Vergesst uns nicht

Bilbos Verstand widersetzte sich dem starken Willen, zu schreien. Seine Hand, die von der des Zwergenkönigs fest vor Angst umschlossen wurde, schmerzte durch dessen Kraft, doch er hatte weder die Nerven noch die Zeit, sich darüber zu beschweren.

Seine Beine drohten nachzugeben, während sie sich in Windeseile dem längst zurückgelassenen Tor näherten. Er wagte es nicht, zurückzublicken.

Geräusche jagten ihnen hinterher. Geräusche, die er nur allzu gut kannte.

Ein lautes, donnerndes Fauchen erklang, und er roch den beißenden Geruch des schwarzen Qualms, der den Nüstern der Feuerschlange entstieg und sich mit der klammen Kälte der alten Hallen vereinte.

Noch immer versuchend, zu realisieren, dass sie das Wegrennen wohl kaum vor dem Tod bewahren würde, setzte er einen Fuß vor den anderen und folgte dem Schwarzhaarigen wahllos.

Du wirst heute sterben, Bilbo Beutlin.

Du wirst heute gemeinsam mit den Erben Durins den Tod finden.

Diese Hallen werden euer Grab sein.

Er hatte diesen Satz gerade innerlich ausgesprochen, als er einen heftigen, unsanften Ruck spürte und erkannte, dass Thorin ihn hinter eine der schützenden Säulen zerrte.

Sich vor Furcht an das zitternde Gestein drückend atmeten sie einige Male hastig ein und wieder aus, um etwas Ruhe und Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, doch gelingen sollte es ihnen nicht. Thorin, der neben ihm stand, spähte über den Rand der Säule, um erkennen zu können, wo seine Neffen abblieben.

Nur wenige Sekunden später kamen auch sie herbeigerannt und hätten sie sicherlich übersehen, hätte der Zwergenkönig sie nicht mit einer Handbewegung auf sie aufmerksam gemacht.

"Hierher! Schnell!"

Sie erreichten den schützenden Schatten der Säule keine Sekunde zu früh, denn plötzlich prasselte ein Feuersturm auf sie hernieder und um sie herum verschwand die Welt in gleißend hellen Flammen. Sich die Arme und Hände schützend vor die Gesichter haltend und zusammengekauert hielten sie dem Sturm stand.

Die Säule war breit, das verschlingende, gierige Feuer tastete sich empor, leckte am Rand des groben Steins und färbte sie schwarz. 

Noch hatte die Drachenmutter keinen Versuch unternommen, ihnen zu folgen, sie stand noch immer aufgebäumt in einigen Metern Entfernung zwischen den verbrannten Überresten ihrer Opfer, als sähe sie keine Notwendigkeit in einer Verfolgungsjagd. Und vielleicht hat sie damit auch ganz recht, konnte sich Bilbo nicht verkneifen zu denken. Denn würden sie den Schutz der Säule verlassen, wäre ihr Tod nur noch eine Frage von Sekunden.

Ihr Feuer war trotz ihrer Wut recht schwach. Hätte es sich bei der Bestie um Smaug gehandelt, sie wären nun nichts als Staub und Asche, doch das Feuer dieser Schlange hatte die Säule nicht zum Bersten gebracht. Noch nicht.

Bilbo lugte ängstlich zwischen seinen Fingern hervor, als er realisierte, dass sich die unerträgliche Hitze, die zuvor gedroht hatte, ihm Haut und Haare zu versengen, verflüchtigt hatte. Die Halle war wieder finster. Sie sahen nichts als den von den Silberadern durchzogenen, rauen Fels, milde glimmend und trostlos schwarz. Das Drachenfeuer war versiegt.

Er stieß Thorin, der noch immer in der Erwartung, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden, zusammengekauert neben ihm saß, mit dem Ellbogen in die Seite, um ihm zu signalisieren, die Hände aus dem Gesicht zu nehmen.

Fragend richtete der Schwarzhaarige seinen Blick auf den Halbling und hob seinen Kopf.

"Sie... sie hat aufgehört," flüsterte er durch zusammengepresste Zähne hervor.

Thorin weitete kurz die Augen, als würde er die quälende Stille erst jetzt bemerken und sah sich hektisch um. "Das wird nicht lange andauern."

Er berührte einen seiner beiden Neffen, die bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls mit eingezogenem Kopf hinter der Säule gelegen hatten, an der Schulter, ob es sich um Kili oder Fili handelte, ließ sich bei dieser Dunkelheit nur schwer ausmachen, denn die Fackeln hatten sie auf ihrer Flucht fallen gelassen. 

"Was ist, Onkel?" Das war Kili. Sein Bruder öffnete ruckartig die Lider und drückte sich fest gegen die kalte Gesteinssäule, murmelte ungläubig und mit vor Entsetzen weit aufgerissen Augen wirr vor sich hin. Verständlich. Schließlich hatte er nicht an die Existenz der Drachendame geglaubt.

"Wir müssen hier fort. Es wird nicht lange dauern, dann werden ihre Kräfte wieder gestärkt sein und sie wird uns erneut mit Feuerregen überschütten. Nur, dass sie uns dieses Mal mit Sicherheit töten wird!" Seine Worte waren zornig und in seiner neu entbrannten Wut klangen sie seltsam scharf und zischend, wie eine Flamme, die man mit eiskaltem Wasser übergießt.

Bilbo schloss die Augen und atmete panisch ein und wieder aus, während die donnernden, metallisch klingenden Laute der näherkriechenden Bestie an seine Ohren drangen. Ja, so langsam kam Bewegung in ihren bleichen Körper, und obwohl er sie nicht sehen konnte, malte ihm seine Furcht ein so realistisches Bild in seine Gedanken, dass er erschauderte. Sie... sie kroch. Ein metallisches Schaben, ein Kratzen, ein Schleifen. Keine Frage, sie musste sich kriechend fortbewegen. Langsam, Stück um Stück kamen die Geräusche näher. "Wenn wir unser Versteck verlassen, wird sie uns sehen und zu Asche verbrennen! Wir sitzen in der Falle!" flüsterte er irgendwann, und diese Feststellung machte ihn nur noch verzweifelter.

"Sie weiß ohnehin, wo wir sind, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie uns erreicht hat. Wir dürfen nicht das tun, was sie von uns erwartet! Hört ihr das nicht? Sie kann kaum laufen, mit Sicherheit hat sie das Leben in der Dunkelheit mit Schwäche gezeichnet - ein Vorteil für uns. Doch diesen Vorteil können wir nicht hier aussitzen, während wir auf unsere Hinrichtung warten!"

Fili nickte, in seiner Angespanntheit die Zähne aufeinanderpressend. "Was schlägst du vor?"

Bilbo biss sich auf die Unterlippe und versuchte vergeblich, die einschüchternd anschwellenden Geräusche hinter seinem Rücken auszublenden. Nur noch wenige Sekunden und die Feuerschlange würde sie erreicht haben. 

Thorins tiefe Stimme an seinem Ohr ließ ihn aus dem Gefängnis seiner Furcht erwachen. Die Stimme war an ihn gerichtet.

"Bei drei rennst du in Richtung Ausgang. Nimm Kili mit. Fili, du bleibst hier bei mir!"

Der Halbling öffnete kurz den Mund und versuchte, diesen Plan zu verdauen, der ihm mehr als unsicher klang. "Und was ist mit euch? Wir können dort nicht so einfach hinaus! Selbst, wenn wir es schaffen würden, was geschieht mit euch?!"

Der Schwarzhaarige blickte ihn nur kurz und durchdringend an und warf dann einen schnellen Blick über seine Schulter zu seinem jüngeren Neffen, der in seinen zitternden Händen die Waffen fest umschlossen hielt. "Kili, reich mir den Bogen! Schnell!" 

Der junge Zwerg tat, wie ihm geheißen, ohne Widerspruch zu leisten, und blickte daraufhin zu seinem Bruder auf.

Bilbo konnte nicht mehr länger an sich halten und erhob seine bebende Stimme, und obwohl er die Worte fest und laut aussprach, so fürchtete er dennoch, sie würden in dem furchtbaren Getöse des Drachen hinter ihnen untergehen. "Das war keine Antwort, Thorin!"

"Fili und ich werden sie ablenken. Wir rennen nach links und ziehen ihre Aufmerksamkeit auf uns, während ihr zur anderen Seite lauft. Sie wird euch nicht sehen."

Bilbo schüttelte panisch den Kopf. "Und wie wollt ihr es lebend hier herausschaffen? Ich lasse dich nicht alleine!"

"Wir haben die Pfeile. Es sind nur zwei, doch es braucht nur einen guten Schuss. Noch gibt es Hoffnung - Ihr lauft so schnell es geht zu den anderen, um Verstärkung zu holen, habt ihr mich verstanden?"

"Bei dem Lärm werden sie sowieso schon auf dem Weg hierher sein! Du wirst sie mit diesen Pfeilen nicht töten können, verdammt! Dein Plan hat für meinen Geschmack zu viele Schwachstellen!"

"Keine Zeit für einen neuen... Eins..."

"Thorin, nein!"

"... Zwei..."

"Thorin!"

"... Drei!"

Bilbo riss an seinem Ärmel, doch gegen Thorin kam er bei weitem nicht an, denn für ihn war es ein Leichtes, gegen die Kraft des kleinen Hobbits anzukommen. Mit einer schnellen Bewegung sprang er auf, spannte den Bogen und nickte seinem älteren Neffen zu, der nun - was blieb ihm auch anderes übrig - allmählich zu seiner vorherigen Fassung zurückgefunden hatte.

Fili tat es ihm gleich und warf, bevor er seinem Onkel folgte, seinem Bruder einen sorgevollen Blick zu. Seine Lippen wurden von einem angedeuteten, traurigen Lächeln umspielt und sein Atem schwankte, zitterte. Als hätte er Gewissheit, seinem Onkel mit dieser Stunde in den Tod zu folgen. Ja, sein Lächeln wirkte falsch und gequält, als würden sie vor einem Abschied stehen. Einem Abschied für immer.

Kili wusste diesen Blick zu deuten, er schluckte und nickte ihm schließlich zu. "Heute ist nicht der Tag, an dem wir sterben," flüsterte er.

Fili lachte bitter und der zitternde Ton verriet, dass er lang zurückgehaltene Tränen hinunterschluckte. Dann fing er sich wieder und blickte durch einen Tränenschleier auf ihn hinab. "Lauft schnell. Blickt nicht zurück. Und... vergesst uns nicht."

Thorin nickte ihm zu und sofort darauf verschwanden sie hinter der Säule in die Richtung der Feuerschlange. Bilbo, der bis zu diesem Moment versucht hatte, seinen Freund am Gehen zu hindern, sah ihnen mit Tränen in den Augen hinterher.

"Thorin! Nicht!" Er rappelte sich auf und war im Begriff, ihnen in die Dunkelheit zu folgen, doch Kili hielt ihn in letzter Sekunde davon ab, indem er ihn am Ärmel packte.

"Du kannst ihnen jetzt nicht mehr helfen, Bilbo! Schnell!" Er erhob sich ebenfalls und ließ den Ärmel des Halblings dabei in keinem Augenblick los. Dieser zog daran und wehrte sich dagegen, doch schon bald erkannte er, dass es keinen Sinn hatte. 

Gemeinsam rannte er mit dem jungen Zwerg in die entgegengesetzte Richtung, weg von dem, den er zu lieben gelernt hatte, weg von Thorin Eichenschild, weg von Fili. 

Und das keine Sekunde zu früh, wie es schien, denn die Feuerschlange hatte inzwischen die Säule erreicht.

Thorin und Fili würden es nicht schaffen, das war ihm bewusst.

Er schluckte bittere Tränen hinunter, während sich vor ihnen nun immer deutlicher das Ausgangstor abzeichnete und die Geräusche hinter ihnen zu einem wüsten, rumorenden Klangteppich heranwuchsen.

Als sie das Tor passierten, hörten sie es erneut. Die Feuerschlange spie ihren tödlichen Feuerregen auf die zwei Zurückgebliebenen hinab. Schwach, dumpf und rauschend donnernd hallte der Laut der Zerstörung in den Gewölben wider.

Kili ließ seinen Ärmel los und atmete zitternd ein und wieder aus, während sie ihren Weg fortsetzten.

Lauft schnell. Blickt nicht zurück.

Und vergesst uns nicht.

~~~

"Zu viele Jahre hast du in den Hallen unserer Väter gehaust und dich an ihrem Reichtum ergötzt! Zu viele Jahre habe ich dich verleugnet, habe nicht an dich glauben wollen! So wahr ich hier stehe, dein dunkles Treiben hat nun ein Ende!"

Mit grimmigem, vor Zorn aufloderndem Blick und mit weit gespanntem Bogen stellte sich der Zwergenkönig dem Drachen in den Weg.

Fili schluckte und stellte sich hinter ihn, zog sein Schwert und richtete dessen Spitze auf das bleiche Ungetüm vor ihrer beider Augen, bereit, es einzusetzen, sollte es vonnöten sein. Gerade noch hatte die Bestie Feuer gespien, und sie hatten diesem Feuer nur knapp entkommen können. Sie würde eine Weile brauchen, um ihre Kräfte erneut zu sammeln.

Thorins Hand zitterte nicht, als er den Bogen weiter nach oben richtete und direkt auf die Brust der Feuerschlange zielte, hinter der nun wieder ein grausam flackerndes Glühen aufflammte, dort, hinter den bleichen, metallisch glänzenden Schuppen.

Hatte sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch wie eine verwundete Katze schwerfällig über den Boden gehievt, so hielt sie nun inne, und nur wenige Meter trennten sie von den beiden Zwergen. Ihr Körper wirkte schwach und ausgemergelt, und ihre Gliedmaßen sahen aus, als hätte sie sich seit geraumer Zeit nicht vom Fleck bewegt. Dem allen zum Trotz glänzten ihre Augen lebendig, in einem blassen Blau. Wachsam, abwartend. Sie verstand jedes einzelne Wort, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Und dennoch schwieg sie, starrte auf Thorin hinab als wäre er ein lästiges Insekt.

Fili sah nervös zwischen der Bestie und seinem Onkel hin und her, als er bemerkte, dass Thorin keinen Schritt zurückwich, sondern stur und jähzornig die Pfeilspitze auf das Ungeheuer richtete, bereit, sie in dessen Fleisch zu versenken.

Und als Fili sich den Drachen genauer betrachtete, meinte er fast behaupten zu können, es würde ein leichtes sein, würde man richtig zielen, denn der Panzer dieser Schlange war dünn und weich geworden durch all die Jahre in der Nässe, im Hunger und in der Dunkelheit. Sie war schwach, bemerkte er, womöglich schwerkrank. Sie gehörte hier nicht hin. Die bleiche Farbe ihrer langen, spitzen Schuppen verriet, dass sie seit Jahren hier unten leben musste, ob sie jemals Tageslicht gesehen hatte, ließ sich nicht erahnen.

Ein scharfes, raues Geräusch, das einem Knurren gleichkam, entkam ihrer Kehle. Sie fauchte, zeigte eine Reihe spitz zulaufender Zähne, von denen bereits der Geifer tropfte und starrte durch ihre stechenden Augen auf die Zwerge zu ihren Füßen hinab.

Thorin begutachtete sie besonders, mit zu Schlitzen verengten Augen, hob die Nüstern, als versuchte sie zu erkennen, womit sie es zu tun hatte. Den Geruch von Zwergen kannte sie nur zu gut.

Es schien, als hielte sie inne, als wäre sie erstaunt über den Mut des verlorenen Königs. Sie beugte sich ein weiteres Stück zu ihm herunter; Thorin zog die dünne Luft scharf durch die Zähne ein und ließ den Bogen nach oben schnellen, sodass die Pfeilspitze direkt auf den Schädel der Bestie gerichtet war. Könnte er einen Schuss wagen? Sie hätten nur zwei Versuche. Würde der erste jetzt scheitern, würde ihm keine Zeit mehr bleiben, den zweiten Pfeil in die Sehne zu legen.

Thorin wusste das, und daher blieb der Pfeil an seinem Platz. Sein ganzer Körper spannte sich an, seine Finger verkrampften sich, die Sehne schien sich in sein Fleisch zu schneiden, so weit hatte er sie gespannt. Den Drachen schien das zu provozieren, und trotz dessen konnte er seine Furcht gut verbergen; so gut sogar, dass sein Neffe glaubte, er hätte den Verstand verloren.

"Thorin! Was tust du, in Durins Namen?!"

Der Schwarzhaarige ignorierte seine Worte und verharrte in der Position, Auge in Auge mit dem Feuerdrachen.

Es ist nur noch eine Frage von Sekunden, dachte Fili. Nicht mehr lange, und sie wird uns zu Asche werden lassen. Gleich.

Er schloss die Augen, in Erwartung des tödlichen Feuerschwalls, doch zu seinem Erstaunen erhob Thorin nun wieder die Stimme und der blonde Zwerg blinzelte, um dem Geschehen zu folgen.

"Wer bist du, Schlange? Wie konntest du dich all die Jahre vor uns verstecken? Du... du hast meinen Großvater in den Wahnsinn getrieben und damit dein Todesurteil besiegelt..."

Die Feuerschlange starrte nur, ohne etwas zu sagen, auf den Zwergenkönig hinab. Sie verstand, was er sagte, keine Frage. Doch sie antwortete nicht. Sie schien nachzudenken, als wäre sie sich nicht sicher, ob man den Worten des Schwarzhaarigen vertrauen konnte.

Thorin, der noch immer auf eine Reaktion der Bestie wartete, spannte den Bogen noch mehr und richtete ihn weiter empor, und als wäre das noch nicht genug, konnte Fili ein herausforderndes, schwaches Lächeln auf seinen Lippen erkennen, in seinen Augen brannte purer Kampfgeist, doch nichts überwog den Hass in seiner Stimme.

"Sieh dich an, Wurm! Du bist alt, schwach und krank! Welchen Tod erachtest du als den besseren? In kränklicher Schwäche zu verrecken oder durch den Gnadenpfeil des Königs unter dem Berge den Tod zu finden? Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir sind viele."

"Thorin, was tust du da? Ich denke nicht, dass wir uns erlauben können, sie zu provozieren!"

Der Angesprochene ignorierte ihn wieder. "Kannst du nicht sprechen, Schlange? Hat es dir die Sprache verschlagen? Bei Mahal, weißt du nicht, wer vor dir steht?!"

In den Drachen kam plötzlich Bewegung. Als hätten die Worte des Königs etwas bei ihr ausgelöst, ließ sie ihr Haupt wieder zurückschnellen, bäumte sich schnaubend auf und ließ ihren Blick über die kleine Gestalt streifen, die es wagte, sie zu bedrohen. 

Ihr Blick war wirr und huschte schnell über seinen ausgestreckten Bogenarm, sein Gesicht. Nach wenigen Sekunden blieb er an der Krone hängen.

Als hätte sie ein Gespenst gesehen, weiteten sich ihre Augen plötzlich. Es war der Moment, in dem sie die Worte verarbeitet und das, was sie gesehen hatte, realisierte. Der Moment, in dem sie erkannte, dass es sich bei dem Zwerg vor ihren Augen um niemand geringeren als Thorin Eichenschild handelte.

Ein bedrohliches Glühen ließ Thorin den Bogen wieder nach unten auf die Brust der Feuerschlange schnellen. Das Glühen rührte von dem Feuer, dass sich nun hinter ihren bleichen, ascheverschmierten Schuppen ansammelte, bereit, auszubrechen; es wurde von Sekunde zu Sekunde heller, leuchtender, drohender. Nicht mehr lange, und Thorin und Fili würden in einem Feuersturm vergehen.

"Thorin, wir müssen jetzt hier weg!"

Das Glühen seiner blassen, blauen Augen wetteiferte mit dem blauen Feuer, das denen der Drachenmutter innewohnte, nur lag in ihren etwas anderes als in seinen. Es war nicht dieser pure Hass, es waren nicht die Gefühle der Rache, denen Thorins Herz sich so leidenschaftlich hinzugeben vermochte, nein. Es war Furcht. Hoffnung. Irgendetwas, das nicht in das Wesen einer Feuerschlange passte. Und irgendwann brach es aus.

Ein wütendes, knurrendes Fauchen entfuhr ihrer heiseren Kehle, das mehr zu einem zornigen Warg als zu einem Drachen gepasst hätte, bevor sie erneut eine Reihe bleicher, spitz zulaufender Zähne zeigte und sich noch weiter zu ihnen hinunterbeugte, in ihrem Rachen sahen beide das Feuer emporsteigen.

Dann ging alles ganz schnell.

Die Finger des Zwergenkönigs verließen die Sehne und der Pfeil schwirrte mit einem schneidenden Geräusch durch die Luft, so schnell, dass Fili ihn erst bemerkte, als er bereits den auflodernden Drachenpanzer durchbohrt hatte.

Als sie das Metall in ihrem Fleisch spürte, blieb ihr das Feuer sprichwörtlich im Halse stecken. Für einige schreckhafte Sekunden hielt sie inne, als bräuchte sie Zeit, um zu realisieren, was geschehen war, dann brach sie in ein donnerndes, qualvolles Geschrei aus. Die beiden Zwerge mussten sich die Ohren zuhalten, da dieser grausame, schmerzvolle Laut in ihrem Kopf sirrte und nachhallte. Sie richtete sich auf, schlug ein paar Male mit den löchrigen, weißen Flügeln und krümmte sich vor Schmerz und Zorn.

Sie kam nicht mehr dazu, Feuer zu speien. Der Pfeil saß tief in ihrem Fleisch, es war ein kraftvoller und entschlossener Schuss gewesen, ein Zeugnis von Wut, von Hass, von Rache.

Eine einzelne Stichflamme, ein paar glühende Funken und ein schmerzhaft klingendes Zischen, mehr brachte sie nicht hervor. 

Fili, der sich bis zu diesem Augenblick im Hintergrund gehalten hatte, konnte nicht mehr länger an sich halten und stürzte auf seinen Onkel zu, packte ihn an den Schultern und zerrte ihn von dem sterbenden Drachen weg - und das keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Augenblick besann sich die vor Schmerz schreiende Feuerschlange ihrem Ziel und der Gegenwart desjenigen, der ihr das angetan hatte, holte mit einer schwachen Bewegung einer ihrer Klauen nach ihm aus und verfehlte ihn nur knapp.

Es schien aberwitzig. Ein winziges Stück Metall, eine einzige Bewegung - und das war es? Mehr brauchte es nicht, um einen Drachen zu Fall zu bringen?

Fili war nicht in der Lage, das Geschehene zu begreifen, starrte mit offenem Mund auf die Feuerschlange, die nun mit einem dumpfen, grollend widerhallenden Geräusch auf den Gesteinsboden sank, während er sich bemühte, seinen Onkel in die entgegen gerichtete Richtung zu ziehen. Nur ein einziger Pfeil. Es hat nur einen einzigen Pfeil gebraucht.

Ein letztes Zucken durchfuhr ihre Klaue, und die Drachenmutter versuchte ein letztes Mal, sich krümmend vor Schmerz,  ihre Flügel zu öffnen. Doch es war vergeblich. Sie war zu schwach.

Rauch stieg aus ihren Nüstern hervor. Ihr Atem war qualmig, unruhig und bebend, doch zusehends schien er sich zu verlangsamen, als hätte sie aufgegeben. Als hätte sie den Tod akzeptiert.

Ein letztes Mal starrte sie mit zornerfülltem Blick auf die beiden Zwerge, die mit vor Entsetzen geöffneten Mündern dem Geschehen folgten. Ihr Körper wirkte tot, schon seit sie sie das erste Mal gesehen hatten. Das einzige, das lebendig an ihr wirkte, waren diese furchtbaren, grausam glühenden Augen. Dieses blaue Feuer war noch nicht versiegt, und irgendetwas an dieser Tatsache ließ Fili stutzig werden. Es ging schnell. Fast zu schnell.

Als würde sie in einen sanften Schlaf sinken, schlossen sich ihre Lider. 

Schon bald bewegte sie sich nicht mehr.

~~~

"Kili, bleib stehen!"

Der junge Zwerg, der dem ächzenden Halbling nun schon um einiges voraus war, warf einen Blick über die Schulter, doch er dachte gar nicht daran, seiner Bitte Folge zu leisten. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf, rannte weiter und verringerte die Geschwindigkeit seiner Schritte ein wenig, damit der Hobbit zu ihm aufschließen konnte. "Du hast Thorin gehört! Wir müssen die anderen rufen, sonst... sonst..." 

Er rang erschöpft nach Atem und kniff die Augen zusammen, um seine Tränen zurückzuhalten. Sonst werden sie sterben, das hatte er eigentlich sagen wollen. Doch irgendetwas sagte ihm, dass es vielleicht schon zu spät war. 

Was hatten sie auch erwartet? Sie hatten ihn mit seinem Bruder alleine zurückgelassen, bewaffnet mit lediglich zwei Pfeilen, dessen Tauglichkeit noch nie zuvor unter Beweis gestellt wurde. Was nützt schwarzes Metall gegen Feuer?

"Kili, bitte! Hörst du das denn nicht?"

Der Halbling war inzwischen stehen geblieben und hatte den Kopf zurückgedreht, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Außer beklemmender Schwärze und leuchtendem Metall ließ sich nichts erkennen, doch Bilbo war sich sicher, dass er auch bei Tageslicht nicht viel gesehen hätte, denn seine Augen waren von einem dichten Tränenschleier überzogen. Er versuchte, die brennende Flüssigkeit wegzublinzeln, doch es gelang ihm nicht.

Als Kili erkannte, dass der kleine Hobbit stehen geblieben war, tat er es ihm gleich, seufzte ungeduldig und bitter auf und überwand mit hastigen Schritten die kurze Distanz, die er ihm in der Zwischenzeit vorausgerannt war. "Bilbo, komm jetzt! Wir können nichts tun, verdammt! Wenn sie... wenn... sie es nicht... geschafft haben sollten, willst du, dass ihr Opfer umsonst war?!"

Der Meisterdieb blickte nun wieder in die Richtung des Zwerges, dessen Anwesenheit nur durch eine dunkle Silhouette vor dem erhellten Fels verraten wurde. Seine Augen funkelten im schwachen Licht, als er die Hand hob, um Kili anzuweisen, zu schweigen, doch im nächsten Augenblick erinnerte er sich wieder, dass diese Geste aufgrund der alles verschlingenden Dunkelheit wohl kaum sichtbar gewesen wäre und entschied sich, zu sprechen. 

"Kili, bitte... Sag mir, ob du es auch hörst."

Der Angesprochene legte den Kopf schief und verschränkte die Arme, da er nicht verstand, worauf sein Gegenüber hinauswollte. "Ich... ich höre nichts."

Bilbo nickte. "Und stimmt dich das nicht auch nachdenklich?"

Jetzt verstand der junge Zwerg. Seine Augen weiteten sich und sein Mund stand einen Spalt offen. Seine Arme ließ er wieder nach unten sinken, so schlaff und fassungslos, als hätte er es gar nicht beabsichtigt.

"Die Feuerschlange rührt sich nicht mehr..."

Bilbo nickte. "Ja, sie rührt sich nicht mehr. Irgendetwas ist geschehen. Bitte, lass uns umkehren und nachsehen, ich habe irgendwie ein ziemlich mulmiges Gefühl bei der Sache..."

Die nun eingekehrte Stille war fast schlimmer als das laute Schnauben, Rumoren und Donnergrollen, das bis vor kurzem noch erklungen und den Flüchtenden mit einem schaurigen Widerhall hinterhergejagt war. 

Kili, dessen Mund noch immer ungläubig und hoffnungsvoll offen stand, nickte zögerlich. "Du meinst, sie... sie ist tot?" 

Das letzte Wort war nur ein Flüstern, ein Wispern, so leise wie das eines Windhauchs im Sommer. 

"Ich weiß es nicht, aber... nein. Unsere Chancen standen zu schlecht, als dass wir unser Ziel so schnell hätten erreichen können. Ich habe kein gutes Gefühl. Sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen sein, dann haben wir vielleicht jetzt die Möglichkeit, schlimmeres zu verhindern. Bitte, lass uns umkehren!"

Der blasse Hoffnungsschimmer, der bis zu diesem Moment noch die Augen Kilis durchzogen hatte, verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war. Er wich etwas stärkerem. Etwas, was Bilbo nicht so recht zu deuten wusste. 

Stur und mit einem tiefen Schatten der Sorge, der sein Gesicht verhüllte, nickte der junge Zwerg schließlich. "Du hast recht. Gehen wir."

Doch bevor sie sich in Bewegung setzen konnten, lenkte ein lauter Ruf vom anderen Ende des Ganges ihre Aufmerksamkeit auf sich und ließ sie erschrocken herumfahren.

"Hey! Ihr da! Wartet!"

Mit einiger Anstrengung konnten sie winzige, leuchtende Punkte in der Finsternis ausmachen, die wild und unruhig auf- und abtanzten. Sie gehörten zu den Fackeln, die den anderen der Gemeinschaft ausgehändigt worden waren.

Ohne ein Wort zu sagen ließen sie sie näher kommen, die Fackelträger und deren Stimmen, ihre Schritte hallten an den Wänden wider und der metallische Klang ihrer Schwerter und Pfeile untermalten ihre besorgten Rufe. Schon bald hatten sie sie erreicht. Dwalin war es, der gerufen hatte, denn er rannte an der Spitze der anderen und hatte die beiden dunklen Silhouetten als erster entdeckt.

Als sie bei ihnen angekommen waren und vor ihnen zum Stehen kamen, mussten Bilbo und Kili blinzeln, denn das rote Licht der Fackeln wirkte plötzlich unfassbar grell und stach in ihren Augen, die sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. 

Als sie allmählich begannen, ihre Umrisse und die Gesichter derer, die auf sie zugerannt waren, zu erkennen, waren sie zunächst unbeschreiblich erleichtert, doch schon in der nächsten Sekunde strahlten ihre Gesichtszüge pure Sorge und Verzweiflung aus, bei dem Gedanken an die beiden, die sich noch immer in der vergessenen Halle befinden mussten. Hilflos, ausgeliefert. Und vielleicht nicht mehr am Leben.

"Mahal sei Dank, ihr lebt!" Es war Bofur, der nun hinter Dwalin hervortrat. Der Stein, der ihm vom Herzen fiel, war dabei mehr als spürbar. "Wir haben die Geräusche gehört und dachten, ihr wärt längst zu Asche geworden!" 

Die beiden Angesprochenen brachten kein Wort heraus, selbst, wenn sie gewollt hätten. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich unglaublich rau an und schmerzte brennend durch die vergossenen Tränen.

"Wo ist Thorin? Und Fili?" Das war Balin, der direkt hinter seinem Bruder stand. Er blickte sie mit einem so durchdringenden Blick an, dass Bilbo den seinen sofort nach unten richtete und schluckte.

Kili schien es ähnlich zu gehen, denn auch er wandte sich ab und verzog sein Gesicht vor Sorge. Sein Hals brannte. Doch der Schmerz seiner geröteten Augen, die nun drohten, Wasserfälle an Tränen zu vergießen, übertraf dieses Leiden bei weitem. Zu mehr als einem Kopfschütteln war er nicht fähig.

Die Zwerge, die sich unsicher waren, ob dies den Tod ihres Königs zu bedeuten hatte, begannen, durcheinander zu murmeln. Dwalin zog scharf die Luft durch die Zähne ein, ehe er sich wieder sammelte und den Blick betreten nach unten richtete, als hätte er bereits eine Vorahnung, was geschehen war. Eine Ahnung, von der er hoffte, dass weder Bilbo noch Kili sie bestätigen konnten. "Sprecht, was ist geschehen?"

Kili richtete seinen Blick wieder zu ihm und begann, mit zitternder Stimme zu sprechen. 

"Wir haben den Drachen geweckt."

Ein Raunen ging durch die Menge, verstummte jedoch auf ein Handzeichen Balins. Kili fuhr fort.

"Wir konnten uns in letzter Sekunde hinter einer der Säulen in Sicherheit bringen, bevor uns ihr Feueratem verschlingen konnte. Doch lange hätte uns der Fels nicht geschützt. Thorin wies uns an, zum Ausgang zurückzulaufen, während er und Fili die Bestie ablenken. Er wies uns an, Hilfe zu holen. Wir mussten sie in der Halle zurücklassen." 

Tränen, die er bis jetzt hatte zurückhalten können, bahnten sich ihren Weg nach außen und strömten in breiten Rinnsalen seine mit Asche verschmierten Wangen hinab. Er fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht, doch es brachte keine Besserung.

Bilbo, der erkannt hatte, dass der junge Zwerg nicht mehr fähig war, weiterzusprechen, erhob seine ebenfalls bebende Stimme. "Was dann geschah, wissen wir nicht. Vor wenigen Minuten sind die Geräusche verstummt, weshalb wir beschlossen, umzukehren. Wir gingen davon aus, ihr wärt ohnehin schon auf dem Weg hierher."

Balin nickte. "Und ihr habt Recht damit behalten."

Bilbo blickte in die Runde. Und urplötzlich wich seine Trauer einer unerwarteten Kampfeslust. Es fühlte sich so an, als sei sie all die Jahre tief in ihm vergraben gewesen, hätte nur auf den entscheidenden Moment gewartet, um herauszubrechen, und als sie es tat, fühlte er sich unbeschreiblich befreit. Trotz des Schmerzes. Trotz der Trauer. Er trat an Kili vorbei und räusperte sich, woraufhin er im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. "Die Zeit läuft uns davon, wir müssen umkehren, und das jetzt! Es geht um das Schicksal eures Königs, um das unserer Freunde! Sie brauchen uns und sie haben uns noch nie so sehr wie jetzt gebraucht. Ich würde vorschlagen, wir nehmen die Beine in die Hand, rennen zurück und versuchen, zu retten, was noch zu retten ist. Haltet die Pfeile bereit und zieht eure Schwerter!" Demonstrativ zog er Stich aus der Scheide und deutete mit der Spitze in die Richtung, aus der sie gekommen waren. "Folgt uns jetzt. Kili?" 

Er blickte zu dem jungen Zwerg, dessen Gesicht noch immer vor Schmerz verzerrt war, woraufhin dieser den Kopf hob und nickte. "Wir werden euch führen. Wie Bilbo schon sagte, haltet die Pfeile schussbereit, denn... wir wissen nicht, auf was wir stoßen werden."

Mit einem mulmigen Gefühl rannten sie wieder in die Dunkelheit, der Halbling und Kili an der Spitze der Gemeinschaft. 

Und Bilbo konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so schnell gerannt war wie in diesen Minuten.

~~~

Die Schwerter kampfeslustig in die Höhe haltend und die Bögen weit gespannt stürmten sie in die Halle. Sie hatten keine Zeit, Bewunderung für ihre Ausmaße zu zeigen, in ihrem uneingeschränkten Streben, ihren Anführer zu rächen, rannten sie unbedacht mit großen, hasserfüllten Worten auf den Lippen durch das Tor, welches dem Halbling und den Zwergen zuvor den Atem geraubt hatte.

Doch dieses Mal war es nicht die unbeschreibliche Schönheit der alten Gewölbe, in denen einst Hammerschläge und Lieder erklungen waren, sondern die Angst, der Hass und der Durst nach Rache, der ihnen den Atem nahm. 

Zu ihrer aller Erstaunen war die Halle dunkel und lag ruhig vor ihnen wie ein Grab. 

Bilbo, der an der Spitze gerannt war, blieb so abrupt stehen, dass die anderen fast in ihn hineinliefen und ins Taumeln gerieten. Ehe sie sich darüber beschweren konnten, hatte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit ergriffen. Das, was den kleinen Hobbit stehen bleiben ließ.

Bleich wie der Tod lag sie da, die zerfetzten Flügel noch halb geöffnet, als hätte sie versucht, zu fliegen. Eine dünne, kaum erkennbare Rauchsäule stieg aus ihren Nüstern hervor, ausgelöst durch das erkaltende Feuer ihrer Kehle, dessen erloschene Glut in dem unterirdischen Gewässer lag, in das die Feuerschlange gefallen war. Ihre Klauen lagen qualvoll gekrümmt und steif neben ihrem bleichen Haupt, ihre Lider waren geschlossen.

So, wie sie dort lag, sah es aus, als würde sie friedlich schlafen, wäre nicht die verdächtige Nähe zum Wasser und die unnatürlich verdrehten Flügel gewesen, die offenkundig schon seit Jahren nicht mehr zum Fliegen taugten, sondern nur als schwere, kräftezehrende Last von ihrem Körper hingen.

Doch sie schlief nicht.

Das zuvor klare Wasser, das wie ein in den Boden eingearbeiteter Spiegel die leuchtenden Netze der fernen Deckengewölbe reflektierte, hatte sich auf unnatürliche Weise dunkel gefärbt. Als sie genauer hinsahen, konnten sie erkennen, dass diese seltsame Trübheit von den tiefschwarzen Rinnsalen rührte, die aus der Wunde der Bestie strömten und sich mit dem kristallklaren Wasser vermengten. Wie schwarze Tinte vereinte sich das Blut mit dem reinen Quellwasser. Bald würde von dem unterirdischen See nur noch eine dunkle, undurchsichtige Brühe übrig sein. Wasser und Drachenblut.

Die kampfeslustigen Worte, die sie zuvor noch in ihrem Streben bestärkt hatten, waren so plötzlich verstummt, dass es regelrecht skurril wirkte. Mit offenen Mündern standen sie da, am Eingang des Tores, und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf den bleichen Leichnam.

Bilbo schluckte und riss seinen Blick nur widerwillig von der ausgemergelten Feuerschlange los, denn er bekam bei ihrem Anblick eine Gänsehaut, und zugleich fühlte er etwas, worüber er sich erschrak. Das Geschöpf, das nun kalt, steif und hilflos vor ihren Augen lag, war eine Mutter gewesen. Die Mutter Smaugs Kinder. Ihr dürrer, langer Körper wies Spuren älterer Wunden auf, lange, weiße Narben, und ihre Schuppen hatten an Glanz verloren. Was Bilbo bei diesem Anblick spürte, war Mitleid, und das verstand er nicht. Sie hatte versucht, sie zu töten. Thorin war der Ansicht, sie wäre für das Schicksal seines Großvaters verantwortlich. War das nicht eigentlich ein Grund zum Hass? Nun, Hass spürte er nicht. Er wusste auch nicht, ob er zu solch einem Gefühl überhaupt fähig war. 

Seine Augen ruhten weiter auf ihr, und das Mitleid verschwand nicht. Sie hatte ein trauriges Leben, musste er plötzlich denken. Ein sehr, sehr trauriges Leben. Ihr Schattendasein hatte ihren bleichen Körper mit Hunger, Leid und Krankheit gezeichnet. Sie war in Vergessenheit geraten, und wäre vergessen geblieben, niemand hätte je von ihr gewusst, und das Geheimnis wäre irgendwann mit Thorin gestorben. Smaug hatte nie von ihr gesprochen. Sie war sein Geheimnis gewesen. Ob er von ihr gewusst hatte, als er Thal zerstört und sich in den Einsamen Berg zurückgezogen hatte? Hatte er sie mit Absicht verschwiegen, in der Hoffnung, sie würde überleben? Fragen, so viele Fragen... Und auf keine einzige würde er jemals eine Antwort erhalten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und ließ ihn erzittern.

Sie war hier. 

All die Monate, die du hier warst, hat sie hier unten gelegen, Dummkopf. Tag für Tag. Nacht für Nacht.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe die Zwerge und er begannen, zu verstehen und zu verarbeiten, was sie gesehen hatten. Der Grund, aus dem sie hier waren, lag tot vor ihren Augen. Panisch ließ Bilbo seinen Blick durch die Halle gleiten, von Wand zu Wand, von Säule zu Säule. Doch seine Augen trafen nicht auf die beiden, nach denen er suchte.

"Thorin!"

Er rief den Namen mit solch einer Kraft und Lautstärke, dass es auch die anderen Zwerge aus ihrer Starre erwachen ließ und sie begannen, sich ihm anzuschließen.

Kili setzte die Hände an die Lippen und rief verzweifelt den Namen seines Bruders, in der Hoffnung, von irgendwo aus der Dunkelheit eine Antwort zu erhalten. Doch die einzige Antwort, die er erhielt, war der schneidende, kalte Widerhall seiner eigenen Stimme und die Namen wurden zu ihnen zurückgeworfen, verebbten und ließen ihre Hoffnung von Mal zu Mal geringer werden.

"Thorin! Fili! Ist irgendjemand hier?!"

Das ist es also, dachte Bilbo, und spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. Das Ende des Königs unter dem Berge und das seines Thronfolgers. Würden sie weiter suchen, so würden sie irgendwann auf die verbrannten, zerfetzten Überreste derer treffen, die sie vor dem Tode bewahrt hatten. Die für das Leben ihrer Gefolgschaft ihr eigenes gegeben hatten. Eine Träne rann seine Wange hinunter, als er diesen Gedanken beendet hatte und er senkte seinen Blick.

Doch sein Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus, als plötzlich eine Stimme an seine Ohren drang.

"Kommt! Schnell! Wir sind hier!" 

Er hörte Kili - und nicht nur ihn - erleichtert und durch die Tränen zitternd aufatmen, als sie erkannten, dass diese Stimme zu Fili gehörte und wie sich in einigen Metern Entfernung ein Schatten von einer der Säulen löste und sie mit ausgestrecktem Arm zu sich winkte. Der Schatten musste zu dem blonden Zwerg gehören.

Die Aufforderung, zu kommen, ließen sich der Halbling und die Zwerge nicht zweimal sagen, über alles erleichtert und überglücklich stürmten sie in seine Richtung. Ihre Beine schienen sich von selbst zu bewegen, es dauerte - gefühlt - keine Sekunde, und sie hatten den blonden Zwerg erreicht.

Kaum war das geschehen, trat Kili vor und zog ihn in eine Umarmung, die der für tot erklärte nur allzu gerne erwiderte. "Wehe, du jagst mir noch einmal so eine Angst ein, du... du..." Unter seine Worte mischten sich Tränen. Tränen der Erleichterung.

Sein Bruder lächelte schmerzerfüllt. "Ist schon gut, Kleiner. Dachtest du, ich lasse dich einfach so allein zurück?" Als sie sich lösten, stand beiden die Freude über das unerwartete Wiedersehen ins Gesicht geschrieben. Ein Wiedersehen, von dem sie nicht einmal zu träumen gewagt hätten.

Überglücklich, ihn am Leben zu sehen, traten nun auch die anderen vor, begrüßten ihn überschwänglich und so erleichtert, als hätten zwischen ihrer letzten Begegnung und der jetzigen Jahrzehnte gelegen. Bilbo war es, der es als erster wagte, den Moment durch eine Frage zu unterbrechen. Eine Frage, die jedem einzelnen von ihnen auf der Seele brannte.

"Wo ist Thorin?" Er wartete keine Antwort ab, sondern fügte noch ein ungläubiges "Wie habt ihr das nur geschafft?" hinzu, und diese letzte Frage war nicht einmal beabsichtigt gewesen, sondern nur einer seiner vielen Gedanken, die er versehentlich laut ausgesprochen hatte.

Fili öffnete kurz den Mund, um ihm eine Erklärung zu geben, besann sich aber in der nächsten Sekunde eines besseren und nickte schließlich nur. "Das fragst du ihn am Besten selbst." Er wies hinter die Säule und die anderen folgten der gedeuteten Richtung. 

Dort saß er am Boden, den Bogen neben ihm abgelegt, daneben der zweite schwarze Pfeil. Den reich verzierten Brustharnisch und das Kettenhemd hatte er abgelegt, seine Hand lag auf seiner Brust. Zwischen seinen Fingern quoll frisches Blut hervor.

Bilbo konnte bei diesem Anblick nicht länger an sich halten und drängelte sich an Fili vorbei, um sich neben den Schwarzhaarigen auf den Boden zu knien.

Thorin, der durch die schmerzende Wunde noch schwach war, hob zitternd den Kopf und sah dem Halbling in die Augen. "B-bilbo..." stammelte er erleichtert und versuchte, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen, doch in diesem Moment ließ ihn ein unangenehmes Ziehen der Wunde unter seiner Hand zusammenfahren und er verzog sein Gesicht vor Qualen.

Bilbo nahm seine andere Hand und flüsterte. "Bleib ruhig. Das wird schon wieder. Ich bin so froh, dich zu sehen..." Er erwiderte das Lächeln, zu dem sein Freund nicht fähig gewesen war und in ihre beiden Gesichter schlich sich Wärme.

Der Halbling drehte sich um und sah zu Fili. "Was ist mit ihm passiert? Wurde er verwundet?"

Der Angesprochene nickte sachte. "Ja, vor vielen Monaten. Das hier war nicht der Drache. Die Nähte waren einfach zu frisch, er hätte sich schonen müssen."

Bilbo blickte für einige Sekunden zwischen Fili und dessen Onkel hin und her, eher er den zu seinen Füßen liegenden Zwerg mit einem tadelnden Blick bedachte. "Du weißt, dass du dir, wenn wir wieder oben sind und deine Nähte erneuert haben, eine ordentliche Standpauke anzuhören hast, das ist dir bewusst, oder?"

Der Zwergenkönig lächelte nun doch gequält und versuchte, sich wieder aufzurichten. "Du hast ja recht, ich hätte auf dich hören sollen... wie sooft." 

Bilbo zog erst eine Braue hoch und verschränkte die Arme, konnte diese Maske allerdings nicht lange aufrechterhalten, zu groß war die Freude über seinen lebenden Freund. Er stand auf und half dem mit seinem Gleichgewicht kämpfenden Zwerg auf die Füße, denn er konnte die jämmerlichen Versuche, sich ohne Hilfe aufzurichten, nicht mehr länger mit ansehen. Dankbar und taumelnd stützte sich der Schwarzhaarige auf seinen Schultern ab und trat mit ihm ans Licht der Fackeln.

"Ihr habt meinen Dank. Ihr alle. Verzeiht, denn noch bin ich nicht zu großen Worten des Dankes fähig, auch wenn es jeder einzelne von euch verdient hat. Lasst uns wieder nach oben gehen."

 Dwalin, der bis zu diesem Zeitpunkt mit verschränkten Armen neben seinem Bruder gestanden hatte, drückte ebendiesem seine Fackel in die Hand und trat vor, um Bilbo beim Stützen des Königs zu helfen. 

Während Kili seinen Bruder zu überreden versuchte, ihm alles genauestens zu schildern, machten sie sich auf den Weg zurück zum Ausgangstor.

Thorin ließ sich mehrere Meter weit stützen, bestand jedoch nach wenigen Minuten darauf, wieder alleine gehen zu können, da seine Kräfte langsam wiederkehrten. Unter Protest gehorchten Dwalin und der Halbling schließlich, doch Bilbo blieb die restlichen Meter stets neben ihm, um ihn im Falle des Falles auffangen zu können.

Sie beide gingen als letzte in der Reihe von Zwergen, die nun mit erleichterten, beschwingten Schritten vorangingen. Der Halbling musste sehr breit lächeln, als er ihnen nachsah, und er freute sich von ganzem Herzen, denn vor wenigen Minuten hatte er noch Tränen über den Tod von Thorin vergossen, und nun ging dieser lebendig neben ihm, wenn auch humpelnd und langsam und blass. 

Blass schimmerte auch der bleiche, reglose Körper der Drachenmutter, an dem sie vorbeigehen mussten, um zum Ausgangstor zu gelangen. Als er sah, wie sich ihr viele der Zwerge neugierig näherten, um ihre Ausmaße und den schwarzen Pfeil in ihrer Brust zu bestaunen, lief es ihm kalt den Rücken hinunter, und plötzlich hatte er seine Freude über die Rettung vergessen. Ganz anders als Thorins Gemeinschaft. Er sah zu, wie sie nach und nach neben dem Leichnam stehen blieben, und nach einigen erstaunten, anerkennenden Worten schließlich weitergingen, um das Tor zu passieren, das aus der Halle führte. 

Als Bilbo und Thorin jedoch bei ihr ankamen, blieb der Halbling ungewöhnlich lange stehen.

Mit geöffnetem Mund und zu Schlitzen verengten Augen betrachtete er den Kopf der Bestie, deren Auge gut die Hälfte seiner eigenen Körpergröße hätte abdecken können. Doch es war geschlossen. Und es würde sich nie wieder öffnen, diese blauen, feurigen Iriden würden auf ewig hinter diesen weißen, geschuppten Lidern verborgen bleiben.

Er trat vorsichtig einen Schritt näher, sodass zwischen ihm und der Schnauze des Ungeheuers nur noch wenige Zentimeter platz waren und streckte zaghaft eine Hand aus, um mit seinen zitternden Fingern die glatten Schuppen zu berühren. Irgendetwas behagte ihm nicht. Ganz und gar nicht.

Als Thorin bemerkte, wie seltsam eingenommen sein Meisterdieb auf einmal war, humpelte er neben ihn und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. "Ist alles in Ordnung?"

Bilbo bemerkte seine plötzliche Nähe erst nach diesen Worten und zuckte leicht zusammen, als er seiner Gegenwart gewahr wurde. Er schüttelte verlegen den Kopf und räusperte sich. "Ich kann einfach nicht glauben, dass sie nun wirklich Geschichte ist. Dass du sie mit nur einem einzigen Pfeil hattest töten können."

"Das muss wohl an meinem Schutzengel liegen." Er lächelte und streckte ebenfalls seine Hand aus, legte sie neben der des Halblings auf der glänzenden, glatten Schnauze der Bestie ab, woraufhin dieser errötete, als sich ihre Fingerspitzen berührten.

Bilbo sah zu ihm auf und musste das Lächeln ungewollt erwidern. Er würde dem Schwarzhaarigen um den Hals fallen, wäre er dazu in der Lage, doch das war er nicht.

Er wandte seinen Blick wieder ab, zog die Hand zurück und starrte auf das geschlossene Auge der Feuerschlange. Die Schnauze hatte sich durch die letzte Feuersglut, die nun durch den Kontakt des Quellwassers erlosch, erstaunlich warm angefühlt, fast sogar lebendig. Es war ein unangenehmes, beängstigendes Gefühl.

"T-thorin?" Plötzlich sah er etwas. Und im ersten Moment war er sich nicht sicher, ob es eine Einbildung oder die Realität war. Wie von selbst trat er zwei große Schritte zurück, ohne den Drachen aus seinen Augen zu lassen, die vor Entsetzen geweitet waren.

"Was ist?" Auch der Schwarzhaarige zog nun seine Hand zurück und humpelte in die Richtung des verschreckten Hobbits.

"Bitte sag mir, dass ich mir das nur einbilde, aber ist es möglich, dass ihr Lid gerade gezuckt hat?" Sein Gesicht war kreideweiß und er wies mit zitterndem, ausgestrecktem Arm auf das monströse Haupt der Bestie.

Thorin blickte einige Sekunden verwirrt zwischen dem Drachen und dem Halbling hin und her und lachte schließlich kurz und leise auf. "Sie ist tot, Bilbo. Wir alle haben einen ziemlich kräftezehrenden Tag hinter uns, da kann es schon einmal vorkommen, dass man Gespenster sieht. Das ist vollkommen normal." Das Lächeln wurde breiter.

"Normal..." wiederholte Bilbo ungläubig. "Nein, Thorin, das war keine Einbildung." Er sprach es so zitternd und bebend aus, dass es kaum verständlich wurde, es war dieser verängstigte Blick und nicht seine Worte, der den Schwarzhaarigen dazu veranlasste, sich umzudrehen.

Er schreckte zurück, als er sah, was der Halbling meinte. 

Ein Zucken durchfuhr die Klaue, die schmerzvoll gekrümmt neben dem Haupt der Bestie lag. Mit einem Geräusch, das so klang, als würden sich zwei Schwerter streifen, schnappte sie auf, und in der nächsten Sekunde hob sich eine der Nüstern und eine weitere Rauchschwade erhob sich gen Deckengewölbe.

"Bilbo! Geh von ihr zurück!" Er griff ohne zu zögern nach der Hand des Hobbits und zerrte ihn in Richtung der anderen, die ihnen schon um einiges voraus waren. Weit hinten, im bläulichen Silberlicht des Tores konnten sie die letzten Fackeln hinter der Torsäule verschwinden sehen.

So schnell es ihm seine Verletzung erlaubte, rannte er in diese Richtung, dem letzten Licht entgegen, der Halbling stolperte hinter ihm her.

Ein lautes Donnergrollen hinter seinem Rücken ließ ihn zurückblicken. 

Sein Blick traf auf ein Paar glühender, blauer Augen, zu Schlitzen verengt, und das Feuer, das in ihnen brannte, leuchtete stärker denn je.

Bilbo vergaß, wie man atmete. Sie ist nicht tot. War es nie gewesen. "Sie... sie hat sich tot gestellt?!" Seine Stimme brach, und seine Frage wurde übertönt. Eine Antwort hätte er ohnehin nicht erhalten, und er wurde weitergezogen, in die Dunkelheit, und als er seinen Blick wieder nach vorne richtete, konnte er keine einzige Fackel mehr erkennen. 

Panisch drehte er den Kopf wieder zurück, sah zu, wie sie sich aufbäumte, ihre zerfetzten Flügel streckte und versuchte, sich mit ihren scharfen Krallen aus der Pfütze ihres eigenen Blutes zu hieven. Und sie ließ sich Zeit dabei. Als wäre sie zu schwach. Oder aber, als würde sie wissen, dass der Zwergenkönig den Ausgang dieser Halle keinesfalls rechtzeitig erreichen würde.

War das ihr Plan gewesen? Bilbo wagte es nicht, über eine Antwort nachzusinnen, und die Situation gab ihm ohnehin keine Zeit für detailreiche Überlegungen. 

Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Kurz wirkte es, als würde die Feuerschlange mit dem Gedanken spielen, den beiden zu folgen, doch sie musste einsehen, dass sie nicht schnell genug war. Stattdessen nahm sie nun etwas anderes ins Visier.

"Was zum Henker hat sie vor?" hätte Bilbo am liebsten gesagt, doch seiner Kehle entfuhren nur erbärmliche, kratzende Laute.

Der Schwarzhaarige reagierte nicht auf seine jämmerlichen Versuche, sondern rannte nur weiter in Richtung des Tores. Die anderen, die dahinter verschwunden waren, hatten das plötzliche Donnergrollen bemerkt und ihre Schritte näherten sich wieder.

"Die Pfeile! Schnell! Gebt mir einen Bogen!" Thorins Stimme war rau und heiser durch das Blut, das er hatte schlucken müssen und seine Schritte wirkten alles andere als sicher. 

Die meisten der Zwerge hatten den Torbogen nun wieder erreicht und starrten fassungslos auf den Drachen, als hätten sie ein Gespenst gesehen. Thorins Rufe hatten sie aus ihrer Schockstarre befreit und nun rannten sie auf ihn und den Halbling zu, die Pfeile in den zitternden Händen. Bilbo erkannte Fili und Kili an vorderster Reihe. Nicht mehr lange. Nicht mehr lange und sie werden uns erreicht haben.

Doch dazu sollte es nicht kommen.

Ein tiefes, dröhnendes Grollen ließ sie herumfahren und vor Schreck in ihren Bewegungen innehalten.

Sie... sie wird doch nicht etwa... So langsam meinte Bilbo, zu verstehen. Der Grund, aus dem sie ihnen bis jetzt noch keinen Feuersturm hinterhergeschickt hatte, war, dass sie es schlichtweg nicht mehr konnte. Als würde ihr Leben davon abhängen, machte sie sich nun an einer der alten Säulen zu schaffen, zerfurchte mit ihren Klauen das verwitterte Gestein und lehnte sich mit all ihrem Gewicht dagegen. Und Bilbo begann, zu begreifen, warum sie das tat.

Ein lautes Krachen drang an ihre Ohren. Sie hatte den Fels zum Bersten gebracht. Ein langer, bedrohlich wirkender Riss zog sich die gesamte Säule entlang. Eine schwarze, breite Lücke zwischen den bläulich glimmenden Adern.

Dann brach sie.

Ein starker Ruck an seiner Hand riss Bilbo aus seiner Starre und er spürte, wie er von Thorin weitergezogen wurde. Mit seinem rechten Arm winkte der Schwarzhaarige mit aller Kraft hin und her, um den entgegenkommenden Zwergen zu deuten, sie sollten wieder umkehren, denn sollten sie näher kommen, würden sie bei lebendigem Leibe unter den zu Boden fallenden Gesteinsbrocken begraben werden, die die brechende Säule gelöst hatte.

"Lauft!"

Einige blieben zunächst wie angewurzelt stehen und ließen vor Schreck die Pfeile und Bögen fallen, sahen jedoch im nächsten Moment ein, dass ihr König mit seinem Befehl Recht behielt und flüchteten sich vor dem Gesteinsregen zum schützenden Schatten des Torbogens.

Kili zögerte, als er sah, wie gefährlich weit sein Onkel und der Halbling noch entfernt waren. Er wollte auf sie warten, doch im nächsten Moment riss ihn sein Bruder zurück - und das keinen Augenblick zu früh, denn sofort sauste einer der Gesteinsbrocken hinab und zersprang vor ihren Augen, so laut, dass sein Widerhall in den Ohren schmerzte. "Flieh, du Narr! Oder willst du etwa sterben?!" 

Verdattert sah er zu seinem großen Bruder auf und begann, zu stammeln. "Aber wir müssen Thorin und Bilbo helfen! Sie werden es nicht schaffen!"

Fili schüttelte nur den Kopf und wich einem weiteren Stein aus. "Komm jetzt! Du hilfst ihnen nicht, indem du stirbst!"

Ohne ein Wort des Protests zuzulassen, packte er ihn am Arm und zerrte ihn zum Tor, zu den anderen, die sich bereits durch die dahinterliegenden Gänge bahnten. Thorin und Bilbo waren die letzten in der Halle.

Kleineren und größeren Felsstücken ausweichend stolperten sie ziellos in Richtung des Ausgangs. Staub wirbelte auf, setzte sich in ihren Augen und Atemwegen ab und vernebelte ihnen die Sicht.

Der Zwergenkönig vergewisserte sich der Gegenwart des Halblings und blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Drachen. Er blieb wie angewurzelt stehen, als er sah, dass die fallende Säule eine weitere mit sich gerissen hatte. Die Halle begann, einzustürzen.

"Thorin! Wieso..." Er hustete durch den trockenen Staub in seiner Kehle. "... Wieso laufen wir nicht weiter?!"

Der Schwarzhaarige musste nicht antworten, denn wenige Augenblicke nach dieser Frage erkannte Bilbo die Antwort selbst. Die zu Boden stürzenden Säulen fielen in Richtung des Ausgangstores. Gesteinstrümmer und Felsbrocken versperrten ihnen den Weg dorthin. 

Ohne ein weiteres Wort wurde Bilbo von Thorin gegen eine der noch vorhandenen Säulen gedrückt, um einem herunterstürzenden Felsstück auszuweichen.

Sie blieben so stehen, sich gegenseitig schützend umschlingend, zitternd und panisch atmend, während um sie herum die Halle einfiel.

Eine dritte Säule geriet ins Schwanken. Es war die letzte.

Mit einem lauten, ohrenbetäubenden Geräusch schlug sie direkt vor dem Tor auf dem kalten Gesteinsboden auf...

... und verschloss damit den einzigen Weg nach draußen.

Bilbo und Thorin waren vom Rest der Gemeinschaft getrennt. Getrennt durch eine Wand aus Trümmern...

... und eingeschlossen mit einer Feuerschlange.







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Der nächste Teil wird kürzer als der hier, keine Bange.

Ich hab mir gestern total den Stress gemacht mit diesem Kapitel, weil ich diesen Freitags-Rhythmus unbedingt beibehalten wollte, und - nun ja - ihr seht ja, was dabei rausgekommen ist. Als ich gestern einige Ausbesserungen vorgenommen hab, war ich am Ende recht zufrieden mit dem Kapitel, und als ich es vorhin noch einmal probegelesen hab, bin ich regelrecht verzweifelt. In meinem Kopf sind die Kapitel, bevor sie geschrieben werden, immer so viel detailreicher und dramatischer, und actionreicher, aber wenn es dann darum geht, meine Gedanken aufzuschreiben, wirkt alles immer so harmlos und langweilig. Trotzdem macht das Schreiben einfach wahnsinnig Spaß. Sonst würd ichs ja nicht machen. 

An unserer Schule sind die Regelungen so, dass wir A- und B-Gruppen haben, die dann immer alle zwei Tage zur Schule gehen und in den Tagen dazwischen Online-Aufgaben bekommen. Da ich in der B-Gruppe bin, musste ich diese Woche also nur Dienstag und Donnerstag zur Schule, aber die Tage dazwischen waren so verdammt vollgepackt, dass ich Wattpad total vernachlässigen musste, und dann das meiste auf den letzten Drücker fertiggestellt hab. Ich hatte eigentlich gehofft, der Stress würde weniger werden. Warum denken Lehrer eigentlich, man hätte nichts besseres zu tun, als sich mit dreidimensionalen Koordinatensystemen oder Lippenblütengewächsen zu beschäftigen?  

Während Ihr das hier lest, werkele ich wahrscheinlich gerade an einem neuen Cover herum, weil mich das alte irgendwie stört. Kann sein, dass ich es ändere, vielleicht aber auch nicht, das würd ich jetzt von meiner Kreativität abhängig machen.

Also, bis denne!

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