Schwere Schritte
Mit weit geöffneten Augen lag Bilbo in seinem Bett.
Jegliche Müdigkeit, die ihn vor wenigen Stunden noch erfüllt hatte, schien wie ausgelöscht zu sein. Und das lag an einer Person.
Er fröstelte und blickte zu seiner Rechten. Das Kaminfeuer war erloschen, nur wenige glühende Scheite glommen in der lodernden Glut. Der Mond warf seinen silberweißen Schein durch das kleine Fenster auf den steinernen Boden und vermischte sich mit dem orange-roten Glühen des Kamins.
Nachdenklich beobachtete er das Lichtspiel und ließ die Erlebnisse des vergangenen Tages in seinem Kopf Revue passieren. Die Ankunft am Einsamen Berg. Kili, der ihm entgegengekommen war. Die versteckte Tür, die zu der kleinen Halle führte, in der sie schließlich auf Fili getroffen waren. Thorin, der sie des Verrats beschuldigt hatte. Thorin, der sich um ihn gekümmert hatte. Das Wiedersehen mit den anderen Zwergen.
Ja, das Wiedersehen mit den anderen... das einzige Erlebnis an diesem Tag, welches ihm in positiver Erinnerung geblieben war. Die erstaunten Blicke, die erfreuten Rufe, die vermissten Unterhaltungen... Eigentlich hatte er mit Balin bezüglich des Briefes sprechen wollen, doch unter vier Augen war ein Gespräch im Beisein der anderen nicht möglich gewesen, weshalb er beschlossen hatte, es auf später zu verschieben, wenn ein geeigneter Moment gekommen war. Falls überhaupt jemals ein geeigneter Moment kommen sollte...
Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn, als ihm bewusst wurde, dass dies alles an einem einzigen Tag geschehen war.
Er seufzte und zog sich die Decke zurecht. Für eine Nacht im Spätfrühling, der bald in den Sommer übertreten sollte, war es ungewöhnlich kalt. Langsam atmete er aus und meinte sogar, seinen eigenen Atem sehen zu können.
Gedankenverloren richtete er seinen Blick wieder auf das silberne Mondlicht. Die Worte, die Kili ihm vor dem steinernen Haupttor des Berges gesagt hatte, hatten sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt.
In den Nächten wurden wir davon wach, wie er mit schweren Schritten durch die Schatzhallen lief und rief, er würde Rache nehmen, Mahal allein weiß, an wem...
Wie von allein richtete er sich auf. Vielleicht streifte sein Freund genau in diesem Moment wieder unruhig durch die Hallen seiner Väter, wie ein Geist, dessen verlorene Seele keine Ruhe findet. Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Um seine Versuche, wenigstens etwas Schlaf zu finden, war es nun endgültig geschehen.
Langsam streifte er sich die Decke ab und bereute es gleich wieder, denn nun kroch die Kälte wie ein sanfter Herbstregen durch seine dünne Kleidung und bereitete ihm Gänsehaut. Mit zitternden Händen stützte er sich auf und setzte seine nackten Füße auf dem kleinen Vorleger seines Bettes ab.
Um sich zu wärmen, verschränkte er krampfhaft die Arme und stand auf, um sich seinen Mantel zu holen, den er über die Stuhllehne gelegt hatte. Als seine Füße auf den steinernen Boden auftrafen, entfuhr ihm ein Laut des Erschreckens, denn er war so kalt, dass ihm das Blut in den Adern auf schmerzhafte Art und Weise zu gefrieren schien.
So schnell es auf Zehenspitzen ging, lief er zu dem Stuhl und streifte sich seinen Mantel über. Schon besser.
Auf leisen Sohlen schlich er zum Fenster. Das Lichtspiel auf dem grauen Boden war verschwunden, denn nun war der Mond von einer dichten Wolkenschicht verdeckt. Er musste sich mit den Füßen auf die kleine Bank an der Wand stellen, um das gesamte Tal überblicken zu können. Sein Zimmer war eines mit der schönsten Aussicht, und er wusste noch, wie fasziniert er an seinem ersten Tag in diesem Raum war. Langsam schloss er die Augen und versuchte, sich an diesen Tag zu erinnern.
"Bilbo, dürfte ich dich wohl kurz unter vier Augen sprechen?"
Der kleine Hobbit drehte sich um und blickte in die blauen Augen seines besten Freundes. Er lächelte zaghaft. "Selbstverständlich. Worum geht es?"
"Um das hier." Der Dunkelhaarige erwiderte verspielt das Lächeln und hielt ihm einen kunstvoll geschwungenen Schlüssel vor die Augen.
"Ein Schlüssel." bemerkte Bilbo.
"Sehr richtig erkannt. Doch es geht weniger um den Schlüssel an sich, sondern eher darum, für welche Tür er bestimmt ist."
"Gehe ich recht in der Annahme, dass du es mir gleich verraten wirst?"
Der Zwerg lachte. "Du wirst es sehen. Komm."
Der kleine Hobbit stand von seinem Stuhl auf und folgte Thorin, der ihm schon einige Schritte voraus war. Er musste sich beeilen, um ihn zu erreichen. Nach wenigen Sekunden kam sein Freund plötzlich vor einer Tür, die etwas abseits der anderen Schlafgemächer lag, zum Stehen. Das kam so unerwartet, dass Bilbo fast in ihn hineingelaufen wäre.
"Wir sind da." raunte der Ältere mit tiefer, sanfter Stimme.
Der kleine Hobbit ließ seinen Blick über die Tür streifen. Sie war aus dunklem, schwerem, glatt geschliffenen Holz mit wunderschöner Maserung, ihr Rahmen wies kunstvolle Schnitzereien auf und sie war mit geschwungenen Metallverzierungen versehen, die an die Äste eines Baumes erinnerten.
"Die ist mir zuvor noch gar nicht aufgefallen." bemerkte Bilbo. Der Zwerg lächelte. Langsam hob er die Hand und drehte den Schlüssel im Schloss. Zweimal, dann schwang die schwere Tür auf und gab den Blick auf den Raum frei, der dahinter lag.
Thorin wies hinein. "Nach Euch, Meister Beutlin."
Bilbo lachte und imitierte eine leichte Verbeugung. "Zu gütig, Meister Eichenschild." Dann trat er ein.
Das Zimmer war recht groß im Vergleich zu den anderen, in der Mitte stand ein bequem aussehendes Himmelbett, welches dieselben Schnitzmuster wie die der Tür aufwies und in einer Ecke brannte ein offenes Kaminfeuer. Die Wände wurden von Wandteppichen geziert, die kunstvoll gestickte Szenerien und Muster zeigten.
"Hier ist es wunderschön." flüsterte der kleine Hobbit, während er langsam durch das Zimmer schritt und sich die Wandteppiche besah, die durch das spärliche Licht einzelner Kerzenständer stimmungsvoll beleuchtet wurden. "Es erinnert mich ein bisschen an... mein Zuhause. Was ist das für ein Raum?"
Der Zwerg, der bis zu diesem Zeitpunkt im Türrahmen gestanden und den kleinen Hobbit lächelnd beobachtet hatte, schritt zu ihm und kam schließlich am Fenster zum Stehen. Gemeinsam blickten sie hinaus in das grünende Tal, welches unter dem strahlend blauen Himmel von den schroffen, massiven Felsen des Einsamen Berges gesäumt wurde.
"Ein schöner Anblick, nicht wahr?" seufzte Thorin. "Ich habe früher sehr oft an diesem Fenster gestanden und in die Ferne gesehen. Ich konnte mir damals nichts schöneres vorstellen."
Bilbo nickte verträumt. "Verständlich. Es ist, als würde man die ganze Welt sehen können, so weit reicht der Horizont. Als würde man über allem stehen."
Der Zwerg sah ihn von der Seite an und setzte wieder ein warmes Lächeln auf. "Genau das habe ich damals auch gedacht."
Der kleine Hobbit nickte erneut, bevor er sich von dem beeindruckenden Panorama losriss und seinem Gegenüber in die Augen sah.
"Wieso wolltest du mir diesen Raum zeigen?" fragte er schließlich.
Thorin seufzte. "Ich habe es dir nicht immer leicht gemacht, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Doch ich habe erkannt, dass all meine Skrupel unbegründet waren. Leider recht spät, wie es scheint. Und dennoch bist du geblieben. Du hattest auf unserer Reise mehrmals die Gelegenheit, umzukehren, doch du gingst weiter, du bliebst aus Überzeugung an unsere Mission und deine Aufgabe. Und jene, die aus Überzeugung kämpfen, sind stets die treusten Begleiter. Du bist für uns zu einem Meisterdieb geworden, obwohl du nie einer warst. Du hast für uns Hindernisse überwunden, an denen manch einer verzweifelt wäre. Und selbst bei jedem noch so großen Hindernis hast du nie aufgehört, der zu sein, der du wirklich bist. Du trägst die Bezeichnung eines Meisterdiebes und wirst sie noch über den Vertrag hinaus tragen - die Bezeichnung eines Meisterdiebes im Dienste des Königs unter dem Berge. Und ebendiese Bezeichnung sollte dir das Vorrecht auf Räumlichkeiten verleihen, die dieser Stellung angemessen sind."
Es dauerte einige Sekunden, bis der kleine Hobbit die Worte verarbeitet hatte und verstand. "W-willst du damit sagen, dass... dass..."
"Ab heute gehört dieses Zimmer dir." Er öffnete seine rechte Hand und reichte ihm den kunstvoll gefertigten Schlüssel aus dunklem Metall.
Bilbo geriet ins Stottern. "D-das kann ich nicht annehmen."
Thorin lachte. "Oh, ich glaube schon, ich lasse dir nämlich keine Wahl. Sieh es als Zeichen meiner Dankbarkeit. Als Zeichen unserer Freundschaft." Ohne, dass Bilbo etwas tun konnte, griff er nach dessen Hand, legte den Schlüssel sachte darauf und schloss sie mit seinen Fingern.
Langsam öffnete er wieder die Augen und sah hinaus ins Tal.
Der Anblick war ihm vertraut und gleichzeitig so fremd, dass sich seine Gesichtszüge wie von selbst verfinsterten. Nach einigen Sekunden spürte er etwas Warmes auf seiner Wange und erkannte, dass diese Wärme von Tränen herrührte. Von Tränen, die er in den letzten Tagen schon so oft vergossen hatte, dass es ihm nun vorkam wie eine reine Selbstverständlichkeit. Und das machte ihn umso trauriger.
Wie sehr er sich die alten Zeiten zurückwünschte... Lieber würde er sich erneut all den Gefahren ihrer Reise stellen als hier hilflos zusehen zu müssen, wie derjenige, den er zu lieben gelernt hatte, an einer scheinbar unbesiegbaren Krankheit verging.
Die ungewöhnlich winterliche Kälte brachte einen leichten Windstoß zu ihm hinauf, fuhr ihm sanft durch die Locken und löschte mit einem zischenden, knisternden Geräusch die letzte glühende Glut des Kamins und verwandelte sie in tote, stumme Asche.
Ein letztes traurig verträumtes Seufzen, ein letzter sehnsüchtiger Blick, dann wandte er sich vom Fenster ab, schlich auf Zehenspitzen zurück zum Bett und setzte sich auf den Rand der Matratze. Zitternd atmete er aus und beobachtete dabei seinen blass vom Mondlicht beleuchteten Atem, der durch die Kälte kleine Wölkchen bildete, welche sich nach wenigen Sekunden wieder in Luft auflösten.
Er rieb sich die Arme und kuschelte sich enger in seinen Mantel, der dank des erloschenen Feuers nun die einzige Chance auf Wärme in diesem Raum war. Als er bemerkte, dass dies nicht viel brachte, erhob er sich wieder und ging unruhig vor seinem Bett auf und ab.
Der bloße Gedanke an seinen Freund bereitete ihm seelische Schmerzen. Wie sich herausstellen würde, sollten diese die gesamte Nacht nicht verschwinden. Und es sollte eine lange Nacht werden.
Wie ein hungriges Raubtier ging er weiter auf und ab. Doch Hunger war es nicht, was er verspürte. Es war ein nagenderes, weitaus quälenderes Gefühl.
Er stöhnte kurz auf, denn seine Finger schmerzten vor Kälte. Unruhig rieb er sich die Hände und versuchte sie mit seinem Atem zu wärmen, doch vergebens. Mit einem vor Erschöpfung lauten Seufzen - welches etwas verzweifelter klang, als er es beabsichtigt hatte - ließ er sie in die Taschen seines Mantels gleiten.
Seine vor Eiseskälte tauben Fingerspitzen trafen auf etwas. Zwei Gegenstände. Klein, rund und glatt. Er lächelte und führte sie sich vor die Augen.
Der Ring aus Gollums Höhle und die Eichel von dem alten Baum am Rande des Düsterwaldes. Er lachte bitter. Sicher herrschte an beiden Orten gerade eine heitere Stimmung als hier.
Und als er die Eichel sah, erinnerte er sich wieder. Daran, dass es seinem Freund gelungen war, die Krankheit zu überwinden, daran, warum er hier war und daran, dass er es wieder schaffen könnte. Genau, Bilbo - könnte. Du hast keine Gewissheit, dass er erneut zu Bewusstsein kommt.
Der goldene Ring glänzte metallisch im matten Licht. Behutsam strich der kleine Hobbit mit seinen Fingerspitzen darüber. Er war sein Geheimnis. Sein Schatz. Niemand sonst wusste von seiner Existenz und niemand sonst sollte es auch je erfahren... am besten nicht einmal Thorin.
"... nicht einmal Thorin..." sagte er leise, wobei er den Namen seines Freundes schon fast flüsterte. Er schluckte, riss sich von dem kleinen metallenen Ding in seiner Hand los und ließ den Ring wieder vorsichtig in seine Manteltasche fallen, wo er ein leises Klirren von sich gab, als er mit der Eichel in Berührung kam. Dann ging er weiter auf und ab, so als würde er verzweifelt versuchen, sich über etwas klar zu werden, ohne jedoch zu wissen, um welche Sache es dabei ging.
Plötzlich, als hätte er einen Geistesblitz, blieb er mitten in der Bewegung stehen und sah zur Tür. Ja... Warum eigentlich nicht? Wie von selbst trugen ihn seine Füße dorthin, wo er mit sicherem Griff die eiskalte Klinke aus mattem, dunklem Metall umschloss... und die aus massivem Holz gefertigte Tür öffnete.
Auf leisen Sohlen übertrat er die Schwelle und ließ sein Zimmer hinter sich, während er sich seinen Weg durch die von feuerroten Fackeln erhellten Gänge des Einsamen Berges bahnte.
Schlaf würde er in dieser Nacht wohl nicht mehr finden. Möglicherweise aber Antworten auf so einige Fragen.
~~~
Dumpf hallten seine Schritte in den endlos scheinenden Gängen wider. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit, während er einen Fuß vor den anderen setzte, ohne genau zu wissen, wohin ihn seine Beine trugen.
Mit einem Blick auf die Fackeln konnte er erkennen, dass sie erst vor nicht allzu langer Zeit entzündet worden waren. Er war nicht der einzige, der trotz der späten Stunde noch wach war. Während er weiterging erinnerte er sich daran, dass Kili erwähnt hatte, sie müssten Nachtwache schieben. Es war also gut möglich, dass er jemandem über den Weg laufen würde - eine willkommene Vorstellung.
Als hätte er es geahnt, konnte er plötzlich Stimmen hören. Stimmen, deren Träger sich näherten. Der Gang bog sich, sodass Bilbo die Zwerge zwar hören, allerdings nicht sehen konnte. Der Lautstärke nach waren es zwei. Dem Klang nach Dori und Ori.
Der kleine Hobbit war kurz davor gewesen, zu ihnen zu laufen und sie mit Fragen zu überhäufen, die er in Thorins Gegenwart nicht hatte aussprechen können. Doch als er bemerkte, dass die beiden flüsterten und ihre Schritte dämpften, als würden sie beabsichtigen, unter keinen Umständen entdeckt zu werden, setzte sich der lang versteckte Meisterdieb in ihm durch und er schlich auf leisen Sohlen hinter eine der Säulen, die die Gänge zierten. Zur Sicherheit zog er sich den Ring über - man konnte ja nie wissen.
Er fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, seine Freunde zu belauschen, und er war sich sicher, dass er sich tatsächlich schlecht gefühlt hätte, wäre er noch derselbe Hobbit gewesen, der Beutelsend verlassen hatte. Doch er war nicht mehr derselbe. Er war sich über vieles klar geworden. Und er hatte gelernt, dass man von manchen Personen nur die volle Wahrheit erhält, wenn man sie nicht danach fragt.
Er war sich sicher, sie würden ihm nicht alles verraten. Seit er hier angekommen war, fühlte er sich von den anderen wie in Watte gepackt und er spürte, dass die anderen versuchten, ihn mit den traurigen Tatsachen zu verschonen. Sie konnten ja auch nichts von dem Brief wissen, der ihn dazu gebracht hatte, wegen ebendiesen Tatsachen zurückzureisen mit dem Ziel, ebendiese Tatsachen in ihr Gegenteil umzukehren.
Er hielt den Atem an und hörte die Flüsternden näher kommen.
"Ich... ich denke, es wäre vielleicht das beste, es einfach zu tun..."
"Bist du verrückt? Meinst du, so eine Angelegenheit würde unbemerkt bleiben? Die Menschen von Thal haben schon eine Ahnung, sie sind nicht blind. Bard wird misstrauisch und mit ihm sein ganzes Volk. Wir sind nicht im Krieg, Ori. Noch nicht. Sollten wir jetzt bei dieser hirnrissigen Idee mitmachen, dann würde das das falsche Zeichen setzen!"
"Es geht nur um ein paar Pfeile!"
"Nur um ein paar Pfeile? Ein paar?"
"Versteh mich nicht falsch... ich finde diese Vorstellung auch seltsam. Aber vielleicht sollten wir diesmal keinen Widerstand leisten und einfach tun, was er verlangt. Und bitte, jetzt sieh mich nicht so an! Ich denke einfach, wir sollten ihm dieses Gefühl der Sicherheit mit unserer Einwilligung geben. Wenn er sich geschützter mit diesen Waffen fühlt, liegt das nur im Interesse aller."
Pause. Es schien, als würde Dori über die Worte seines Gegenübers nachdenken. Nach einigen Sekunden flüsterte er wieder.
"Es geht nicht darum, ihn in Sicherheit zu wiegen, denn er ist nicht sicher. Er ist krank. Und erteilt die Befehle eines Kranken. Wenn wir mit dem Schmieden beginnen, dann verstärken wir diesen Zustand noch, glaub mir. Wir bestärken ihn in dem Gefühl, in Gefahr zu sein, in seinem grausamen Denken und in der Vorstellung, er täte das Richtige."
Schweigen. Ori nickte schließlich und Dori fuhr fort.
"Abgesehen davon - du kennst Bard. Und du bist Zeuge davon geworden, wie Thorin ihn vor drei Tagen von unseren Toren weggeschickt hat. Er ahnt etwas und ich denke, er weiß bereits mehr, als Thorin denkt. Warum sonst sollte er um Audienz mit dem König bitten? Und warum sonst sollte Thorin ihn unverrichteter Dinge hinfortschicken?" Er packte den Jüngeren an der Schulter. "Wenn wir ihn in seinem Wahn unterstützen, werden schon bald die ersten Raben in diesem Berg eintreffen. Raben, die Nachrichten von unseren Verbündeten überbringen, denn bald werden auch sie davon erfahren. Bard wird dafür sorgen. Und in jeder dieser Nachrichten werden dieselben Fragen auftauchen. Sie werden wissen wollen, was uns Anlass zu diesem Handeln gab und ob Gefahr besteht. Und was, sag mir, was sollen wir auf diese Fragen antworten?"
Bilbo schluckte als er sah, wie sich eine Träne die Wange des Jüngeren hinunterbahnte. "Ich will doch nur, dass er wieder der wird, der er einmal war."
"Das wollen wir alle. Und vielleicht hängt sein Schicksal von unseren Entscheidungen ab, denn er ist nicht in der Lage, eigene zu treffen, auch wenn er denkt, er könnte es. Und deshalb müssen wir richtig entscheiden."
"Bist du dir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist?"
"Nein. Aber ich denke, dass es der richtige Weg ist. Der Weg zur Besserung."
Ori schluckte und nickte schließlich. "Gut."
Eine längere Pause entstand, in der Bilbo nicht wagte, zu atmen.
"Weiß er es schon?"
"Wer? Bilbo?"
Ori sagte nichts, sondern nickte zur Bestätigung.
"Wenn du das mit Thorin meinst, so bin ich sicher, dass er es weiß. Was allerdings die Dracheneier betrifft..."
"Wir sollten es ihm morgen sagen, wenn er ausgeruht ist. Besser, er weiß, womit er es zutun hat."
"Schon seltsam, nicht?"
"Was genau meinst du?"
"Dass er gerade jetzt kommt. Nicht, dass ich es nicht schätzen oder dass es mich nicht freuen würde, aber es ist schon ein merkwürdiger Zufall. Genauso wie die Tatsache, dass Thorins Veränderung genau mit dem Tag seiner Abreise begonnen hat."
"Worauf willst du hinaus?"
"Frag mich was leichteres. Vermutlich ist es nur ein Zufall und nichts weiter. Am besten wäre es allerdings, ihm nicht alles auf die Nase zu binden. So wie ich ihn kenne, würde er sich mit Sicherheit schuldig fühlen und Thorin würde schon gar nicht wollen, dass wir hinter seinem Rücken über ihn reden."
"Ja, wie du meinst. Dennoch, ich bin froh, dass er hier ist. Ich glaube, er ist so ziemlich das beste, was Thorin passieren konnte - auch wenn er sich das vor uns niemals eingestehen würde. Vielleicht ist er im richtigen Moment gekommen."
"Ja, vielleicht. Trotzdem, denk an meine Worte! Verrate ihm nicht zu viel."
Nein, brauchst du gar nicht. Das haben Fili und Kili schon übernommen... allerdings noch nicht zur Gänze.
Plötzlich hörte er, wie der Ältere bitter auflachte. "Dracheneier. Hättest du das jemals gedacht?"
"Sagen wir es so: Hättest du mir vor einer Woche gesagt, dass wir jemals so etwas finden würden, ich hätte dich für verrückt gehalten."
Er seufzte. "Es ist wahrhaftig unfassbar, wie zwei so kleine versteinerte Dinge so viel Unruhe an diesen Ort gebracht haben."
"Klein? Sie sind genauso groß wie du!" Er lachte.
"Verhältnismäßig klein..."
"Du bezeichnest dich also freiwillig als verhältnismäßig klein?"
"Nicht mich! Die Eier!"
"Kommt das nicht auf dasselbe heraus?"
Der Zwerg seufzte lachend. "Mit dir kann man einfach nicht reden."
"Das hab ich jetzt mal überhört... Jetzt komm, wir haben noch drei Gänge bis zu unserer Ablösung."
"Wozu die Eile, bisher ist noch keine Nacht vergangen, in der wir etwas auch nur annähernd Auffälliges gesehen haben."
"Du weißt, warum. Oder wegen wem. Besser, wir enttäuschen ihn nicht... Die Wände haben Ohren." Er blickte sich mit einem prüfenden Blick um.
"Schon gut, uns kann gar keiner gehört haben. Hier ist nur Bilbos Tür und der schläft mit Sicherheit tief und fest."
Wenn du wüsstest...
Sie setzten sich wieder in Bewegung und verschwanden nach einiger Zeit hinter einer Ecke. Nachdem er sicher gegangen war, außer Hörweite zu sein, zog sich der kleine Hobbit den Ring vom Finger und lehnte sich ungläubig gegen die Wand.
Pfeile... Was für Pfeile? Worum ging es in diesem Gespräch? Trotz der Verwirrung, die sich durch diese Unterhaltung nur noch verstärkt hatte, war er froh, gehört zu haben, was die anderen dachten. Und jetzt hatte er die Gewissheit, dass er das niemals alles erfahren hätte, hätte er sich nicht zum Lauschen gezwungen.
Es waren also zwei Dracheneier. In Zwergengröße. Und versteinert. Hinzu kam die Tatsache, dass Bard vor drei Tagen vor diesen Mauern stand und um Unterredung gebeten hatte, doch grundlos von seinem Freund zurückgeschickt wurde. Und diese Diskussion über die Pfeile... Plante Thorin etwa, Waffen schmieden zu lassen? Im Großen und Ganzen kein ungewöhnlicher Gedanke, allerdings schien etwas damit nicht zu stimmen - sonst hätten die beiden wohl kaum so reagiert.
Nachdenklich rappelte er sich auf und setzte seinen Weg fort.
~~~
Schritte.
Schwere Schritte, deren Widerhall metallisch und stumpf von den Wänden zurückgeworfen wurde und die gesamte Vorhalle, in der sich der Halbling befand, auszufüllen schien. Die Vorhalle zur Schatzkammer.
Dort, zwischen riesigen Wandteppichen mit kunstvollen, goldenen Stickereien, leuchtete die Verbindungstür auf. Die Halle, die dahinter lag musste von einer Unzahl an Fackeln erhellt sein, deren roter Schein von den glänzenden Münzen, Schmuck und Edelsteinen reflektiert wurde. Ihr Leuchten bahnte sich ihren Weg durch den Durchgang zu dem kleinen Hobbit, der nun unsicher davor stand. Unsicher, ob er weitergehen sollte oder nicht.
Die Schritte hallten weiter durch die Halle und die unzähligen Gänge, die sich von ihr abzweigten und sich weit wie die Äste eines Baumes ins Innere des Berges erstreckten. Jetzt wusste er, was Kili gemeint hatte.
Die Schritte wurden mal lauter und mal leiser, schienen mal langsamer und mal schneller zu werden. Derjenige, zu dem sie gehörten, musste unruhig auf und ab gehen und ab und zu stehen bleiben, nur um dann erneut weiterzulaufen.
Unter das verklingende Geräusch mischte sich ein Zischen. Ein Murmeln. Ein Flüstern.
Unsicher ging Bilbo näher. Einzelne Wortfetzen gelangten an seine Ohren, ohne Sinn oder Zusammenhang. Er schluckte. Wenn er etwas verstehen wollte, so musste er durch diese Tür gehen. Würde er durch diese Tür gehen, so würde ihn derjenige dahinter mit Sicherheit bemerken.
Er erinnerte sich an den Ring an seinem Finger und ging weiter. Er wusste, wer hinter dieser Tür war. Nur ob er in dieser Situation wirklich zu ihm wollte, das wusste er nicht.
Wenige Schritte vor dem Durchgang blieb er stehen und blickte auf seine Hand. Der Ring glänzte metallisch und reflektierte die leuchtenden Umrisse der Lichtquelle vor ihm. Stumm schüttelte er den Kopf und zog ihn mit einer entschlossenen Bewegung ab. Der flatternde verzerrte Schleier vor seinen Augen verschwand in dem Moment, als der Ring seinen Finger verließ. Sein Umfeld wurde klarer, dunkler, schärfer.
Du bist nicht hier, um deine Freunde zu belauschen. Schon gar nicht ihn. Du bist hier, um ihm zu helfen.
Wie sein Plan aussah, wusste er selbst nicht recht. Ob er überhaupt einen Plan hatte, schon gar nicht.
Er nahm all seinen Mut zusammen und setzte seinen Fuß über die Schwelle. Er stutze innerlich bei der Erkenntnis, dass ihn das sogar mehr Mut gekostet hatte als damals, als er das erste Mal dieselbe Halle betreten hatte und auf einen todbringenden, sprechenden Drachen gestoßen war.
Sobald er auf der anderen Seite stand, schlug ihm die von den Fackeln erwärmte Luft entgegen. Zunächst ein angenehmes Gefühl, doch schon nach wenigen Sekunden schien es ihm so heiß zu sein, dass er am liebsten seinen Mantel abgestreift hätte - doch das schien ihm unangemessen in Anbetracht der alten, unvorstellbaren und unermesslichen Reichtümer, die sich nun wie ein Meer aus purem Gold, beschienen von lodernden Fackeln, vor ihm erstreckten. Das Ende dieses Meeres war nicht einsehbar - es verschwand im Dunkel, doch es war deutlich zu erkennen, dass es sich noch sehr viel weiter in das Innere des Berges erstreckte.
Als er bemerkte, dass ihm der Mund offen stand, schloss er ihn wieder und sammelte seine Gedanken. Die Schritte hatten aufgehört. Das Flüstern ebenfalls. Der Träger dieser Stimme musste innegehalten haben und zwischen den hoch aufgetürmten Bergen aus Gold verharren.
Hatte er sein Kommen bemerkt? Nein, unmöglich. Er hatte sehr darauf geachtet, nicht den leisesten Laut von sich zu geben. Doch dazu gab es nun keinen Anlass mehr. Er wollte ihn sehen. Und von ihm gesehen werden.
Mit leichten Schritten ging er zwischen dem Gold entlang, auf der Suche nach seinem Ziel, seinem Freund.
Er war noch nicht weit gekommen, da hörte er ein Klirren. Jemand hatte etwas aus Metall - mit hoher Wahrscheinlichkeit einen aus Gold gefertigten Kelch - umgestoßen. Es verriet ihm die Richtung, in die er gehen musste. Und er tat es.
Zu seiner Rechten tat sich ein Gang auf. Nun - Gang konnte man es schlecht nennen, es war vielmehr ein dünner Weg, ein von Gold freigeräumter Pfad, welchen der kleine Hobbit nun einschlug. Es dauerte nicht lange, dann war er an seinem Ziel angelangt.
Eine dunkle Silhouette zeichnete sich vor dem hell beleuchteten Gold ab, wie ein schwarzer Schatten vor der Sonne. Er stand mit dem Rücken zu ihm. Sein Kopf war gesenkt. Er blickte auf etwas, was sich in seiner rechten Hand befand. Thorin hatte den Halbling noch nicht bemerkt. Das, was er in der Hand trug, hielt er nun hoch, gegen das Licht, als wolle er es prüfen. Es war eine kunstvoll gefertigte Kette, besetzt mit tiefgrünen Smaragden, die durch das rote Licht der Fackeln wie von selbst zu leuchten schienen. Eine Weile verharrte er so, besah sich das Schmuckstück und drehte es in seiner Hand. Dann lachte er. Es war ein schauriges, tiefes, kratzendes Lachen, welches von den Wänden zurückgeworfen wurde und noch weiter in der Halle widerhallte, bis es schließlich nach einigen Sekunden verklang.
Mit einer unerwarteten Bewegung warf er die Kette zurück zu den Goldstücken auf dem Boden. Er seufzte tief und rau. "Warum jetzt..."
Dann hielt er sich die Hände an den Kopf und schüttelte sich langsam, als würde er unter starken Schmerzen leiden. "Warum kommt ihr gerade jetzt..." er blickte nach unten. "Sagt mir, warum höre ich euch gerade jetzt... Stimmen aus der Finsternis..."
Stimmen aus der Finsternis. Das letzte Wort zischte er in einem so scharfen Ton, dass es dem kleinen Hobbit Gänsehaut bescherte.
"Warum ruft ihr mich. Warum höre ich auf euch." Er stöhnte kurz auf. "Die, die mir einst ihre Treue geschworen haben... Sie sagen, ich wäre nicht ich selbst. Sie sagen, ich würde schwach sein. Sagt mir, ihr schwarzen Stimmen, wenn ich schwach wäre, würde ich dann so stark kämpfen? Für den Erebor. Für den Schatz. Für meinen Schatz."
Er kniete sich hin, griff nach einem mit Diamanten besetzten Kelch und hob ihn hoch in die Luft, mit ausgestrecktem Arm. Jetzt rief er. "Rache! Ich... will Rache an jenen, die an mir zweifeln... Und ich schwöre, ich werde Rache nehmen, und wenn es das letzte ist, was ich tun werde. Ich will sehen, wie sie sich im Staub wälzen, zu mir aufblicken und ihrer Schwäche gewahr werden! Und ich schwöre, ich werde es sehen!"
Mit einem metallischen Geräusch fiel der Kelch zu Boden. Thorins Gesicht war wieder nach unten gerichtet. "Wie könnte ich jemals wieder zulassen, dass das, was Mein ist, genommen wird. Wie könnte ich so etwas jemals verantworten. Könnt ihr mir das sagen, ihr schwarzen Stimmen? Ich werde mich nie wieder von dem, was mir am wichtigsten ist, trennen. Keiner einzigen Münze. Keinem einzigem Juwel. Keinem noch so kleinen Stück davon."
Bilbo stand mit offenem Mund da. Seine Züge verfinsterten sich, als er verarbeitete, was da eben vor seinen Augen geschehen war.
Sein Freund war wahnsinnig. Nichts in dem, der vor ihm stand, glich demjenigen, den er vor zwei Wochen verlassen hatte.
Dieser hier führte... Selbstgespräche. Hörte Stimmen - das war neu. Rechtfertigte sich grundlos vor ihnen.
Seine Worte waren anders. Seine Haltung verändert. Sein ganzer Körper schien nicht mehr ihm zu gehören. Und das konnte Bilbo erkennen, obwohl Thorin nur mit dem Rücken zu ihm stand.
Der dunkelblaue Mantel, den Thorin noch immer über der leichten silbernen Rüstung trug, schleifte schwer über den Boden und klirrte, wenn er auf umherliegende Goldstücke traf, als sich sein Träger plötzlich in Bewegung setzte. Der Zwergenkönig drehte sich um.
Der kleine Hobbit wusste nicht, was er sagen sollte, weswegen er wortlos auf sein Gegenüber blickte und zitternd Luft ausstieß.
Als Thorin seinen Kopf hob, erstarrte er für einen kurzen Moment. Es war der Moment, in dem er realisierte, dass er nicht allein war.
Sein Mund war leicht geöffnet, während er mit weit geöffneten Augen auf den Halbling vor ihm blickte. Er schwieg. Dann, es schienen Ewigkeiten vergangen zu sein, lachte er auf. Es war ein hohles, unehrliches Lachen, welches nicht zu ihm passte. Nicht zu ihm gehörte. Es klang wie das verzweifelte Lachen eines Wahnsinnigen. Und es erstarb ebenso schnell wie es gekommen war.
"Wen haben wir denn da? Einen Dieb in der Nacht?"
Bilbo wusste weder, was er sagen sollte, noch, wie er die Stimmlage seines Gegenübers zu deuten hatte. Die Stimme klang nicht so fremd wie die, die bis vor wenigen Sekunden noch erklungen war und nicht so kalt, nicht so starr, nicht so schneidend. Aber immer noch von Krankheit geprägt.
"Ich... wollte nicht stören..." Bei was auch immer...
"Das tust du nicht." antwortete der Zwerg schnell, als er erkannte, dass der Hobbit im Begriff war, zu gehen. Mitten in der Bewegung blieb der Angesprochene stehen und drehte sich wieder um.
"Sprich, was führt meinen Meisterdieb zu dieser Stunde dazu, mich hier aufzusuchen?"
"Es ist eine kalte Nacht. Ich habe keinen Schlaf gefunden."
"Schlaf, den du dringend benötigst." Er ließ einen prüfenden Blick über den kleinen Hobbit streifen. "Ist das der einzige Grund, aus dem du hier bist? Schlaflosigkeit?"
"Ich wollte mit dir reden." Seine Stimme war vor Verunsicherung dünn und klang so zerbrechlich wie Glas. "Über... bestimmte Dinge, über die ich mir im Unklaren bin."
"Nur zu. Ich stehe vor dir."
Bilbo nickte und schluckte. Es dauerte einen Moment, während er sich die Worte in seinem Kopf zurechtlegte und sortierte, um sicher zu gehen, dass die richtigen Sätze seine Lippen verließen.
"Während... während ich fort war..." er stockte und schüttelte den Kopf. "Was ist in dieser Zeit geschehen?"
Thorin sah ihn mit hochgezogener Braue an. "Es klingt, als wüsstest du es bereits."
"Ich... ich habe etwas aufgeschnappt, ja."
Er blickte auf, als sein Gegenüber plötzlich bitter auflachte. "Etwas aufgeschnappt, ja? Du hast es wirklich nur aufgeschnappt? Zu mir kannst du ehrlich sein. Das erwarte ich von dir, denn es beruht auf Gegenseitigkeit. Ich kenne dich, Meisterdieb, sehr gut sogar. Gut genug jedenfalls, um zu wissen, wann du die Wahrheit sprichst und wann du versuchst, jemanden in Schutz zu nehmen. Denn das tust du, oder etwa nicht?" Er kam näher und stellte sich direkt vor ihn, sodass der kleine Hobbit gezwungen war, zu ihm aufzublicken, in die leeren, feurigen, eisblauen Augen, von denen er einmal gedacht hatte, sie würden sich für immer schließen. "Sag nur, Halbling, was haben sie dir über mich erzählt?"
"W-wer?"
Der Zwergenkönig beugte sich zu ihm herunter. Das Feuer in seinen Augen brannte stärker denn je. "Stell dich nicht dumm. Du weißt, von wem ich spreche. Sie werden dir ein paar hübsche Geschichten über mich erzählt haben, ist es nicht so?"
Der kleine Hobbit schluckte. "Das haben sie nicht, Thorin. Das mussten sie gar nicht."
Der Zwerg sah ihn prüfend an. "Was soll das heißen, sie mussten es nicht?"
Jetzt konnte Bilbo nicht mehr anders und die Worte sprudelten aus ihm heraus wie ein Wasserfall. "Du hast dich verändert, Thorin! Ich bin noch keinen ganzen Tag hier und ich habe es auf den ersten Blick erkannt. Wo ist der Zwerg, dem ich einst vertraute? Wo ist der Zwerg, den ich in Beutelsend kennengelernt habe?"
Die Gesichtszüge von Thorin veränderten sich schlagartig. Sie verfinsterten sich. Eine tiefe Falte des Zornes bildete sich auf seiner Stirn ab und seine Augen funkelten wie schwarze Perlen im Licht der Fackeln. Wut stieg in ihm hoch. Und schließlich brach sie aus.
"Thorin Eichenschild war einmal. Ja, das war einmal mein Name. Doch jetzt bin ich für größeres geschaffen." seine Stimme war ein zorniges Raunen. Schließlich wurde er lauter, blickte wutentbrannt auf sein Gegenüber und verlor die Kontrolle über sich selbst. "Du redest mit einem König!"
"Du trägst die Krone deiner Ahnen, doch dieser Stellung wirst du nicht gerecht. Du bist anders geworden. Du hast in diesen zwei Wochen alles verloren, was dich ausgemacht hat. Zwei Wochen, Thorin. Es waren nur zwei Wochen..."
Inzwischen bahnten sich die Tränen ihren Weg nach außen und flossen unaufhaltsam seine Wangen hinab.
Thorin kam wieder näher und packte ihn am Kragen.
"Du wagst es, mir vorzuwerfen, ich wäre kein guter König, Halbling?! Alles, was ich tat, tat ich hierfür, alles, wozu ich bestimmt bin, liegt unter diesen Mauern. Nichts anderes zählt. Ich dachte, du hättest das erkannt. Doch wie es scheint, habe ich mich in dir getäuscht, Dieb."
Er stieß einen verachtenden Seufzer aus und ließ ihn wieder los. Dies tat er mit einer solchen Wucht, dass Bilbo der Länge nach auf den kalten Boden fiel. Sein Kopf schmerzte. Seine Augen brannten.
Unter Tränen blickte er zu seinem Freund auf. Er blickte zurück. Seine Augen weiteten sich plötzlich. Als hätte er erkannt, was er da eben getan hatte, änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig von wutentbrannt zu besorgt und er hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund, während er auf den am Boden liegenden Hobbit sah.
"Ich... was habe ich getan..." Seine Stimme war wieder verändert, klang besorgt und fast schon brüchig. Die Maske war wieder durchsichtig. "Verzeih mir... verzeih mir."
Er reichte Bilbo seine rechte Hand und zog ihn wieder auf die Beine. Er atmete zitternd aus. "Ich... weiß nicht, was da gerade in mir vorgegangen ist..."
Bilbo, der sich nun taumelnd wieder aufgerichtet hatte, sah ihm in die Augen. "Aber ich, Thorin. Du bist krank. Lass mich dir helfen."
Der Zwergenkönig schüttelte den Kopf und das Feuer in seinen Augen gewann erneut an Stärke, blieb jedoch matt. "Ich bin froh, dass du wieder hier bist. Und ja, du kannst mir helfen. Dies ist mein Wunsch, meine Bitte, mein Befehl an dich: Hilf mir dabei, die Sicherheit meines Erbes aufrecht zu erhalten. Und zeig mir, dass ich dir vertrauen kann."
"Das kannst du, Thorin... Das konntest du immer."
"Und ich will dir glauben. Sag mir, Meisterdieb, was weißt du?"
"Nun... nicht viel. Ich meinte, etwas von Dracheneiern gehört zu haben. Ich hielt es für einen Scherz. Aber... es war kein Scherz, oder?"
"Nein." Der Dunkelhaarige lächelte traurig. "Nein, das war es nicht."
"Bitte, sag mir alles."
"Es ist viel. Zu viel für eine kurze Nacht wie diese. Ruh dich aus und morgen wirst du erfahren, was immer du willst."
Bilbo lachte ungläubig. "Ich bin nicht müde. Und ich bin kein kleines Kind, das du zu Bett schicken kannst, wenn du dessen Fragen satt bist."
Thorin sah ihn an und der Hobbit erkannte, dass er mit letzterer Formulierung wohl etwas zu weit gegangen war. Doch zu seiner Überraschung zeichnete sich auf den Lippen desjenigen, den er so liebte, ein herzzerreißendes Lächeln ab, voller Wärme und Güte. Der Zwerg schüttelte sanft den Kopf. "Nein, das bist du nicht. Du bist so viel mehr als das."
Bilbo sah ihn an und spürte, wie er rot wurde bei dem Anblick dieses Lächelns, bei der sanften rauen Stimme, bei diesen wärmenden Worten. Er schwieg und sah zu, wie sein Freund auf ihn zukam, kurz vor ihm stehen blieb und noch immer lächelnd zu ihm herabsah.
Er legte eine Hand auf seine Schulter und wies mit der anderen über die unermesslichen Reichtümer, die sich vor ihnen erstreckten.
"Was du hier siehst, ist deine Zukunft. Unsere Zukunft. Und Erinnerung. Das Zeugnis von Jahrhunderten. Und zugleich ist es so viel mehr als das. Wir sind vergänglich. Gold nicht. Es ist das einzige, das bleibt, das einzige, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Das einzige, das alles Leid und alles Blut, das wir vergießen, wert ist. Das einzige, das zählt."
Bilbo bemerkte, dass er sich zu ihm hinuntergebeugt hatte und ihm ins Ohr flüsterte. "Dies ist Erebor. Sprich, Meisterdieb: Bist du bereit, mir zu helfen, dieses Reich zu sichern? Unsere Zukunft zu sichern?"
Bilbo atmete zitternd aus. Unsere Zukunft... Ein Gedanke, der ihm gefiel. Aber er hätte sich diesen Ausdruck in einem anderen Zusammenhang gewünscht. Schließlich nickte er stumm.
"Ich werde dir beistehen... mein... König."
Thorin lachte. "Nenn mich nicht so. Ich werde nie dein König sein. Das will ich gar nicht. Das einzige, was ich will, ist, dich zum Freund zu haben. Denn oft hält Freundschaft länger als Königstreue."
Bilbo lächelte. "Du warst immer mein Freund und wirst es immer bleiben. Doch wenn ich sehe, dass es dir schlecht ergeht, dann erlaube mir, zu helfen. Denn ich weiß, dass ich helfen kann. Freunde helfen einander."
"Ich glaube, du würdest nicht um Erlaubnis fragen."
Der Halbling lachte. "Tja, dafür kennst du mich wohl zu gut."
"Und eben weil ich dich so gut kenne, sehe ich, dass du dringend Schlaf brauchst." Er lächelte. "Morgen ist auch noch ein Tag. Und wer weiß, was uns erwarten wird."
Gemeinsam gingen sie. Hinaus aus den Bergen aus Gold. Hinaus aus dem lodernden Licht der Fackeln. Hinaus zu den Gängen aus Stein, die zu dem Raum des kleinen Hobbits führten. Vor der Tür verabschiedeten sie sich.
Benommen von den Ereignissen fiel Bilbo auf sein kaltes Bett.
Doch Schlaf fand er in dieser Nacht nicht mehr.
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OH MY GANDALF, WIR HABEN SCHON ÜBER EINTAUSEND READS und ÜBER 100 VOTES! Mir ist das erst total verspätet aufgefallen, aber wirklich, ich freue mich gerade WAHNSINNIG. Hätte wirklich nicht gedacht, dass die Geschichte so gut ankommt, das ist echt motivierend.
In diesem Sinne...
DANKE.
Ein großes, fettes Danke an alle, die sich diese Story antun.
Hab euch lieb. ❤
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