Träumer
Die Winde wehten kalt in dieser Nacht. Das Licht der Sterne wurde von einem dichten Wolkenteppich verschluckt, der sich breit und unnachgiebig über das weite Himmelszelt spannte. Nur ein schwaches, silbernes Glimmen hinter einem tiefen graublauen Schleier verriet, an welcher Stelle sich der Mond befand.
Der Sturm kam aus dem Nichts. Er sollte eine Weile bleiben, wie Balin später gemeint hatte, auch wenn sich Bilbo fragte, woran das der Weißbärtige erkennen wollte. Im Nachhinein hatte er sich gefragt, ob er wirklich das Gewitter oder etwas Anderes gemeint hatte. Ob er den anderen "Sturm" meinte; die Unruhen, die von Thal rührten. Er hatte es nie herausgefunden.
Er hatte Thorin kaum wiedererkannt, als sie zurückgekommen waren. Sein Gesicht war bleich wie Wachs, seine Augen wirkten gläsern, seine Stimme zerbrechlich und grau. Er hatte nicht viel gesprochen, als Bard und Thranduil ihm erzählten, was sie zuvor auch Bilbo gesagt hatten - dass die Elben vorerst in Thal bleiben würden, dass sie hofften, es würde dem Schwarzhaarigen bald besser gehen, und sie erinnerten ihn mit Nachdruck an das, was er sich im vergangenen Winter geleistet hatte, und dass es nie, niemals wieder so weit kommen dürfte.
"Vielleicht ist unser Handeln naiv. Vielleicht ist es Zeit, Euch mit anderen Mitteln als dem Gespräch zum Lernen zu zwingen. Denn Ihr werdet lernen müssen, wenn wir einer Zukunft in Frieden entgegenblicken wollen, einer Zukunft mit helleren Tagen, wie Ihr so schön sagtet. Nach den Worten Eures... Meisterdiebes habt Ihr Eure Lektion bereits gelernt, doch ich mache mir lieber selbst ein Bild." Das war der genaue Wortlaut Thranduils gewesen, meinte sich Bilbo zu erinnern. Und dann war da noch etwas.
"Denn glaubt mir, wenn Ihr Eure Hand gegen Thal erhebt, so wird die meine Euch davon abhalten. Wenn Eure Hand nach dem Schwert greift, so wird die meine es auch tun." Zwischen diesem und dem nächsten Satz hatte Thranduil lange gezögert. "Doch wenn Ihr meint, Ihr stündet zu nah am Rand einer Schlucht, werden wir die Hand sein, die Euch hält. Wir sind nicht gekommen, um Euch stürzen zu sehen, wir sind gekommen, um Euch vor dem Fall zu bewahren. Solltet Ihr in irgendeiner Weise Hilfe benötigen - Ihr werdet sie bei uns finden."
Bilbo war nicht der einzige in der Halle gewesen, den diese Worte überrascht hatten. Es lag sowohl an der Bedeutung dieser Worte als auch an der Art und Weise, wie sie über seine Lippen gekommen waren, dass Thorin eine Weile gebraucht hatte, um eine Antwort zu ersinnen. Als sich die Blicke der drei Könige kreuzten, schien irgendetwas anders als zuvor.
"Ich danke Euch." Es hatte gewirkt, als hätte Thorin auf diesen Satz noch etwas sagen wollen, doch irgendetwas hinderte ihn daran und er schloss die bleichen Lippen. Nach einer seltsamen, wortleeren Pause öffnete er sie jedoch und sprach seinen Dank und den seiner Gefolgschaft mit ernster, aber schwacher und schwerer Stimme aus, und während er sprach, bebten seine Worte und seine Hände zitterten.
Thranduil und Bard waren nicht mehr lang geblieben, denn in Thal gab es Ohren, die einer Auskunft bedurften und Fässer, die geöffnet werden mussten, denn der Elbenkönig war nach dem erhellenden Gespräch guter Laune und verreiste nie ohne Wein.
Der Abschied war wärmer als der Willkommensgruß, und war binnen weniger Minuten vorüber. In der Halle wurde es ruhig, als sie den Berg verlassen und den Rückweg angetreten hatten. Bilbo hatte ihnen mit einem flauen Gefühl im Magen hinterhergesehen.
Die Zwerge hatten kein Wort gesagt, ehe die Besucher die Halle verlassen hatten. Und nun stand Bilbo wieder hier, an dem Platz, den er zuvor auf Thranduils Bitte hin hatte verlassen müssen. Er spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter, fuhr herum und sah in das Gesicht von Kili.
"Gut gemacht." Der Zwerg grinste, und es war, als hätte Bilbo erst bei diesem Anblick erkannt, wie erleichtert er war, dieses Gespräch hinter sich gebracht zu haben und vor allem, dass er ein Recht darauf hatte, erleichtert zu sein. Seine Mundwinkel zuckten.
"Wie hast du das nur geschafft?" Fili kam die Empore herunter und sein Lächeln war fast genauso breit wie das seines Bruders. "Was hast du ihnen gesagt, dass sie ihre Meinung so geändert haben?"
"Nun ja, ..." Bilbo stockte. Er wusste nicht, dass Kili das Gespräch belauscht hatte, und dass er seinem Bruder früher oder später mit Sicherheit über das ein oder andere Wort, das gefallen war, informieren würde. Er sammelte sich kurz und antwortete in einem einfachen Satz. "Nichts, was ihr nicht schon wüsstet." Und das war auch die Wahrheit.
Fili wirkte nicht so, als hätte ihn diese Antwort zufrieden gestellt, doch er verschonte den Halbling mit weiteren Fragen, denn der Tag war ein langer gewesen und Bilbo sah so müde aus, dass er meinte, er würde jeden Moment auf den kalten Stein und in den Schlaf sinken. Er nickte. "Was immer es war, es hat seine Wirkung getan."
Aber hatte es das wirklich? Bilbo wusste, er hätte nicht mehr tun können, als er getan hatte, und er hatte ein gutes Recht, zufrieden mit sich zu sein. Doch aus irgendeinem Grund war er es nicht. Da war noch immer irgendetwas, dass hinter seiner Brust lauerte und sich mit scharfen Krallen versuchte hindurch zu graben. Irgendein Gefühl, dass er nicht gehen lassen konnte. Sein Blick glitt zum Thron und er wusste, dass es die Sorge um seinen Freund war. Die Frage, die ihn seit Tagen und Nächten stumm und unnachgiebig quälte, ungefragt und ignoriert. War Thorin wirklich wieder gesund? Die vergangene Schlacht im Winter hatte er mit einer Blitzheilung überstanden, aber keiner Heilung, die für immer währen sollte, denn mit dem nahenden Sommer hatte sich auch sein Leiden genähert. Ein zweites Mal, ohne, dass irgendjemand damit gerechnet hatte. Bilbo erinnerte sich an das Gespräch vor seiner Abreise, und an das, was er in den Augen seines Freundes gesehen hatte, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dieses grausame Funkeln war damals noch schwach gewesen, so schwach wie ein Schatten des eigentlichen Übels. Er hätte es vielleicht ansprechen sollen, doch er war naiv gewesen. Nun, er fühlte sich noch immer naiv, und das war der Punkt.
Ein einziger Ausrutscher von Thorin, und Thal würde sich nicht länger mit einem simplen Gespräch abspeisen lassen. Ein einziger Ausrutscher von Thorin, und Bilbo würde sein Wort halten und diesen Berg verlassen. Es lag einzig und allein bei ihm. Der Weg der Heilung war ein langer, langer Weg gewesen, und er wusste, dass er noch nicht zu Ende war. Aber Thorin hatte schon einen wichtigen Punkt erreicht; den Punkt der Einsicht, den Punkt der Reue. Und irgendwie schien es, als wäre das Ziel bereits in Sicht. Wie die Spitze eines einsamen, grauen Berges an einem weiten, fernen Horizont.
Als Bilbo es wagte, seine Augen auf das Gesicht des Schwarzhaarigen zu richten, begegneten sie einem Lächeln. Es wirkte nicht glücklich und nicht hoffnungsvoll, sondern schwach und blass wie das eines Schlafenden, der sich in dem Anblick einer Traumgestalt verlor. Bilbo wusste, dass Thorin dieses Lächeln erzwang, und daher war er sich nicht sicher, ob es ihm gefiel. Er erwiderte es, doch während er es tat, fühlte er sich wie ein Lügner.
Es war das letzte, was Thorin sah, bevor er die Augen schloss und auf dem Thron in sich sank wie eine Marionette, deren Fäden gerissen waren. Bilbo erschrak und eilte zu ihm auf die Empore, so schnell, dass er vor den anderen bei ihm war. Seine Hände zitterten vor Nervosität, als er nach denen des Schwarzhaarigen tastete. Sie waren kalt wie Schnee.
"Was ist mit ihm?" Verzweifelt sah er in die Runde, ohne die kalten Hände loszulassen. "Was ist mit ihm?"
Es waren Dwalin und Fili, die ihn an den Armen packten und hochhievten und Bilbo war dadurch gezwungen, seine Hände sinken zu lassen. Der Schwarzhaarige regte sich nicht.
"Was hat er?" fragte der kleine Hobbit bestürzt und es war Kili, der ihm eine Antwort gab.
"Er wäre vorhin fast zusammengebrochen. Hat mir Fili erzählt. Seine Narben." Es waren keine weiteren Ausführungen nötig, und sie folgten den beiden, die den Zwergenkönig trugen. Kilis Stimme klang nicht so, als wäre er sonderlich überrascht über die Ohnmacht seines Onkels, und Dwalin und Fili hatten so schnell und ohne zu zögern reagiert, als hätten sie schon lange damit gerechnet und schlimmer noch; als wären sie es gewöhnt. Der Halbling schluckte, als er sich dessen bewusst wurde.
Die Spitzen von Thorins Stiefel schleiften über den Boden, während sie gingen. Sein Gesicht war nach unten gerichtet, die Haare verdeckten es. Bilbo wurde schwummrig, als er ihn so sah, und es fiel ihm schwer zu glauben, dass diese bleichen, schlaff nach unten hängenden Hände dieselben waren, die ihn zuvor noch auf so ungeahnte Weise berührt hatten.
Sie eilten die Gänge entlang, so schnell sie konnten, doch ihr Weg ging nur schleppend voran, und es fühlte sich an, als hätte er sich in die Länge gedehnt. Bilbo erinnerte sich im Nachhinein nur vage an das, was danach geschehen war, denn es ging recht schnell.
Balin war ihnen irgendwann entgegengekommen, und mit ihm die anderen, und erst da war Bilbo aufgefallen, dass er den Weißbärtigen nach seinem Gespräch nicht wie zuvor am Thron angetroffen hatte. Es musste ihm wohl gelungen sein, noch während der Anwesenheit der Elben und Menschen die anderen Zwerge zu versammeln.
Sie halfen den Trägern so gut es ging und ihr Weg ging ein wenig schneller voran. Von draußen erklang ein lautes Donnern. Der Sturm wurde stärker und die Abstände zwischen den donnernden Lauten kleiner, und Bilbos vorige Erleichterung war zur Gänze verschwunden, als er seinen Freund so sah und die Klänge vernahm, die ihn an die Nacht in den vergessenen Hallen erinnerten. Die Nacht, von der er einst geglaubt hatte, es würde seine letzte sein.
Als der letzte schier endlose Gang endete und sie die Tür zu seinem Schlafgemach geöffnet hatten, hätten sowohl Minuten als auch Stunden vergangen sein können, Bilbo konnte es nicht sagen. Er hatte sämtliches Zeitgefühl verloren.
Was danach geschah, war ihm und den Zwergen bereits bekannt. Sie untersuchten seine Wunden, zu ihrer aller Erleichterung bluteten sie nicht; die Nähte hatten gehalten. Mit Oins Salbe versorgt wurden sie wieder verbunden, und dieses Mal ging es deutlich schneller, da mehr als vier Hände dabei halfen. Ihre Erleichterung sank jedoch in altbekannte Tiefen, als sie versuchten, ihm Wasser einzuflößen, denn es gelang ihnen nicht. Thorins Körper schien sich mit allen Mitteln dagegen zu wehren, er gurgelte und würgte an jedem Schluck, und als sein Kissen bereits mit drei Bechern Wasser getränkt war, gaben sie auf, obwohl sie wussten, dass Thorin trinken musste.
Irgendwann hatten Fili und Kili darauf bestanden, mit ihrem Onkel allein gelassen zu werden, da der Raum zu voll und die Stunde zu spät war. "Legt euch hin, sucht ein wenig Ruhe. Die Sache ist nicht so ernst, dass sie alle von uns um den Schlaf bringen muss."
Einige Minuten und einige Wortwechsel später hatten die Zwerge das schließlich eingesehen, und begaben sich zur Tür. Als Bilbo Anstalten machte ihnen zu folgen, wurde er jedoch davon abgehalten.
"Wo willst du denn hin?"
Mit dem rechten Fuß bereits auf der Türschwelle drehte er sich um und sah in das fragende Gesicht von Kili. Er räusperte sich. "Ihr sagtet doch gerade, dass wir-"
"Nichts da. Wenn Thorin aufwacht, wen meinst du, will er dann sehen? Uns?" Er lächelte.
"Wir würden bleiben, bis er aufwacht, wenn du nichts dagegen hast. Den Rest würden wir dann dir überlassen", ergänzte Fili, und obwohl sein Gesicht in den Schatten lag, wusste Bilbo, dass auch er ein Lächeln auf den Lippen trug. Er erwiderte es sachte und nickte.
"Ich bleibe sehr gerne."
Ein Blitz erhellte den Raum und der Donner folgte. Der Wind riss an den Fenstern. Dicke, schwere Tropfen peitschten gegen das Glas.
Der kleine Hobbit sank auf dem Stuhl nieder, der neben dem Tisch stand. Sie sprachen kaum ein Wort mehr, lauschten mit bangen und hoffenden Gedanken Thorins schwachen, scharfen Atemzügen.
Es würde eine lange Nacht werden.
~~~
Die Dunkelheit war weiter vorangeschritten und ihre Hoffnung, Thorin würde irgendein Zeichen von sich geben, war fast gänzlich erloschen. Wäre die Lehne des Stuhls nicht so hart und unbequem gewesen, wäre Bilbo längst eingeschlafen, er spürte es in seinen tauben Gliedern. Jeder Wimpernschlag war so schwer und schlaftrunken, dass es ihm schwer fiel, die Augen offen zu halten, in der Hoffnung, Thorins Atemzüge würden sich beruhigen, und in der Erwartung, sie würden es nicht tun.
Irgendwann sah er, wie Kili seinen Bruder, dessen Kopf benommen nach unten gesunken war, mit dem Ellbogen in die Seite stieß, und er wusste, was es bedeutete. Und mit einem Mal war er hellwach.
Kili legte den Kopf schief, grinste und blickte in die halb geöffneten Augen seines Onkels. "Na, wieder unter den Lebenden?"
"Ich weiß nicht recht..." Der Schwarzhaarige schloss die Augen wieder und ließ den Kopf in das Kissen sinken, atmete schwerfällig ein und wieder aus. Auf seinen schmalen, geöffneten Lippen erschien der Anflug eines Lächelns, doch es blieb schwach und blass, als hätte er es sich auf das Gesicht gezwungen.
Er schluckte hörbar und das Lächeln verschwand, stattdessen lag ein Ausdruck des Schmerzes in seinen Zügen, als würde seine Kehle brennen. "Wo ist Bilbo?" fragte er mit kratzender Stimme, die Augen noch immer geschlossen.
"Er ist hier", antwortete eine ihm nur allzu gut bekannte Stimme, und als er sie vernahm, zuckten seine Mundwinkel. Er blinzelte schwach. Aus den tanzenden Schatten des schummrigen Lichtes löste sich die altvertraute Silhouette des Halblings. Thorin war erleichtert, als er auf seinen Lippen ein Lächeln erkannte.
"Ja, er ist hier, und seine Anwesenheit dürfte die unsere überflüssig machen. Komm, Kili." Fili nickte seinem Bruder zu und die beiden gingen seltsam zügigen Schrittes in Richtung Tür.
"Eine angenehme Nacht euch beiden." Es war alles, was sie sagten, bevor sie die Tür ins Schloss fallen ließen.
Thorin war zu schwach und zu müde, um sich darüber zu wundern, weshalb seine Neffen es so eilig gehabt hatten, das Zimmer zu verlassen. Er fühlte sich seltsam, wusste nicht, wie spät es war, und im Grunde war es ihm egal.
Ein Donnern war zu hören. Bilbo sank auf den Hocker neben Thorins Bett nieder, schluckte und sah zu dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, denn ein Windstoß brachte seine lockeren Scharniere zum Klappern.
Es vergingen viele Minuten des Schweigens, doch sie verflogen, als wären es Sekunden.
Thorin betrachtete den Halbling aus seinem Augenwinkel, sah, wie Bilbo mit den Ärmeln seines Mantels spielte, und auf seine Lippen biss. Er wusste, was es bedeutete und schloss die Augen wieder mit zittrigen Lidern, in der Erwartung, gleich eine Frage gestellt zu bekommen. Er musste nicht lange warten.
"Thorin... das vorhin. Was genau war das? Ich... ich glaube nämlich nicht, dass ich es verstehe..."
Der Schwarzhaarige musste gestehen, dass ihn diese Frage überraschte, und antwortete mit monotoner Stimme, in einem einzigen Atemzug. "Nun, ich kann es verstehen. Zugegeben, der Besuch der beiden kam recht unerwartet, aber vielleicht hätte ich in ihrer Situation nicht anders gehan-"
Bilbo unterbrach ihn. "Das meinte ich nicht. Ich meinte das davor."
Oh.
Matt ließ Thorin seinen glühenden Kopf zur Seite fallen und öffnete seine glasigen Augen, um in die des Hobbits zu sehen. Sein Herz brannte, als er sah, wie nervös Bilbo auf seinem Stuhl saß, als würde er sich vor seiner Antwort fürchten. Der Schwarzhaarige spürte einen Stich in seiner Brust, doch er konnte nicht sagen, ob er von der Narbe oder von etwas Anderem, etwas Tieferem rührte. Es war die Art in Bilbos Blick, die Thorin zögern und verzweifeln ließ. "Was denkst du denn, was es war?"
Seine Stimme war nur ein Flüstern. Es klang so bebend wie das Flüstern eines Fieberkranken, der in einen unruhigen und traumreichen Schlaf gefallen war, in seinem Kopf durch Welten wanderte, denen Licht und Wärme fern, und kalte, schwarze Nächte eigen waren, voll von Schatten und voll von Bosheit. Es war nicht nur seine Stimme, die Bilbo so denken ließ. Es war seine blasse Stirn, seine zitternden Lider, sein schwacher, leerer Blick.
Bevor er auch nur über eine Antwort nachsinnen konnte, verzog Thorin das Gesicht, wandte es von ihm ab und stöhnte heiser und krächzend. Bilbo sprang auf, alarmiert durch den hohlen, schmerzerfüllten Klang, und griff nach dem Handgelenk des Schwarzhaarigen. Er spürte, wie sich der Arm unter seiner Handfläche verkrampfte. Seine Hände wurden zu Fäusten, sein Körper wurde steif und zitterte. Ein Blitz erhellte das Zimmer. Als das Donnern folgte, war der Krampf vorbei, Thorins Körper entspannte sich und fiel so matt und schlaff wie zuvor in sich zusammen, er atmete in schnellen, panischen, scharfen Atemzügen.
Bilbo konnte nichts für ihn tun, und das wusste er. Er griff nach einem Becher mit Wasser, der auf dem Tisch neben ihm stand, legte Thorin seine linke Hand unter den Kopf, um ihn anzuheben, und nutzte die rechte, um ihm das kühle Wasser einzuflößen. Als er den Rand des Bechers an seine blassen, bebenden Lippen setzte, trank der Schwarzhaarige, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Er leerte den halben Becher in vielen kleinen, aber schnellen Zügen, und sank dann wieder in sein Kissen, atmete so schwer, als hätte er gerade einen Sprint von großer Länge hinter sich gelegt.
Der kleine Hobbit sank wieder zurück auf seinen Stuhl und stellte den halb vollen Becher zurück auf den Tisch. Er blieb eine Weile ruhig, lauschte dem Rumoren des Sturms und des Regens, den rasselnden, schmerzerfüllten Atemzügen von Thorin, wartete, bis sie langsamer und gleichmäßiger wurden. Es war ein schreckliches Gefühl, zu wissen, dass er nichts gegen die Schmerzen unternehmen konnte, und es quälte ihn.
"Was hast du ihnen erzählt?" Er wusste nicht, ob Thorin gerade wirklich sprach, oder ob er nur im Delirium des verklingenden Schmerzes und der wachsenden Müdigkeit und Schwäche seiner Glieder redete, denn seine Stimme klang wie die Stimme eines Träumenden.
Bilbo sah, dass seine Lider geschlossen waren, doch seine Augen regten sich, als läge er in einem Albtraum. Er beugte sich ein Stück näher zu ihm, denn der Regen wurde stärker und der Wind begann zu singen, lauter, und höher, als rührte sein Lied von hundert wispernden Stimmen. "Das, was gesagt werden musste. Es war nicht das, was sie erwartet hatten, jedenfalls wirkten ihre Gesichter überrascht."
Er beobachtete, wie Thorins Mundwinkel zuckten, doch seine Augen blieben geschlossen, als wäre sein Körper bereits in den Schlaf gefallen, als würde nur noch sein Geist zwischen der Realität und der Welt der Träume stehen. "Das hätte ich gerne gesehen." Er ließ den Mund offen, als er diesen Satz gehaucht hatte, atmete in schwachen, blassen Zügen.
"Das glaube ich dir aufs Wort", flüsterte Bilbo und betrachtete ihn weiter von der Seite, sah wie sich der Brustkorb seines Freundes hob und senkte, wie seine Wimpern zuckten, sobald ein Blitz den Raum erhellte und wie sein Atmen stockte, sobald der Donner folgte. "Du solltest schlafen, Thorin", seufzte er tonlos.
Der Schwarzhaarige regte sich nicht. Als Bilbo dachte, er wäre bereits eingeschlafen, ließ er matt seinen Kopf zur Seite fallen und blinzelte. "Bleibst du noch ein wenig?"
Bilbo wurde ein wenig wärmer, als er das hörte, und er musste lächeln. "Wenn das dein Wunsch ist."
Thorins Lider senkten sich, als wären sie ihm schwer geworden. Er gab dem Drang nach, sie zu schließen, und als er es schließlich tat, rollte eine Träne seine Wange hinab, doch er weinte nicht. Er hatte seine Lippen noch immer geöffnet, um besser atmen zu können, und antwortete in einem langgezogenen Seufzen. "Einer von vielen... Doch Wünsche gehen so selten in Erfüllung."
"Nun, diesen kann ich dir erfüllen."
Vorsichtig, ganz vorsichtig ließ er seine Hand über das Laken streichen, bis seine Fingerspitzen auf die schlaffe Hand seines Freundes trafen. Sie war kalt. Blass und kalt. Die Finger waren noch leicht gekrümmt, als lägen sie in stiller Erinnerung an die schwallartigen Schmerzen, die ihn dazu gezwungen hatten, sie zur Faust zu ballen. Sachte umschloss Bilbo die kalte, schwache Hand mit der seinen.
Mit einem Mal donnerte es, und der Halbling spürte, wie sich die Hand unter der seinen regte, als hätte sich der Schwarzhaarige erschrocken. Bilbo lächelte blass und hielt sie ein wenig fester, er hatte das Gefühl, Thorin würde es brauchen. Ein Blitz erhellte das Zimmer. Der Regen wurde stärker. Die Kerzen flackerten.
Als ein weiteres Donnern folgte, zog Thorin scharf die Luft durch die Zähne ein, seine Brauen verzogen sich vor Schmerz, sein Rücken krümmte sich. Er umklammerte Bilbos Hand, sodass es ihn schmerzte. Den Lippen des Schwarzhaarigen entfuhr ein leises, tiefes Wimmern, nicht lauter als das Heulen des Windes, der nun strenger und reißender wurde. Es verklang in einem tonlosen Stöhnen, als Bilbo ihm sanft seine linke Hand auf die feuchte Stirn legte und der Schmerz verebbte.
"Thorin... deine Stirn ist heiß."
Er öffnete seine Lider um einen schmalen Spalt und sah in das besorgte Gesicht seines Meisterdiebes. Seine Züge wurden nur schwach von den wenigen Kerzen und dem fahlen Mondlicht erhellt, doch er kannte sie so gut, dass er kein Licht brauchte, um sein Gesicht vor Augen zu haben. Müde ließ er den Kopf wieder zurückfallen und schloss die Lider. Er öffnete die Lippen, um zu atmen. Seine Mundwinkel zuckten. "Ich brauche Schlaf, das ist alles."
Drei Sekunden später spürte er etwas Kühles auf seiner Stirn, und er musste seufzen, denn es fühlte sich gut an, so gut. Es war eines der Tücher, die in der Wasserschale neben seinem Bett lagen. Bilbo lächelte, als er sah, wie Thorin es genoss.
Die Hand in der seinen wurde langsam wärmer. Langsam, der Unterschied war kaum erheblich. Aber er war da.
Noch ein Blitz. Thorins Wimpern zuckten kurz. Bilbo riss sich von seinem Gesicht los und sah auf das Fenster mit den quietschenden Scharnieren. An dem dicken Glas sah er die Striemen des peitschenden Regens, abertausende kleine Tropfen, die der Mond zum Glitzern brachte. In seinem Licht sahen sie aus, als wären sie aus etwas anderem als Wasser gemacht. Aus etwas Beständigerem, aus etwas... Lebendigem.
"Woran denkst du gerade?"
Bilbo drehte den Kopf und sah in die offenen Augen seines Freundes. Sein rechtes Auge schimmerte nun nicht weiß, sondern blau, doch es war nicht dasselbe Blau wie das des anderen. Es war das Blau der Nacht.
Er musste lächeln, als er ihn so sah. "Oh, ich weiß nicht. Ich habe nicht nachgedacht, eher... geträumt."
Thorins Stimme war nur ein Kratzen, nur ein Lufthauch, doch sie klang so sanft wie der Frühling. "Mit offenen Augen?"
Bilbo warf einen letzten Blick zum Fenster, bevor er sich zu ihm herunterbeugte. Sein Kinn ruhte auf seinem linken Arm, als er den Kopf schieflegte, um ihm besser in die Augen sehen zu können. "Man muss sie nicht unbedingt schließen, um träumen zu können."
Thorin sah ihm ins Gesicht, aber nicht in die Augen. Der kleine Hobbit spürte und sah den Blick des Schwarzhaarigen über seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen gleiten, und aus irgendeinem Grund gefiel es ihm. Als ihm der Schwarzhaarige schließlich wieder in die Augen sah, wurde sein Lächeln ein wenig breiter, ein wenig sanfter, ein wenig strahlender. "Du hast Recht", hauchte er, ohne seinen Blick von ihm abzuwenden.
Es war das letzte, was Thorin sagte, bevor er in einen tiefen und traumreichen Schlaf fiel.
Er sollte kürzer werden als sie dachten.
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Ich weiß. Noch immer kein Kuss.
I'm sorry.
Dass dieses Kapitel so verdammt spät kommt, tut mir ebenfalls leid, und ich bin mal gespannt, wie ich das nächste schaffe und das danach. *verzweifeltes Lachen*
Ich kann jetzt nicht mehr schreiben, weil in der Küche ein Teller mit Zimtschnecken steht, den ich eliminieren muss.
Schöne Herbstferien euch!🍁
Man sieht sich.
Oder so.
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