauchte er, ehe er die Zügel seines Ponys wieder in die Hände nahm und es mit einem leichten Druck seiner Waden zum Gehen bewegte. 

"Ich komme..."






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Schon gemerkt? Heute ist Freitag, der 13. ... Freitag, der 13.!

Ich bin wirklich nicht abergläubisch, aber... Wir haben heute eine Matheklausur geschrieben, und - was soll ich sagen - ich denke, ich hab dabei so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Bisher waren alle Tests extrem einfach gewesen, sodass ich gedacht hatte, die Klausur würde ähnlich gut laufen. Tja, Pech gehabt.

Okay, egal - nur noch eine Englischklausur am Montag, und die Klausurphase ist erstmal rum. 

By the way, das nächste Kapitel ist schon fertig und wartet darauf, veröffentlicht zu werden. Mal sehn, ob es schon nächste Woche kommt, würd ich davon abhängig machen, wie schnell ich mit dem darauffolgenden bin.

Bis zum nächsten Teil also! 

Und kommt gut durch den Vorweihnachtsstress! ;)


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