Nur ein Kratzer

Das kalte Metall schmerzte brennend, wurde enger, schnitt sich in sein Fleisch.

Mit einer schnellen Bewegung riss er sich die Krone vom Haupt und warf sie zu Boden. Ein schallendes, durchdringendes Klirren. Gold auf Stein. 

Freier. Er fühlte sich freier. Mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand tastete er nach seiner Stirn. Kein Blut. Die Schmerzen waren nur Einbildung gewesen.

Tief und qualvoll löste sich ein langgezogenes Stöhnen aus seiner Kehle und er sank zitternd zusammen. "Nein. Nein..."

Tränen flossen unaufhaltsam seine Wangen hinab, wie junges, rotes Blut aus einer frischen Wunde und fielen wie Herbstregen auf den steinernen Boden. 

Er durfte nicht weinen. Er musste stark sein. Verzweifelt rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. Immer und immer wieder. Doch die Tränen flossen weiter, perlten am Silber der Rüstung ab und tränkten seinen Mantel und seine Haare.

Er schmeckte sie. Salzig, wässrig. Brennend.

Mit letzter Kraft versuchte er, sich aufzustellen. Vergeblich. Als lastete ein unsichtbares Gewicht auf seinen Schultern. Als würde er von unsichtbaren Händen nach unten gedrückt, brach er ein zweites Mal zusammen.

Mit schmerzenden Gliedern und schmerzendem Gesicht zog er sich zu einer Wand, an die er sich setzte. Erschöpft lehnte er seinen brennenden Kopf gegen das kühle Gestein der Hallen unter dem Berg.

Dann schrie er. Es war ein schwacher, tiefer und rauer Schrei, der von den Wänden um ihn herum zurückgeworfen wurde. Mit einem lauteren Stöhnen tastete er nach seiner alten Wunde, doch die Rüstung machte es ihm unmöglich. Ihm war, als könne er erneut spüren, wie Azogs Klinge seinen Körper durchbohrte, als ob er das Eis durch die Wucht des Stoßes unter ihm zerbersten hören könnte. Als ob er erneut das Blut schmecken, die Kälte des Schwertes Azogs in seinem Fleisch spüren könnte. Sich vor Schmerz auf dem Boden ringend schrie er erneut.

Ein langer Schrei. Die Schmerzen trieben ihn fast in eine Ohnmacht. Halb bewusstlos, doch noch immer vor Qualen kehlig stöhnend und schreiend versuchte er, sich robbend fortzubewegen, doch die Schmerzen waren zu stark.

Sein Gesicht war vor Qual verzerrt. Die Schmerzenslaute wurden nur durch vereinzelte Pausen unterbrochen, in denen er gurgelnd und heiser nach Atem rang.

Dann erstarb sein Schrei. Er spürte nichts mehr. Seine Wunde hatte aufgehört, zu brennen. Man hatte ihm gesagt, er würde Schmerzen haben. Ab und zu. Doch dass sie so stark sein würden, hätte er nicht gedacht.

Er spürte, wie sich etwas Warmes über seine Brust ergoss, sich ausbreitete und durch den Stoff sickerte. Blut. Der metallische Geschmack war keine Einbildung gewesen. Die Wunde hatte sich geöffnet.

Ächzend drehte er sich auf den Rücken und sah nach oben. Die Tränen bewirkten, dass er die weit oben liegenden Deckengewölbe nur durch einen wässrigen Schleier sehen konnte.

Er gab auf. Es hatte keinen Zweck mehr, sie zurückzuhalten.

Und er weinte. Schluchzend und aus ganzem Herzen. Doch nicht wegen seiner Wunde.

Zitternd drehte er seinen Kopf und blickte durch den Tränenschleier zu seiner Rechten. Dort war sie. Ein rötlich goldenes Schimmern aus der Finsternis verriet ihm, dass dort seine Krone lag. 

Und er hasste und liebte sie. Hasste sie dafür, dass sie jemand anderen aus ihm gemacht hatte. Jemanden, der von seinen Verbündeten nicht mehr erkannt wurde. Dass er von niemandem mehr verstanden wurde. Niemand verstand denjenigen, zu dem er geworden war.

Seine Kraft schien wieder zu wachsen. Dennoch rührte er sich nicht, sondern blieb regungslos auf dem kalten Stein liegen, während sich weitere Tränen ihren Weg nach außen bahnten.

Etwas anderes breitete sich nun in ihm aus. Eine Wärme. Nicht von dem frischen Blut, denn die Wärme rührte von innen, von seinem Herzen. Es war ein wohliges Gefühl und besänftigte ihn auf eine unerwartete Weise. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er schluckte. Salzig und reibend brannten die Tränen in seiner Kehle, doch er lächelte noch immer. 

Vor einigen Monaten hätte er sterben können. Mit dem Tag der Schlacht der fünf Heere hätte sein Todestag beginnen sollen, doch jemand hatte ihm die Kraft gegeben, nicht aufzugeben, sich nicht kampflos dem Tod hinzugeben. 

Und er lächelte, weil er daran dachte, dass das letzte, was er sah, bevor er nach seinem Kampf gegen den bleichen Ork bewusstlos geworden war, und das erste, was er nach dieser Ohnmacht gesehen hatte, zu ihm zurückgekommen war. Denn das war sein Freund.

Er lächelte bei dem Gedanken an die treuen, herzerwärmend gütigen Augen, an die lockigen, dichten Haare und das unendlich große und trostspendende Herz, das diesem Charakter innewohnte. Die Wärme in seinem eigenen Herzen breitete sich weiter aus und schoss wie neues, belebendes Blut durch seine Venen, schuf neue Kraft in seinen Gliedern und neue Klarheit in seinem Geist.

Er lächelte, breiter, als er an den Blick seines kleinen Freundes dachte, daran, wie er zu ihm aufsah und daran, wie warmherzig das Lächeln dieses Hobbits sein konnte. Niemals hätte er gedacht, dass er sich jemals so sehr die Nähe eines anderen wünschen würde, gerade jetzt. Und für immer.

Die Wärme in seinem Herzen wurde heißer. Bald schon schien es in Flammen zu stehen und aus der einst wohltuenden Wärme wurde ein brennender Schmerz. Nicht so stark wie der Schmerz der Wunde, die ihm Azog zugefügt hatte, aber schlimmer, stechender, beißender.

Das Lächeln erstarb und ein Wimmern entfuhr seinen Lippen, seine Augen schlossen sich und seine Hand wanderte zu der Stelle, an der sein Herz schlug. Unerreichbar. Ihm war, als könne er das wilde Schlagen durch die Rüstung hindurch spüren, als würde es sich jederzeit durch seine Brust bohren und aus ihm herausspringen wollen. 

Wimmernd und zitternd dachte er an den entsetzten, von unendlicher Trauer erfüllten Blick des kleinen Hobbits. Des Meisterdiebs. Seines Meisterdiebs.

"Was ist nur aus dir geworden..." formten seine Lippen tonlos und ein weiterer Schwall Tränen ergoss sich über seine geröteten Wangen, als er daran dachte, mit welcher Verzweiflung sein Freund diese Worte ausgesprochen hatte.

"Was ist nur aus mir geworden." Sagte er plötzlich. Laut. Und die Worte hallten durch die Hallen seiner Väter. "Ich habe ihn verletzt. Verletzt und enttäuscht. Am Körper und im Herzen habe ich ihm Leid zugefügt."

Die Einsicht brachte keine Besserung. Dann schloss er die Augen. Ein neues, aber dennoch unheimlich bekanntes Geräusch drang an seine Ohren. 

Ihm war, als könne er das scharfe Kratzen spitzer Klauen hören. Das Raunen, Rumoren, Schnauben geschuppter Nüstern. Das Glühen und Lodern stechend roter Flammen. 

Dort. Genau unter ihm. In den Tiefen des Berges, in finsteren Höhlen unter der dicken Gesteinsschicht, auf der er lag. Eine Gesteinsschicht, die ein uraltes Geheimnis barg. 

Eine Wut stieg in ihm auf. Sie halten mich für einen Narren. Sie glauben nicht an den Drachen. Wie bitter sie sich täuschen, wird ihnen noch bewusst werden. Wenn sie auf ihn treffen, das Leuchten seiner Augen sehen und der Rauch seiner Nüstern in ihre Nasen steigt, will ich dabei sein. Ich will sehen, wie sie erkennen, dass sie sich täuschen. Und dass ich Recht behielt. Die ganze Zeit.

Entschlossen fuhr er hoch. Ignorierte das Brennen seines Herzens und die Botschaft, die ihm sein Verstand damit geben wollte. Ignorierte die unerträglichen Schmerzen.

Ein Funkeln schlich sich in seine Augen, als seine Finger das kalte Metall seiner Krone berührten und sie umschlossen. Das Funkeln war glasig, rot und leer. Es erfüllte seine Augen wie der Wahnsinn seinen Körper. Und wie die Drachenkrankheit sein Herz.

Das Gold brannte auf seiner Stirn, wurde enger, schnitt sich in sein Fleisch.

Doch er achtete nicht darauf.

Sie werden noch heute mit den Arbeiten beginnen. Sie werden noch heute lernen, was es bedeutet, lang geschworene Königstreue zu brechen. 

Sein langer schwarzer Mantel glitt schwer über den Boden, als er mit schweren Schritten durch die Gänge eilte.

Zu den Schmieden.

~~~

"Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?"

"Jaja, es ist nur ein Kratzer, das geht schon." 

Im Raum herrschte Aufruhr. Nachdem Thorin das Zimmer verlassen hatte, waren die Zwerge aufgesprungen und hatten dem kleinen Hobbit auf die Füße geholfen. Nun saßen sie wieder. Und Bilbo war von ihnen umringt.

Mit einem Tuch, welches Bofur ihm gegeben hatte, trocknete er das frische Blut, das seine Stirn zierte. Bei dem Aufprall war er hart auf dem Gesteinsboden aufgekommen. Hart genug zumindest, um eine Verletzung davonzutragen.

"Er... er hat das nicht so gemeint, da bin ich sicher." Das war Oris Stimme.

Bilbo sah betreten auf und zwang sich, die Tränen zurückzuhalten. Er nickte, doch er konnte nicht antworten. Natürlich hatte es sein Freund nicht so gemeint, das wusste er. Sein Herz sagte es ihm. 

Er war verletzt. Nicht nur die Kopfwunde betreffend, sondern auch im Herzen. Er wusste, dass der wahre Thorin so etwas niemals tun würde. Diese Augen... diese Stimme... das war nicht er. Und dennoch hinterließ sein Handeln einen ebenso schmerzhaften Stich in seinem Herzen als hätte es der Zwerg getan, den er in Beutelsend kennengelernt hatte. 

"Tut es noch sehr weh?"

Bilbo schüttelte den Kopf, als er in die besorgten Augen Filis blickte. Nicht, weil es die Wahrheit war - sein Kopf schmerzte bei jeder noch so kleinen Bewegung und schien jeden Moment platzen zu wollen - sondern eher, um die anderen zu beruhigen. Und sich. "Nein, nein, schon in Ordnung."

"Du hättest das nicht tun sollen..."

"Was?"

"Einfach aufzuspringen und dich ihm in den Weg zu stellen."

"Eher tollkühn als kühn, ich weiß. Ich konnte nicht anders." 

Er seufzte und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Die Zwerge diskutierten wild, worüber konnte Bilbo nur erahnen. Er räusperte sich und die Gespräche verstummten. 

"Was werden wir jetzt tun?" fragte er mit brüchiger Stimme.

"Du wirst jetzt erst einmal gar nichts tun. Leg dich hin, ruh dich aus. Deine Wunde sieht alles andere als gut aus."

"Ich sagte doch schon, es ist nur ein Kratzer." Er sprang von seinem Stuhl auf und bereute es gleich wieder, denn seine Beine protestierten und ein unangenehmes Schwindelgefühl zwang ihn fast in die Knie. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich am Rand des Tisches festhalten. "Ich... ich meine, was wird unser nächster Schritt sein? Erneuter Widerstand? Oder werden wir tun, was er sagt, und die Menschen von Thal außen vor lassen?"

Stille. Dann, als die Ruhe langsam drückend wurde, meldete sich Kili zu Wort.

"Bard weiß bereits von unseren Plänen. Er wird die Botschaft schon längst verbreitet haben. Ich... ich weiß, dass wir alle zwiegespalten sind. Ich meine - ein Drache! Ein zweiter, lebendiger Drache in diesem Berg, und wir sollen das nicht mitbekommen haben? Ich muss gestehen, dass ich vorerst nicht viel von der Vorstellung eines zweiten Drachen gehalten habe, aber... ich glaube, ich beginne allmählich, Thorin zu glauben. Und ihn zu verstehen..."

Jetzt waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Spürte er dabei ein Unbehagen, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

"Smaug hat ihm alles genommen, was ihm lieb und teuer war. Der Weg zur Rückeroberung seines Reiches, der Weg hierher war ein schwerer, langer Weg mit zahlreichen Hindernissen - aber wem sage ich das. Wir alle sind diesen Weg gegangen. Und jetzt, da er nach Jahren auf seinem lang ersehnten Thron sitzt und seine lang ersehnte Krone trägt, sieht er es als seine Pflicht, diesen Zustand aufrecht zu erhalten. Dass er dabei Gefahren sieht, wo keine sind, ist der Krankheit geschuldet, doch davon spreche ich nicht. Ich spreche von seiner Angst, erneut alles zu verlieren und erneut vor dem Nichts zu stehen. Ein zweites Mal könnte er das nicht ertragen. Und er wird nicht ruhen, ehe er sich nicht sicher ist, dass alles Böse aus diesem Berg vertrieben ist. Denn er hat Angst. Er würde es niemals vor uns zugeben, doch er fürchtet sich. Vor dem, was kommen mag. Und vor der Ungewissheit, was die Zukunft wohl mit sich bringen wird."

Im Raum war es still geworden. Noch ruhiger als die Stille, die zuvor schon geherrscht hatte. Natürlich konnten sie das nachvollziehen. Natürlich verstanden sie ihn. Dennoch waren ihre Herzen erfüllt von Zweifel und Unbehagen.

"Über diese Angst, die du beschreibst, kam noch kein einziges Wort über die Lippen unseres Königs. Und trotz allem strahlt er sie aus, mit allen Mitteln. Sein Verstand ist getrübt, aber nicht sein Innerstes. Sein Herz mag von Krankheit zerfressen sein, doch nicht sein altes Ich. Er kämpft. Und ich bin sicher, dass es auch Momente gibt, in denen er an sich selbst und seinen Entscheidungen zweifelt. Dass noch etwas von Thorin Eichenschild in ihm steckt." meinte Balin nickend.

"Aber... was heißt das jetzt für uns?" 

"Wie wahrscheinlich haltet ihr die Existenz eines zweiten Drachen?"

"Nun, für nicht sonderlich groß. Wie sollte eine derart große Kreatur unbemerkt unter Tage überleben können? Unbemerkt! Ich denke, es ist nur eines seiner Hirngespinste, mit denen er es auch sonst vermag, derartige Diskussionen unter uns loszutreten."

Bilbo sagte nichts, sondern saß nur da, mit der rechten Hand das Tuch auf die frische Wunde pressend, und lauschte den Gesprächen aufmerksam. Alles war so fremd, so neu, so unerwartet. Zwei Wochen. Er war nur zwei Wochen fort gewesen und es kam ihm vor, als wären es Jahre gewesen. Wo Thorin jetzt wohl war?

"Die Pfeile werden geschmiedet. Wir beginnen heute noch, ihr habt ihn gehört."

"Wozu Pfeile schmieden wegen eines Drachen, den es höchstwahrscheinlich nicht einmal gibt?"

"Und was, wenn es ihn doch gibt? Was, wenn er recht hat? Wir haben nichts zu verlieren, verdammt!"

"Er hat recht. Sollte der Drache nicht existieren, so hat sich das Thema erledigt. Sollte es ihn jedoch geben, so würden wir mit leeren Händen gegen ihn dastehen. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Die Pfeile müssen geschmiedet werden!"

"Wie willst du den Menschen von Thal erklären, dass wir Schwarze Pfeile schmieden?"

"Ich dachte, Bard weiß es längst."

"Das ist es ja! Bard weiß Dinge, die nicht für seine Ohren bestimmt waren! Er wird wie bereits gesagt die Nachricht schon verbreitet haben und mit dieser Nachricht die Information, dass es der König unter dem Berge nicht als notwendig erachtet hat, sie von der Bedrohung durch einen zweiten Drachen wissen zu lassen! Das Misstrauen gegen ihn wird wachsen. Wir können dem nur entgegenwirken, wenn wir eine offizielle Erlaubnis Thorins hätten, es den Menschen verkünden zu dürfen und ihnen - wenn auch unbegründet - Entwarnung zu geben. Aber unser König verweigert jedweden Kontakt mit ihnen. Als ob das irgendetwas bringen würde..."

"Dennoch werden die Pfeile der ausschlaggebende Punkt sein. Sie müssen geschmiedet werden, und sei es nur, um Thorin zu beruhigen. Denn was wird er tun, wenn er erfährt, dass wir uns weiterhin weigern?"

"Das möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Lasst ihn uns aufsuchen, um ihm unsere Bedenken mitzuteilen. Um ihm unsere Entscheidung zu verkünden. Unsere endgültige Entscheidung!"

"Ach, haben wir denn bereits eine getroffen?"

"Die Pfeile werden geschmiedet. Um die Menschen von Thal können wir uns immer noch kümmern, jetzt zählt einzig und allein der Drache."

Die Gespräche verstummten und Bilbo sah auf. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. 

Fragend blickte er in die Runde und öffnete den Mund. "Ähm... Was ist denn?"

"Wie schätzt du die Lage ein?" fragte Balin schließlich.

Der kleine Hobbit räusperte sich verlegen. "Nun ja... also... Ihr habt schon recht, was eure Bedenken bezüglich der Pfeile und die Konsequenzen deren Fertigung betrifft. Und auch ich bin der Meinung, dass diese Waffen geschmiedet werden sollten. Wir dürfen kein unnötiges Risiko eingehen. Gibt es nicht andere Möglichkeiten, die Menschen von Thal über die Situation zu unterrichten? Wir könnten mit Bard reden, ohne dass Thorin etwas davon wissen muss."

"Wie stellst du dir das vor? Er behält uns im Auge. Er scheint vergessen zu haben, dass die Menschen der Stadt Thal auf unserer Seite stehen. Er hasst sie. Und das sage ich nicht einfach so, er hasst sie wirklich. Und dieser Hass kommt sehr seiner Abneigung gegenüber dem Volk der Elben gleich. Unbegründet, wohlbemerkt, aber stark. Du hast ihn gehört. Er wünscht sich, niemals einen Teil des Reichtums unter dem Berg an sie gegeben zu haben. Er bereut die Gerechtigkeit. Wir können nicht einfach so hier heraus spazieren und herumerzählen, wir würden mit der Bedrohung durch einen zweiten Drachen rechnen."

Ihr nicht. Ich schon. Er hatte schließlich den Ring. Niemand würde etwas von seiner Abwesenheit bemerken, besonders nicht, wenn er seinen Plan in der Nacht verwirklichte. Denn er hatte einen Plan. Keinen gut durchdachten, aber die Anfänge eines Plans. Er musste es zumindest versuchen.

Die anderen sahen ihn noch immer an und er erwachte aus seiner Gedankenwelt, in die er soeben versunken war.

Schließlich seufzte er. "Lasst uns zu ihm gehen. Er kann nicht ewig wütend auf uns sein. Besonders nicht, wenn wir ihm von unserer überdachten Entscheidung erzählen."

Er sah erneut in die Runde. "Lasst uns diese Wunderpfeile schmieden."

~~~

In der Halle war es heiß. 

Riesige Feuer loderten und erhellten flackernd das rege Treiben. Einzelne Flammen züngelten stichartig mehrere Meter hoch in die Höhe, wo sie schließlich in einem Funkenregen vergingen und wie leichte Schneeflocken auf das Gestein fielen und erloschen.

Die metallisch erklingenden Hammerschläge hallten mit lautem Widerklang durch die Gewölbe, verebbten und kamen erneut zum Vorschein. 

Das Glühen und Zischen flüssigen Metalls drang an die Ohren des kleinen Hobbits. Die Hitze war schier unerträglich, doch er ertrug sie. 

Seine erstaunten Blicke wanderten durch den Raum und folgten neugierig den anderen. Er wollte helfen, doch er wusste nicht wie.

Nach einer schieren Ewigkeit lenkte etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. In seinem Augenwinkel konnte er eine Bewegung ausmachen. Eine blendende Reflexion, ein metallisches Geräusch.

Bereits ahnend, auf was - oder besser wen - seine Augen stoßen würden, drehte er den Kopf. 

Die Reflexion rührte von einer Krone. Von seiner Krone. Matt und rötlich spiegelten sich in ihrem Gold die gigantischen Feuer der Schmieden wider. Matt und rötlich schien auch das Feuer in den blauen Augen darunter. 

Er war stehen geblieben. Das metallische Geräusch seiner Schritte war zum Erliegen gekommen. Mit erhobenem Haupt blickte er auf das Treiben. Er war wieder halbwegs zur Besinnung gekommen, hatte sogar fast so etwas wie Freude ausgestrahlt, als sie ihm zugesagt hatten, die Pfeile zu schmieden. Und nun taten sie es. Und er folgte ihnen mit ernstem Blick.

Zu gerne hätte Bilbo gewusst, was hinter dieser vor Sorge verzogenen Stirn vor sich ging. Doch so gut es ihm auch sonst gelungen war, diesmal gelang es ihm nicht. Er sah nur das dunkle, starre und leere Funkeln seiner Augen. Wie zwei dunkle Kristalle, durchzogen von rotem Schimmer. Dem Schimmer des Wahnsinns.

Dann änderte sich sein Blick. Der König musste die Augen auf den seinen gespürt haben, denn nun drehte er den Kopf und sah direkt zu ihm.

Etwas änderte sich. Das Flackern, das lodernd sein Gesicht erhellt hatte, wirkte weniger bedrückend, nachdenklich, bedrohlich. Die Augen wurden klarer. 

Bilbo schluckte. Sollte er zu ihm gehen? Ihn ansprechen? Oder einfach nichts tun? 

Die Entscheidung wurde ihm schneller abgenommen, als er es erwartet hatte. Von niemand anderem als dem Schwarzhaarigen, um den es dabei ging.

Als hätte er eben erst gemerkt, dass der kleine Hobbit dort stand, hellten sich seine Gesichtszüge auf, er öffnete leicht den Mund und trat schließlich mit entschlossenen Schritten auf ihn zu. Das metallische Geräusch seiner Rüstung, das bei jedem Schritt erzeugt wurde, wurde von den glockengleichen Hammerschlägen der anderen verschluckt.

Wenige Zentimeter vor dem Hobbit kam er zum Stehen und sah in seine Augen. Bilbo schluckte, blickte zu ihm auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sein Gegenüber lächelte. Doch er konnte es nicht erwidern. Noch nicht.

Er öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, doch Thorin ergriff das Wort, bevor er überhaupt die Möglichkeit dazu hatte.

"Was führt meinen Meisterdieb zu diesem Ort?" fragte er mit tiefer Stimme, noch immer mit einem verspielten Lächeln auf den Lippen.

"Ich... ich würde gerne helfen, fürchte aber, dass ich in der Kunst des Schmiedens zu nichts zu gebrauchen bin..." stammelte er verlegen. Was sollte das? Wieso war er so... so aufmerksam? Vor wenigen Stunden hatte er ihn noch voller Wut zu Boden gestoßen, wenn auch getrieben von der Macht dieser seltsamen Krankheit.

"Ich rechne dir deine Hilfsbereitschaft hoch an, doch ich teile deine Befürchtungen." Er lachte.

Doch sein Lachen erstarb, als er sein Gegenüber genauer betrachtete. Seine Augen blieben an seiner Stirn hängen. "Was ist das?" 

Seine Stimme war sanft und von Sorge erfüllt, ebenso wie seine kristallblauen Augen. 

Bilbo zog eine Augenbraue hoch. "Was ist was?"

"Deine... Wunde." Im Ton seiner Stimme schwang ernsthafte Besorgnis mit.

Bilbo verstand plötzlich. Die Verletzung hatte er schon fast zur Gänze ausgeblendet. "Ach ja, das... ich bin... hingefallen." Er wunderte sich wegen der plötzlichen Fürsorge seines Freundes, vorhin hatte es ihn schließlich nicht im Geringsten gekümmert. Erinnerte er sich überhaupt daran? Der verwirrte und mitfühlende Blick des Zwergenkönigs ließ keinerlei Schlussfolgerungen darauf zu.

Und wieder änderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Wangen verloren an Röte, wurden blasser, falls das überhaupt möglich war. Seine Pupillen weiteten sich. Kurz schnappte er nach Atem und seine Brauen verzogen sich noch mehr vor Sorge.

"Einen Augenblick... War ich das etwa?"

Der kleine Hobbit sagte nichts. Er stand nur da und blickte, ohne auch nur die geringste Emotion zu zeigen, in die Augen des Größeren.

Dieser trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und legte sanft eine Hand auf die Schulter seines Freundes. "Bitte, sag es mir. Habe ich dir das angetan?"

Bilbo tat dies mit einer lässigen Handbewegung ab. "Es ist wirklich nichts ernstes, nur ein Kratzer."

Thorin sah ihn noch immer mit demselben sorgenvollen Blick an und dem kleinen Hobbit fiel es schwer, diesen sanftmütigen, wärmespendenden Augen zu widerstehen, die ihn wie jedes Mal in seinen Bann zogen und aus Sekunden Ewigkeiten machten. 

"Wie konnte ich... wie... konnte ich nur so etwas tun?" Er nahm seine rechte Hand von der Schulter des Kleineren und war im Begriff, sein Gesicht zu berühren, doch hielt wenige Zentimeter davor in der Bewegung inne. "D-darf ich?"

Bilbo nickte leicht, fast unmerklich, doch sein Gegenüber sah es und das genügte.

Vorsichtig und sachte strich er mit seinen Fingern über die Verletzung. Es brannte nicht. Es schmerzte nicht mehr. Es war ein angenehm kribbelndes Gefühl. Er erinnerte sich, wie kalt die Hände seines Freundes bei seiner Rückkehr gewesen waren, doch nun waren sie warm wie ein Wind im Sommer und die Berührung löste etwas bei ihm aus, was es ihm unmöglich machte, seinem Gegenüber weiterhin die kalte Schulter zu zeigen und ihm ein Lächeln auf das Gesicht zauberte.

Die Nähe tat unerwartet gut. Die Geräusche um sie herum verschwanden, die laut erklingenden Hammerschläge waren nur noch dumpf zu hören und schon bald verschwanden sie ganz. Auch Thorin lächelte.

Das angenehme Kribbeln breitete sich aus und schon bald bemerkte er, dass die Hand seines Gegenübers weiter nach unten strich, über seine Schläfen und schließlich auch über seine Wange. Dort blieb sie einen Moment lang ruhen. Der kleine Hobbit schloss die Augen, genoss den Moment und wünschte sich, die Zeit anhalten zu können, um für alle Ewigkeit die Wärme und Nähe seines Freundes spüren zu können. 

Als er die Augen öffnete, blickte er in die herzzerreißend besorgten und gütigen Augen seines Freundes, dessen Lippen ein ebenso breites Lächeln umspielte, wie das, was er ihm schenkte.

Alles war still. 

Vielleicht ein wenig zu still.

Das Lächeln auf den Lippen des Größeren erstarb und er brach den Blickkontakt ab, um seinen Kopf zu drehen und zu seiner Rechten zu sehen.

Die Stille war keine Einbildung gewesen. Die Hammerschläge hatten tatsächlich aufgehört, das Zischen der Schmelzöfen war zum Erliegen gekommen. Die Zwerge hatten aufgehört, zu arbeiten. Sie hatten gemerkt und gesehen, was eben passiert war. Welch einen Wandel ihr König gerade durchgemacht hatte. Und nun standen sie da, sahen zu den beiden und Bilbo hätte schwören können, auf dem Gesicht des ein oder anderen ein verschmitztes Lächeln gesehen zu haben.

Thorin nahm schnell seine Hand von der Wange des Jüngeren, wodurch sich auf dessen Gesicht eine unerwartete Kälte verbreitete, trotz der gigantischen Schmiedefeuer, die die Halle in eine höllengleiche Hitze hüllten. Wie von selbst hob er seine linke Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der sein Freund ihn berührt hatte. 

Der Zwergenkönig schnaubte und erhob zornig seine Stimme.

"Habt ihr nichts zu tun?!"

Sofort machten sie sich wieder an die Arbeit, als hätten sie nie aufgehört und als hätten sie nie gesehen, was sie gesehen hatten. Doch sie waren Zeuge gewesen. Und es freute sie.

Thorin wandte sich wieder seinem Freund zu, allerdings nicht, ohne den anderen noch einen prüfenden, warnenden Blick zuzuwerfen.

"Verzeih... das mit deiner Verletzung." räusperte er sich verlegen und wurde rot. Offensichtlich war es ihm unangenehm.

"Wie gesagt, es ist nur ein Kratzer."

Der Zwergenkönig sah zu Boden, um sein Gesicht vor dem kleinen Hobbit zu verbergen. "Nein, wirklich. Es tut mir leid. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen."

Jetzt war es Bilbo, der einen Schritt auf ihn zuging und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Als der Größere daraufhin erstaunt den Kopf hob, erschrak der Halbling. Die blauen Augen waren von einem dichten Tränenschleier überzogen, einzelne Rinnsale bahnten sich seine Wangen hinab.

Wie von selbst und als wäre es ein natürlicher Reflex oder gar sein Instinkt, nahm er nun die Hand von der Schulter seines Freundes und fuhr mit seinen Fingern über die Wange desjenigen, den er zu lieben gelernt hatte, um die Tränen zu trocknen. 

"Du... du weinst?"

Der Schwarzhaarige lachte sanft und leise auf. "Verzeih, ich bin nicht gut in so etwas. Normalerweise tue ich das nicht, musst du wissen."

Nein, natürlich nicht. dachte Bilbo lächelnd. Doch ich weiß, dass du eine Maske trägst. Dass du versuchst, vor den anderen und mir stark zu sein. Ich kenne dich besser als du denkst. 

Thorin lächelte zwar, doch der kleine Hobbit konnte erkennen, wie aufgesetzt diese Miene war und wie es wirklich dahinter aussah.

"Entschuldige, aber ich muss hier raus..." sagte er plötzlich und griff nach der Hand an seiner Wange, um sie sanft in seine Finger einzuschließen. 

Er nickte den anderen zu. "Ich denke, sie werden auch ein Weilchen ohne uns auskommen, meinst du nicht auch?"

"Wie, du willst, dass ich mitkomme?" Der kleine Hobbit sah aus großen Augen zu ihm auf und erwiderte das Lächeln. Doch seines war ehrlich.

"Wenn es meinem Meisterdieb nicht allzu viele Umstände bereitet." Er lachte. "Die Hitze hier ist unerträglich. Lass uns zu einem angenehmeren Ort gehen, wo ich dich in meine weiteren Pläne einweihen kann." Er sah zu seinem kleinen Hobbitfreund hinab und realisierte, dass er noch immer seine Hand hielt, woraufhin er sie mit einem verlegenen Räuspern ihrem Besitzer zurückgab.

"Nichts lieber als das. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte mir angesichts dieser Höllenhitze die Kleider vom Leib gerissen."

Lachend verließen sie die Hallen der berühmten Schmieden des Einsamen Berges.

Die Anderen sahen ihnen nach. Warfen sich vielsagende Blicke zu.

Doch das sahen die beiden nicht mehr.





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Schnulz schnulz

Nur mal so also Vorwarnung - das nächste Kapitel ist (für meine Verhältnisse) einfach abartig lang, weswegen ich am Überlegen bin, ob ich nicht doch zwei draus mache... (Da kommen 7530 Wörter auf euch zu, hehe) 

Kommt dann auch nächste Woche Freitag. 

Bis denne.

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