Klirrende Ketten
"Sie sind wunderschön."
Müde legte Bilbo den Kopf schief und sah dem kleinen Geschöpf in die Augen. Es waren große, blaue Augen; die Art von Augen, die einen dazu bringen können, Mitleid zu fühlen wo keines sein sollte, und die trotz ihres jungen Alters so wirkten, als hätten sie schon viel zu viel gesehen.
Er wusste nicht, ob das Schimmern in diesen leuchtenden Iriden Mordlust oder Neugier war, doch es brachte ihn zum Lächeln.
Fili trat neben ihn, und als der kleine Drache den Eimer in seiner rechten Hand bemerkte, starrte er ihn an, als wäre er ein Heiliger.
"Sind es Jungen oder Mädchen?" fragte Bilbo, den Blick noch immer auf das kleine Wesen vor ihnen gerichtet, das nun mit all seiner Kraft nach vorne strebte, um zu dem Eimer zu gelangen, doch der Stärke seiner Ketten konnte es sich nicht widersetzen.
"Zwei Brüder würde ich meinen", antwortete der Blonde schulterzuckend, griff in den Eimer und reichte Bilbo einen Fisch, damit er ihn an den jungen Drachen verfüttern konnte. "Hier."
Der Halbling nahm ihn entgegen, trat vorsichtig einen Schritt auf die kleine Feuerschlange zu und legte ihn vor seiner Nase ab, gerade so, dass sie ihn sich mit einer ihrer zierlichen Klauen heranziehen konnte. "Woher habt ihr den?" fragte er, als er sich bewusst wurde, wie frisch der Fisch gewesen war.
"Thal", erwiderte Fili, zog einen anderen heraus und wog ihn auf der Handfläche, wollte ihn erst zu dem anderen Drachen legen, ließ jedoch davon ab, als er erkannte, dass er noch schlief. "Wir erhalten Lieferungen, die Nähe zum See macht sich bezahlt. Woher glaubst du haben wir die ganze Zeit unsere Vorräte bezogen?"
"Ich weiß nicht", erwiderte er wahrheitsgetreu, während er dabei zusah, wie das kleine Wesen ein Stück aus dem Fisch herausriss und es in mehreren Versuchen herunterwürgte. Er wandte sich wieder Fili zu, denn der Anblick schlug ihm auf den Magen. "Nach allem was geschehen ist hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass Thal den Einsamen Berg beliefert."
"Nun, Thal würde es wohl nicht mehr tun, wenn herauskommt, an wen wir ihren Fisch verfüttern", sagte der Zwerg mit einem Seufzen und sein Blick glitt zur Seite, galt nichts bestimmtem, sondern führte ins Nichts, in die Leere. "Aber sie werden es erfahren. Sie müssen es erfahren."
Schließlich zuckte er mit den Schultern, trat nach vorn und legte den Fisch vor die Schnauze des schlafenden Drachen. "Onkel hat heute Morgen einen Brief bekommen." Als er zu Bilbo sah, lächelte er. "Wenn alles gut läuft, wirst du in nicht allzu ferner Zukunft meine Mutter kennenlernen."
"Dís?" fragte der Halbling, und erwiderte das Lächeln. "Das sind großartige Neuigkeiten."
"Ja, weißt du... so langsam habe ich das Gefühl, es ginge wieder bergauf. Aber vielleicht ist es nicht mehr als ein Gefühl."
Bilbo legte den Kopf schief und behielt das Lächeln auf seinen Lippen. "Die Tage werden heller, sie müssen heller werden. Es gibt nichts, wovor wir jetzt noch Angst haben müssen."
Der Blick, mit dem Fili ihn auf diese Worte hin bedachte, verriet nicht, ob er ihm glaubte oder nicht, doch tief in seinem Herzen wusste er, dass seine Worte wahr waren, und seine Mundwinkel zuckten, als er es einsah. "Ach, nicht?" gluckste er, als das kleine Wesen vor ihren Füßen ein leises, erbärmliches Fauchen von sich gab.
Der Halbling lachte, als er sie betrachtete. Es war kaum zu glauben, dass diese zierlichen Geschöpfe die Nachkommen einer so grausamen Feuerschlange waren, und er hoffte inständig, dass die Farbe ihrer Schuppen das einzige war, das sie mit ihrem Vater gemein hatten.
"Wir sollten ihnen Namen geben", murmelte er.
"Das würde ich nicht tun."
Bilbo zog eine Braue hoch. "Weshalb?"
"Wir könnten uns an sie gewöhnen", erwiderte der Blonde, und seine Miene wurde wieder ernst, seiner Stimme wohnte ein Hauch von Bedauern inne.
"Sie können nicht hierbleiben. Wir können nicht mehr für sie sorgen, sobald sie bemerken, dass sie Flügel haben und Feuer speien können. Das weißt du."
Natürlich wusste er das. Erneut betrachtete er die beiden Drachenkinder, und als seine Augen auf die blauen des einen trafen, spürte er eine schwere, kalte Leere in seiner Brust, die er sich kaum erklären konnte. "Was werden wir mit ihnen tun?"
Fili seufzte, folgte seinem Blick und senkte ihn wieder, als er erkannte, dass er Mitgefühl empfand. "Ich könnte mir vorstellen, dass man sie aussetzen wird. Schau nicht so, wir können das nicht ändern. Es liegt nicht mehr in unseren Händen, jedenfalls nicht mehr, sobald Bard und Thranduil davon erfahren."
Eine Weile schwiegen sie und Bilbos Blick glitt zum Fenster, es stand noch immer offen. Draußen wurden die Wolken dichter, wie ein grauer, aus Wasser gewebter Teppich, der schon bald zerreißen und die Felder tränken würde, wie all die vergangenen Tage zuvor.
Filis Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Oh, nun sieh mal an, er ist aufgewacht."
Mit "er" war der Bruder des Drachen gemeint, der nun unter der Last seiner Ketten die Glieder von sich streckte, das Maul zu einem langgezogenen Gähnen aufsperrte, und sich schließlich schüttelte wie ein Hund nach einem langen Bad im See.
Bilbo lächelte und trat auf ihn zu, beugte sich hinab und streckte ihm vorsichtig eine Hand entgegen, wie man es bei einer Katze tun würde. Weshalb er es tat, wusste er selbst nicht so recht. "Guten Morgen, Kleiner."
Zögernd hob der Angesprochene seinen Kopf und musterte ihn. Seine Nüstern hoben und senkten sich, sein Atem ging zitternd und schwer, als wäre die Luft zu dünn für ihn. Bilbos Finger mussten wohl noch immer nach dem Fisch riechen, den er seinem Bruder gegeben hatte, denn mit einem Mal spürte er, wie eine raue Zunge über seine Handfläche leckte.
"Ich glaube, er mag dich", kommentierte Fili mit einem Lächeln.
Sachte ließ sich der Halbling auf die Knie nieder und fuhr der kleinen Feuerschlange über die glatte, warme Schnauze, und ehe er sich's versah, fand er sich im Schneidersitz wieder, den Kopf des jungen Drachen auf seinem Schoß. Das Gefühl war ebenso merkwürdig wie schön. Und als er diesen leisen, säuselnden Atemzügen und diesem ruhigen, dumpfen Herzschlag lauschte, überkam ihn ein ehrliches Mitgefühl, und er strich dem Jungen behutsam über die kleinen, zarten Schuppen, und er lächelte dabei, ohne es zu bemerken.
Draußen am Himmel verschwand das Licht mehr und mehr hinter diesem grauen, schweren Mantel, und die Luft begann, zu flirren und zu wispern, als würde sie die Ankunft eines Sturms verkünden.
Das ferne, seufzende Heulen kalter Winde entfachte in Bilbo plötzlich den Wunsch, sich einen Mantel überzustreifen und sich jenseits dieser Mauern zu begeben, an einen Ort, der dem Boden und seinem Herzen näher war als dieser hier. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass er daran dachte, wie es wäre, das sanfte Sommergras altvertrauter Wiesen unter seinen baren Füßen zu spüren, wie es wäre, die Augen zu schließen und zu fühlen, wie die goldenen Strahlen der Abendsonne auf seinen Wangen kitzelten. Manchmal, wenn er die Augen schloss, konnte er es noch fühlen. Das Gras. Die Sonne. Doch wenn es geschah, so geschah es im Schatten der Angst, dass all diese Erinnerungen bald verblassen würden.
Die Winde wurden stärker, lauter, sangen höher und heulender, doch die Wolken brachen nicht. Noch nicht. Bilbo spürte, wie das Drachenjunge unter seiner Hand zusammenzuckte. "Shhh", raunte er, "es ist alles gut. Das ist nur ein Sturm, aber er kann euch nichts tun, diese Mauern sind stark."
Er sah zu Fili, der ihn mit verschränkten Armen und einem amüsierten Grinsen betrachtete. "Bilbo, die Drachenmutter..."
"Sehr witzig."
Der Blonde ging in die Knie und musterte den Bruder, der noch immer mit einem der Fische beschäftigt war. "Meinst du, sie können uns verstehen?"
"Es sind Babys, Fili", erwiderte der Halbling mit einem Schmunzeln, senkte den Blick wieder und schluckte, als er in die geöffneten Augen des Drachenkindes sah.
Sie waren tief und glänzten nicht, hatten die Farbe von dunklem Rost und welken Rosenblüten, und die Art, wie sie ihn anblickten, jagte ihm einen warmen Schauder über den Rücken, den er sich nicht erklären konnte.
"Sie tun mir leid", murmelte er, während er sich in ihrem Anblick verlor. "Sie werden niemals die Liebe ihrer Mutter spüren. Sie werden niemals wissen, wer sie war."
Fili sah auf. "Und am besten wäre es, sie würden niemals erfahren, durch wen sie zu Waisen geworden sind." Er zwang sich ein kleines Lächeln auf die Lippen, doch es tröstete weder Bilbo noch ihn selbst. "Glaub mir, es ist das beste, wenn wir sie von hier fortschaffen."
Sie hatten keine Schritte vernommen, und daher waren sie überrascht, als mit einem Mal die Tür aufschwang. Es war Kili, und als sein Blick auf den Drachen in Bilbos Armen fiel, lehnte er sich mit der Schulter gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme und legte den Kopf schief.
"Och, ist das süß."
Fili richtete sich auf. "Hast du nichts zu tun?"
Der Jüngere tat so, als hätte er die Frage nicht gehört.
"Wir sollten ihnen Namen geben."
"Jetzt fang du nicht auch noch damit an", seufzte der Blonde, doch Kili ließ sich nicht beirren.
"An irgendjemanden erinnert er mich...", er lachte, "Oh, und jetzt weiß ich auch an wen. Sieh ihn dir doch einmal an, ihr habt denselben Blick", meinte er, an seinen Bruder gerichtet. "Wir könnten ihn Fili nennen."
"Untersteh dich."
"Weswegen bist du gekommen?" schaltete sich Bilbo ein, ohne den Kopf zu heben.
"Genau genommen wegen dir."
Die Schnelligkeit, mit der die Antwort über seine Lippen gekommen war, zwang den Halbling dazu, ihm in die Augen zu sehen. Kili seufzte, sein Lächeln verschwand.
Langsam löste er sich vom Türrahmen, schritt auf ihn zu und ließ sich ihm gegenüber auf dem Boden nieder, und er schluckte, ehe er sprach.
"Du... du musst uns sagen, was gestern Abend zwischen dir und Thorin passiert ist. Bitte."
Diese Bitte war Bilbo unangenehm, er konnte es schlecht verbergen und schlecht erklären. Vielleicht sollte er es einfach sagen. Wir haben uns einander anvertraut. Wir haben uns geküsst. Oh, und wie wir uns geküsst haben...
"Ich habe euch gestern schon gesagt, dass wir uns versöhnt haben." Er konnte in seinen Augen sehen, dass das nicht das war, was Kili hatte hören wollen.
"Ihr habt euch brav die Hand gereicht und 'Entschuldigung' gesagt und alles war wieder in Ordnung?"
Als er bemerkte, wie Bilbo seinen Blicken auswich, senkte er seine Stimme.
"Da war mehr, hab ich recht?"
Langsam fuhr der Halbling über die Schnauze des kleinen Geschöpfs auf seinem Schoß, das langsam in den Schlaf fiel, einmal, zweimal. Dreimal. Als Kili schon meinte, er würde keine Antwort mehr erhalten, nickte Bilbo, sachte und zögernd.
"Ja", flüsterte er tonlos, und es fiel ihm so schwer, als würde er ein furchtbares Verbrechen gestehen, und wenn er ehrlich zu sich selber war, fühlte es sich auch genau so an. Dieses Gefühl war schwer zu erkennen und noch schwerer hinzunehmen.
Er hob den Kopf noch immer nicht, doch aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie sich Fili neben seinem Bruder niederließ, und wie es schien, sah Kili darin den Anlass, fortzufahren.
"Bilbo, du kennst uns. Wir würden dich niemals zu etwas zwingen, zu dem du dich nicht in der Lage fühlst, aber es geht hier um unseren Onkel. Ich habe Angst um ihn. Wirklich große Angst. Und ich will mein bestes geben, ihm zu helfen, diesen Kampf zu gewinnen, wie du es gestern sagtest, doch das geht nicht, wenn ich nicht weiß, was ihn bewegt, was ihn antreibt, was er will. Und ich habe das Gefühl, du weißt es."
Bilbo seufzte, riss sich zusammen und sah ihm in die Augen. "Du klingst so, als wolltest du etwas hören, was du eigentlich schon weißt, Kili."
Der Angesprochene musterte ihn mit verengten Augen, und vielleicht war es auch nur Einbildung, doch der kleine Hobbit meinte, auf seinen Lippen den Anflug eines Lächelns zu erkennen. "Nun, es könnte sein, dass ich nach Bestätigung in meiner Vermutung suche, dass..."
"Dass?"
"Dass du inzwischen weißt, was 'Amrâlimê' bedeutet."
Vielleicht hätte Bilbo einfach "Nein" sagen sollen, doch in gewissen Situationen lassen einen selbst die simpelsten Worte im Stich, und die Situation, in der sich Bilbo befand, war eine dieser Ausnahmen. Als er den Mund wieder schloss, ohne etwas gesagt zu haben, wusste er, dass er sich verraten hatte.
Fili und Kili wussten es. Er hatte gerade mehr gesagt als es durch Worte möglich gewesen wäre, und als er spürte, wie die Röte in seine Wangen stieg, senkte er den Blick erneut.
Zu behaupten, das Brüderpaar wäre überrascht darüber gewesen, wäre eine maßlose Untertreibung, denn man darf nicht außer Acht lassen, dass Vermutung und Erkenntnis zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Sie hatten das, was nun auf der Hand lag, eine lange Zeit angenommen. Nur angenommen, mehr nicht. Sie hatten all die Zeichen richtig gedeutet, doch nicht ernst genommen. Der Gedanke, dass ihr Onkel Gefühle für einen Halbling haben könnte, hatte ihnen Material für Gespräche und Witze beschert, doch bislang war es bei Gesprächen und Witzen geblieben, und sie hatten nie erwartet, dass sich das ändern würde.
Fili war der erste, der das Schweigen brach und auflachte, als würde ihm eine unfassbar schwere Last von den Schultern fallen. "W-wirklich? Bilbo, das ist... das ist die beste Nachricht seit Monaten!"
Der kleine Hobbit sah auf, als er sie lachen hörte, überrascht, verwirrt, erleichtert. Er wusste nicht, was er fühlen sollte.
"Ich kann nicht glauben, dass er es dir endlich gesagt hat - endlich!" stieß Kili hervor, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war so voller Freude, dass es fast schon surreal wirkte. "Was ist los mit dir, hat es dir die Sprache verschlagen?"
Das hatte es in der Tat. "Ein wenig, ja. Ich... ich wusste nicht, wie ihr reagieren würdet."
"Nun, nach deiner rührenden Rede, die du vor Bard und der Blondine gehalten hast, hatten wir schon vermutet, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis... nun ja", erwiderte er mit einem Grinsen auf den Lippen, das nun wohl nicht mehr so schnell verschwinden würde.
"Du... du hast uns belauscht?" quiekte Bilbo entsetzt, denn er erinnerte sich sehr wohl an das, was er gesagt hatte, und dass es niemanden, wirklich niemanden etwas anging. Im Grunde ging es nicht einmal Bard und Thranduil etwas an.
Kili hob eine Braue. "Natürlich hab ich das, was hast du denn gedacht? Und ich muss sagen, du hast deine Sache gut gemacht, sehr gut sogar - auch wenn ich kurz davor war, einzuschreiten, als das Wort auf die 'scharfen Klingen' fiel. Gut, dass ich es nicht getan habe, denn dann hätte ich wohl nie gehört, in welchem Licht du unseren Onkel siehst."
In Filis Augen sah Bilbo nicht so aus, als würde er Kilis Meinung zum Thema Lauschen teilen, und er hatte Recht damit. Er lächelte. "Und bitte schau nicht so, er weiß, dass es ihn nichts anging, und doch war das, was er tat, richtig. Er konnte dich dort nicht allein lassen, ohne sicherzugehen, dass du auch ohne Hilfe in der Lage warst, sie zu überzeugen - und das ist dir gelungen, dafür respektiere ich dich, sehr sogar. Wir wollen nur, dass du weißt, dass du uns ein sehr enger Freund geworden bist."
Sein Bruder nickte. "Nun, wie es scheint, bist du nun sogar mehr als das. Willkommen in der Familie... O-onkel?"
"Oh, bitte nenn mich nicht so."
"Wieso, ist dir Tante lieber?"
"Ich bin Bilbo, und dabei bleibt es", erwiderte er mit einem Schmunzeln und senkte seine Stimme, als er weitersprach. "Ihr beide solltet noch gar nichts davon wissen."
Kili grinste, Fili nickte. "Unsere Lippen sind versiegelt, auch wenn ich der Meinung bin, dass ihr nicht zu lange zögern solltet, dazu zu stehen. Du kannst nicht leugnen, dass es einst besser um unser aller Verhältnis zu Thorin stand, und dass wir alles dafür geben sollten, unser Vertrauen wiederzufinden, und dort neues zu schaffen, wo keines mehr ist. Das ist nur möglich, wenn wir ehrlich zueinander sind. Ehrlich und... aufrichtiger denn je."
Sie hielten in ihrem Gespräch inne, als sie Schritte vor der Tür hörten, dieses Mal so deutlich, dass sie anhand des Musters erkennen konnten, dass sie zu Thorin gehörten, noch ehe er den Raum betreten hatte.
Vorsichtig schob Bilbo seine Hand unter den Kopf des Drachenjungen, das mittlerweile wieder schlief, und hob ihn sachte an, um aufzustehen und sich das Stroh von den Hosenbeinen zu streichen.
Als Thorin die Tür öffnete, sahen alle drei in seine Richtung - falls ihn das verwirrte, so ließ er es sich nicht anmerken.
"Ich... habe etwas Wichtiges mit Bilbo zu besprechen", meinte er schlichtweg, und seine Miene blieb erstaunlich ernst, als er es sagte.
"Selbstverständlich, wir... sind schon weg." Fili zog seinem Bruder am Ärmel. Es wäre zu viel verlangt gewesen, nach dem Gespräch mit Bilbo ihr Grinsen abzustellen, und so behielten sie es auf den Lippen, während sie verdächtig schnell zur Tür eilten und sie schließlich hinter sich schlossen.
Als die beiden nicht mehr im Raum waren, wandte sich Thorin langsam seinem Meisterdieb zu und hob eine Braue, als hoffte er auf eine Erklärung.
Der kleine Hobbit legte den Kopf schief. "Etwas Wichtiges, ja?"
Der Zwerg hob seine Mundwinkel zu einem blassen Lächeln, ehe er mit entschlossenen Schritten auf ihn zutrat, den linken Arm um seine Hüfte schlang, die rechte Hand in seinen Nacken legte, in seine Augen sah und sich schließlich zu ihm hinunterbeugte. Als sich ihre Lippen trafen, wurde ihnen - einmal mehr - klar, dass sie sich nie ganz daran gewöhnen würden, dass sie nun wirklich nach all dieser Zeit zueinandergefunden hatten, denn jedes Mal, wenn sie sich auf diese Weise berührten, schienen sie in einer Welle von Glück zu ertrinken, die es ihnen unmöglich machte, klar zu denken, klar zu sehen.
Sie trennten ihre Lippen voneinander und umarmten sich, sachte aber sehnsüchtig, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Benommen vergrub Bilbo sein Gesicht in Thorins wallenden, schwarzen Locken.
"Du glaubst gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe", hörte er den Größeren murmeln, und der Klang seiner Stimme verriet ihm, dass er lächelte.
Sie hatten sich zwar erst am vergangenen Abend gesehen, doch Bilbo wusste, was er meinte. Seit er in Thorin einen Freund gefunden hatte, hatte er sich oft genug gefragt, wie er all die Jahre ohne ihn hatte leben können, denn aus heutiger Sicht fühlte er sich, als wäre er all die Jahre allein gewesen, ohne es zu wissen. Er fühlte sich, als könnte er keinen weiteren Tag mehr ohne ihn bestehen, und... irgendetwas sagte ihm, dass das gefährlich war.
"Ich habe die Befürchtung, dass wir es nicht mehr lange geheim halten können", seufzte er und lehnte sich langsam zurück, um Blickkontakt mit ihm aufzubauen.
Thorin nickte, sah kurz zur Seite und schließlich wieder in seine Augen. "Was hältst du davon, wenn wir es ihnen heute Abend sagen?"
Heute Abend... Das klang so nah, und doch so fern. Doch es klang vernünftiger, als noch länger zu warten, besonders, wenn er sich Filis Worte ins Gedächtnis rief. Er biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf zu einem Nicken. "Ich weiß nicht, warum, doch ich fürchte mich davor."
"Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst", raunte der Schwarzhaarige, bevor er ihm mit dem Daumen eine Locke aus dem Gesicht strich und ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn setzte. "Wir mussten so lange warten, ich werde mir von niemandem mehr sagen lassen, was ich tun oder lassen soll. Nicht, was das betrifft."
Bilbo lächelte und nickte, denn es waren Worte, die er gerne glauben wollte. Es gab viele Dinge, die er gerne glauben wollte; Dinge, die ihn anspornten, die ihm halfen, in der Dunkelheit ein Licht zu sehen und die ihm auf die Beine halfen, wenn er fiel, doch... mit der Zeit hatte ihn die Angst gepackt, ein Leichtgläubiger geworden zu sein. Ein Naiver, ein Blinder. Er befürchtete, in diesen Gedanken zu versinken, und beschloss, sie zu ignorieren, sah zu Thorin auf und lächelte. "Wie ich von Fili gehört habe, werden bald Zwerge aus den Blauen Bergen kommen?"
Als er das ansprach, schien der Schwarzhaarige förmlich zu strahlen. "Schon bald, ja. Es ist nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Es wird Zeit, dass wieder Leben in diese alten Hallen kommt."
Das unverkennbare Geräusch klirrender Ketten veranlasste sie dazu, ihren Blickkontakt abzubrechen. Thorin sah in die Richtung der beiden Drachenjungen, als hätte er ihre Gegenwart erst in diesem Moment bemerkt, und als er vorsichtig von Bilbo abließ, um einen Schritt näher zu treten, schien er hypnotisiert und in Gedanken versunken, die er selbst nicht verstand.
"Sie sehen aus wie ihr Vater", murmelte er, so sachte und brüchig, dass sich Bilbo nicht sicher war, ob er die Worte absichtlich ausgesprochen hatte, und es hatte den Anschein, dass nicht einmal Thorin selbst es sagen konnte. Er stand da, als würde er nicht wissen, ob er bei ihrem Anblick Mitgefühl oder Abscheu oder etwas Anderes fühlen sollte; oder ob er überhaupt etwas fühlen konnte, wenn er in ihre großen, unschuldigen, ungeheuerlichen Augen sah.
Als Bilbo bemerkte, dass die Hände des Schwarzhaarigen zitterten, trat er neben ihn, verschränkte ihre Finger ineinander und lehnte sich vorsichtig gegen seine Seite, und er konnte hören, wie Thorin erlöst und langgezogen ausatmete, schwach, aber doch erleichtert, und nach wenigen Sekunden schloss er die Augen und erwiderte die Berührung.
"Danke", seufzte er und strich behutsam mit dem Daumen über den Handrücken des Hobbits.
"Wofür?"
"Dass du den Mut hattest, dich mir in den Weg zu stellen."
Bilbo lächelte, warum, das wusste er nicht. Es war die Art von Lächeln, die auf den Lippen derer erscheint, die nach einem langen Winter die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings auf ihren Wangen spüren. "Ich glaube nicht, dass du sie getötet hättest", flüsterte er, und ließ es verschwinden.
"Das kannst du nicht wissen, nicht einmal ich kann das. Ich habe das Gefühl, du vertraust mir zu sehr."
"Und ich habe das Gefühl, du vertraust dir zu wenig."
Thorin senkte seinen Blick auf den Hobbit, und schmunzelte, doch seine Augen blieben kalt. "Gefühle sind eine gefährliche Sache", sagte er mit einer Stimme, die klang, als würde er Bilbo für das, was er empfand, bedauern, oder vielmehr, als würde er dasselbe denken, was Bilbo zuvor gedacht hatte - dass es gefährlich sei, sich ohne die Gegenwart eines anderen nicht mehr vollkommen zu fühlen. Es war der Grund, aus dem der kleine Hobbit ihm aus ganzem Herzen zustimmte, auch wenn er das für sich behielt.
"Und doch sind sie das wunderbarste auf der Welt", fuhr Thorin fort. "Ich habe lange gebraucht, das zu erkennen, fast zu lange. Zum Glück bist du mir geschehen, sonst hätte ich es wohl nie gelernt." Als er weitersprach, klangen seine Worte zwar warm, doch er sprach sie mit Nachdruck und mit der Stimme eines Verzweifelten. "Ich liebe dich. Du bist der einzige, der diesen Satz jemals von mir hören wird. Bitte vergiss das nie."
Bilbo war verwirrt, und er versuchte gar nicht erst, es zu verbergen. "Weshalb kommst du auf den Gedanken, dass ich es vergessen könnte?"
"Weil ich dich dazu bringen könnte. Weil ich dir keine Hoffnungen machen möchte, nur, um sie dann wieder zu zerstören. Weil du nicht vergessen solltest, dass ich krank war und es vielleicht noch immer bin. Ich erinnere mich noch, wie es sich anfühlt, diesem Schatz verfallen zu sein, ich weiß noch, wie es ist. Für einen Moment in meinem Leben, den ich mir nie verzeihen werde, war dieser Schatz für mich weit mehr, als ich in Worte fassen könnte. Und ich will es vergessen, doch ich kann nicht ignorieren, dass diese Zeitspanne da gewesen und vielleicht noch immer zu keinem Ende gekommen ist. Diese Zeit, in... in der ich in Gold mehr sah als ein kostbares Metall. Weißt du warum? Weil ich es geliebt habe. Nicht so, wie ich dich liebe, es war... anders. Es war die Art von Liebe, die einen zerstören kann und einen dazu bringt, dieses Gefühl zu genießen. Dieses Gefühl, sich die Haut zu versengen, wenn man es berührt, dieses Gefühl, von ihm verschlungen zu werden, wenn man es zu lange betrachtet, dieses Gefühl, wie das Blut in den Adern erkaltet, wenn man es in seiner Nähe spürt. Es war mehr als nur Gold, es war mehr als nur das Verlangen, es zu besitzen und zu hüten. Es gehörte mir und ich gehörte ihm. Es war mein... mein Schatz, mein Eigen. Meines allein." Seine Stimme gab nach, und er fand sie erst nach einigen Atemzügen wieder.
"Ich erinnere mich wieder, wie es war, in seinem Bann zu sein. Und ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Ich will, dass du dich daran erinnerst, wie es klingt, wenn ich diese Worte zu dir sage, weil ich mich davor fürchte, wieder in diese Tiefen zu fallen, aus denen du mich gerettet hast. Weil ich Angst habe, dir wieder wehzutun." Er bemerkte, wie fest er Bilbos Hand umklammerte und ließ sie los, als fürchtete er ihn zu verletzen.
"Bitte nimm dich in Acht vor mir."
Thorins Lippen bebten nicht, als er diesen Satz sagte, doch seine Stimme tat es. Seine Augen waren gerötet, aber trocken, als wären seine Tränen aufgebraucht, und ihr flehender, verunsicherter Blick stand in Kontrast zu seinen entspannten, ruhigen Gesichtszügen. Und es waren seine Augen, auch wenn sie nicht zu ihm passten. Bilbo sah zu ihnen auf, reflektierte seine Worte, und dann schließlich sprach er, langsam, und bedeutungsvoll, und mit einer Tonlage, von der er hoffte, sie würde ihn beruhigen können.
"Solltest du jemals wieder einen Rückfall erleiden, dann glaube nicht, dass es dir vorbestimmt war, in diese Tiefen zu fallen. Und nimm ja nicht an, dass ich dann nicht da sein werde, um diesen Fall zu verhindern." Er tastete nach seiner Hand und fuhr fort, als Thorin die Berührung erwiderte. "Die Gefühle, die ich für dich habe, machen diese Angelegenheit auch zu der meinen, verstehst du das? Sag nichts, ich weiß, dass du es verstehst."
Und dann legte er den Kopf schief, das Verlangen in der Brust, etwas zu ihm zu sagen, das nicht in den Kontext passte. "Hab... hab ich dir jemals gesagt, was für wunder-, wunderschöne Augen du ha-"
Er kam nicht dazu, diesen Satz zu beenden, denn Thorins Lippen schnitten ihm die Worte ab. Ein wenig überwältigt erwiderte Bilbo den Kuss, spürte, wie seine Wangen glühten, spürte, wie ihm der Atem stockte. Und er spürte noch etwas; etwas, das ihn zwar beunruhigte, sich aber nur schwach und schemenhaft hinter den anderen Emotionen verbarg, und im Rausch ihrer Berührung an Bedeutsamkeit verlor.
Es war die Gewissheit, dass ihn gerade dieselben Hände berührten, die ihn einst geschlagen hatten, dass er gerade dieselben Lippen küsste, die ihm befohlen hatten, zu verschwinden. Er hatte ihnen vergeben, doch er erinnerte sich daran, und es würde seine Zeit dauern, ehe auch diese Erinnerungen in Bedeutungslosigkeit versinken würden. Manche Dinge sollte man nicht vergessen. Doch gäbe es einen Trank, der gewisse Worte und gewisse Taten aus dem Gedächtnis verschwinden lässt; Bilbo hätte ihn genommen.
Sie brachen den Kuss ab, als einer der beiden Drachen fauchte, blickten erst verwirrt in ihre Richtung und lachten schließlich zögernd, als sie sich wieder in die Augen sahen.
"Da ist wohl jemand eifersüchtig?" fragte Thorin das kleine Geschöpf, das sie unterbrochen hatte, worauf es den Kopf einzog und erneut fauchte.
Bilbo lächelte matt, benommen von dem Kuss und von seinen Gedanken. "Fili meinte, es würde die Möglichkeit bestehen, dass sie ausgesetzt werden", meinte er, als er sich wieder an seine Worte erinnerte. "Ist das wahr?"
Der Schwarzhaarige gab erst nach einer kurzen Pause Antwort, die zeigte, dass er es selbst nicht wusste. "Ich verfasse gerade ein Schreiben, in dem ich Bard und Thranduil um ein Zusammentreffen bitte, denn was mit ihnen geschieht, ist nicht allein unsere Entscheidung. Ich werde einen Raben losschicken, heute noch." Er sah zum Fenster, beobachtete die sich sammelnden Wolken, den fahlen, endlosen Himmel.
"Ihr Schicksal steht noch in den Sternen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Fili Recht hat. Vielleicht werden sie ausgesetzt, weit weg von diesem Tal und diesem Berg und dessen Gold." Kurzerhand riss er sich von dem Anblick los, sah Bilbo in die Augen und lächelte sein bitteres Lächeln. "Doch wer kann das schon sagen? Vielleicht werden sie auch eine Weile bleiben, und mit der Lüge aufwachsen, dass wir nichts mit dem Tod ihrer Eltern zu tun hatten."
Der Halbling nickte, nicht wissend, welche Option ihm besser gefiel. "In beiden Fällen sollten wir hoffen, dass sie nicht nach ihrem Vater kommen. Dass ihnen Freundschaft und Liebe mehr bedeuten werden als Gier, mehr als Rache, mehr als Hass." Er sah zu Thorin. "Mehr als Gold."
Der Zwergenkönig senkte den Kopf, sein Blick war blass und tief. Sein Lächeln wirkte gezwungen, doch es entspannte sich und verwandelte sich in ein ehrliches, als er in die Augen seines Gegenübers sah. Ehrlich, aber traurig. Traurig, aber hoffnungsvoll.
Ihre Finger berührten sich, sachte, vielleicht war es beabsichtigt gewesen, vielleicht war es das nicht.
Sie hörten ein fernes, wisperndes Geräusch, als die Wolken brachen. Sie hörten das zarte, flüsternde Trommeln der ersten Tropfen, die auf die Felsen fielen.
Sie hörten ihren Herzschlag, der in ihren Gedanken plötzlich hervorbrach wie eine Stimme, die etwas rief, und es klang wie ein Hilferuf, der anschwoll und dann wieder verebbte, und dann erneut erklang, doch sie verstanden ihn nicht, sie konnten ihn nicht verstehen.
Doch das war in Ordnung, denn sie wollten es nicht.
~~~
Es war später Nachmittag, als ein Rabe den Einsamen Berg verließ.
Der Himmel war trübe und dunkel, wie ein Meer, wie geschaffen, um in ihm zu versinken und alten Gedanken nachzugehen, die ebenso trüb und dunkel waren. Der Regen, der in langen, peitschenden Tropfen auf die Dächer und Wiesen und Felsen fiel, glitzerte nicht, denn die schweren, schwarzen Wolken ließen das letzte Licht nicht passieren und schnitten die Welt unter ihnen von den späten goldenen Strahlen ab.
Die Luft erzitterte, die Winde wurden kälter und bliesen stärker, zerrissen die dunkle Wolkenwand und jagten die Tropfen über die wogenden Grashalme, die tanzenden Baumwipfel, den kargen Stein, und sangen ihr hohles und stimmloses Lied.
Es würde eine sternenlose Nacht werden, und eine unruhige dazu, doch das Unwetter jenseits der Mauern schien winzig, wenn Bilbo es mit dem in seinem Kopf verglich.
Seine Nerven lagen blank, sein Blick glitt ins Leere, seine Schultern hingen schlaff herab, die Stimmen der anderen nahm er nur verschwommen oder gar nicht wahr. Es waren freudige Stimmen, Stimmen, die wild durcheinander sprachen, Stimmen, die lachten. Er hätte gerne mit ihnen gelacht, so, wie er es schon oft getan hatte, und noch oft tun wollte. Er lachte nicht, weil er sich leer fühlte, hohl und stimmlos wie der Wind, der an den Fensterläden riss. Er sah zu seiner Rechten, wie sich Thorin mit Fili unterhielt und spürte Neid auf seine Fähigkeit, die Fassung zu bewahren, denn er hatte die seine verloren und hatte nicht die Kraft, sie zurückzuerlangen.
Er wusste, weshalb sie hier saßen, an diesem Tisch, in diesem Raum, zu dieser Stunde. Sie saßen hier, weil sich herausgestellt hatte, dass der König unter dem Berge eine Vorliebe für kleine, in Bücher und Teekessel vernarrte Kerle wie ihn entwickelt hatte und seine Gemeinschaft das Recht hatte, dies zu erfahren. Er fragte sich, ob sie wohl noch immer so guter Laune sein würden, sobald sie darüber Kenntnis erhielten und schüttelte den Gedanken ab, als er erkannte, dass er ihm nicht gefiel.
"Geht es dir gut?" hörte er Bofur sagen, drehte den Kopf und verstand, dass die Frage an ihn gerichtet war.
"Es geht mir bestens", log er, sah, dass der Zwerg ihm nicht glaubte und zwang sich ein Lächeln auf die blassen Lippen. "Wirklich."
Bofur quittierte das mit einem Schmunzeln, nur mit dem Unterschied, dass das seine ehrlich war. "Es ist wegen des Briefes, nicht wahr? Es braucht dir nicht peinlich zu sein, ich bin auch nervös, und wie. Andererseits, was soll schon schiefgehen? Wir haben uns nicht ausgesucht, dass in diesem Berg zwei Drachen gelebt haben, und dass ihre Jungen geschlüpft sind, ist wohl kaum unsere Schuld. Das dürfte selbst jemand wie Thranduil erkennen, meinst du nicht?"
Er sagte es laut genug, dass auch Thorin die Worte verstand.
"Gutes Stichwort, Bofur", hörte er ihn sagen, bevor sich der Schwarzhaarige von seinem Platz erhob und damit dafür sorgte, dass die Gespräche verstummten und das Gelächter erstarb. Erstmals hörten sie das dröhnende, tiefe Rumoren der Winde und des Regens, das zuvor nur dem Halbling an seiner Seite aufgefallen war, der nun langsam den Kopf hob und darauf wartete, dass sein Freund mit dem Sprechen begann.
Thorin schmunzelte. Und als er begann, hing Bilbo an seinen Lippen, kaum in der Lage, seine Worte zu empfangen, seinen Wandel zu begreifen.
"Wie ihr unschwer vernehmen könnt, geht draußen gerade die Welt unter. Der Sturm gewinnt an Stärke, und wie der ein oder andere unter uns befürchtet, könnte bald noch ein weiterer aufziehen. Ihr wisst, wovon ich spreche. Derzeit befinden sich zwei junge Drachen in unserer Obhut, und während wir hier beieinandersitzen, werden die beiden Könige in Thal darüber in Kenntnis gesetzt. Ihr macht euch Sorgen um ihre Reaktion? Ihre Reaktion kennen wir doch schon - ich bat sie um Verständnis und um eine Versammlung, und beides werden sie nicht ablehnen können. Darum sage ich euch: Hört auf, den morgigen Tag zu fürchten und richtet euren Blick nach vorn! Feiert und seid guter Stimmung, denn wie ihr wisst, werden in diesem Berg bald wieder die Schläge unserer Hämmer, das Knistern unserer Schmiedefeuer und die Lieder unseres Volkes erklingen und diesen Berg zu dem machen, was er einst war!"
Der Jubel, der darauf folgte, machte es Bilbo unmöglich, länger stumm die kommenden Minuten zu fürchten, und er stimmte mit ein, wenngleich seine Stimme die leiseste von allen war. Kurz streifte er Thorins Blick, und er sah, wie er lachte, tonlos, und warm. Es war das schönste Lachen, das er jemals gesehen hatte, und während er ihn betrachtete, wurde ihm klar, wie selten er diese Seite von ihm zu Gesicht bekam. Es schien, als wäre er hierfür geboren. Nur hierfür. Das hier war, wo er hingehörte, das hier war, wozu er bestimmt war, das hier war, was ihn ausmachte. Es würde auf ewig etwas sein, das Thorin von ihm unterschied.
Der Schwarzhaarige fuhr fort, als die Menge sich beruhigte, und sobald er die ersten Worte über seine Lippen kamen, herrschte wieder Schweigen unter den anderen und sie lauschten wie gehörige Schüler einem gestrengen Lehrer lauschen, ehrfürchtig, wissbegierig.
"Wir haben allen Grund, die folgenden Tage und Wochen mit Zuversicht herbeizusehnen, die Zeiten haben sich verändert, und das zum Guten. Dass es soweit kommen konnte, ist nicht mein Verdienst, sondern der eure, und dafür stehe ich - einmal mehr - in eurer Schuld", raunte er mit tiefer Stimme, und senkte langsam den Kopf, und als er ihn wieder hob, waren seine Züge ernst und glatt. "Ich habe euch die letzte Zeit nicht leicht gemacht, und besonders nach dem vergangenen Abend scheint es doch angebracht, eine meiner Schulden zu begleichen und euch etwas zu verkünden, von dem ich mir sicher bin, dass es der ein oder andere bereits weiß, oder es zumindest ahnt." Er änderte den Ton seiner Stimme, sodass sie sanfter klang, und deutlich machte, dass sie nichts Unangenehmes zu erwarten hatten. "Und ich möchte mich kurz fassen, da es nichts ist, was man durch lange Reden totreiten sollte."
Nein, das war es tatsächlich nicht, und Bilbo war froh, dass er das ansprach. Dass er auf seiner Unterlippe herumkaute, bemerkte er erst, als es zu schmerzen begann, doch in seiner Nervosität wusste er sich nicht zu helfen und er konnte fühlen, wie sich etwas in seiner Brust anspannte, als Thorin ihm vor seinem nächsten Satz bedeutsam in die Augen sah, so als wollte er sich vergewissern, dass er das richtige tat, oder als bedürfte es seiner Zustimmung, um fortfahren zu können.
Bevor er die Lippen ein weiteres Mal öffnete, atmete er tief ein und wieder aus, und als er schließlich sprach, tat er es in einem überzeugten und monotonen Klang. "Wir wollen, dass ihr wisst, dass Bilbo und ich nicht länger durch Freundschaft verbunden sind."
Ein Raunen ging durch die Menge und wider Erwarten musste der Halbling lächeln. Das ist auch ein Weg, es zu formulieren, ging es ihm durch den Kopf. Sein Blick fiel auf Thorins Neffen, die sichtliche Mühen hatten, ihr Grinsen zu verbergen und sich ansahen wie zwei kleine Kinder, die etwas ausgefressen hatten und so taten, als wüssten sie von nichts.
"Aber Bilbo sagte uns, ihr hättet euch versöhnt?" warf Dwalin in die Runde, und so verwirrt, wie er aussah, tat er ihm fast schon leid.
"Nun, genau das ist der Punkt", entgegnete der kleine Hobbit, nahm alles an Selbstbewusstsein zusammen, was er finden konnte, und erhob sich langsam von seinem Platz. Der Schwarzhaarige zu seiner Rechten schenkte ihm ein Lächeln, und er erwiderte es, wenn auch schüchtern.
"Thorin hat recht", fuhr er fort und wandte sich wieder der Gemeinschaft zu, "man kann uns wohl nicht mehr als Freunde bezeichnen."
Der Zwerg an seiner Seite hob auf diese Worte hin sowohl den Kopf als auch die Stimme. "Das Band, das uns verbindet, ist ein weitaus stärkeres. Wir wollen, dass ihr wisst, dass..." Die Finger seiner linken Hand tasteten vorsichtig nach denen des Halblings, und als er auf sie traf, schloss er sie in die seinen ein, so, dass es für jeden sichtbar war.
"... dass wir uns lieben", beendete er den Satz, ohne den Anflug eines Lächelns oder eines Zögerns, und er sah in die Runde, mit Augen, die plötzlich wachsam und warnend wirkten, Augen, die sagten, dass es derjenige bereuen würde, der seine Missgunst offen zeigte. Bilbo spürte, wie der Griff des Zwerges ein wenig fester wurde, nicht aus Zorn, sondern aus Vorsicht, und es gelang ihm nicht zu sagen, ob es beabsichtigt war oder nicht.
Das Schweigen, das auf diese Worte für wenige, bedrückende Sekunden in der Luft stand, war kein Schweigen der Bestürzung, doch die wenigen Sekunden, die es erfüllte, ließen den Halbling regelrecht verzweifeln, und es kostete ihn eine große Überwindung, in ihre Gesichter zu sehen.
"Ich wusste es", flüsterte Bofur, sobald ihn die Erkenntnis traf, brach damit diese unerträgliche Stille und die anderen taten es ihm gleich. "Ich wusste es!"
Das laute Gemurmel, das daraufhin folgte, erfüllte den Raum in einer überraschenden, wärmenden Weise, die dafür sorgte, dass sich Thorins Griff um Bilbos Hand entspannte und das schmerzende Gefühl in seiner Brust verschwand. Und als der kleine Hobbit in die Runde sah, als sein Blick den der anderen streifte, fragte er sich wirklich, wie er hatte annehmen können, sie würden ihn für das, was er empfand, verurteilen, denn ihr breites Lächeln war Beweis genug, dass sie das nicht taten, im Gegenteil.
Der Zwergenkönig und sein Meisterdieb wechselten einen Blick, dessen Bedeutung wohl nur sie allein kannten, ehe sie sich setzten, langsam, erleichtert, ihrer Stimme beraubt. Die Worte der anderen, die sich laut und angeregt damit brüsteten, sie hätten es schon all die Zeit geahnt, hallten nur leise wie ein Echo in ihren Gedanken wider, als hinge ein schwerer Vorhang zwischen ihnen und dem Rest, den sie nicht beiseite schieben konnten und auch nicht gewillt waren, etwas daran zu ändern.
Der kleine Hobbit ertappte sich dabei, wie er die Ohren spitzte, um aus dem Meer an Stimmen diejenige herauszufischen, die Thorins Liebe zu einem Halbling infrage stellte oder gar als falsch bezeichnete, doch er fand sie nicht und unterließ den Versuch, als ihm bewusst wurde, dass es seine eigene gewesen sein könnte; jene Stimme, die er versucht hatte, zu ignorieren und die ihn in langen Nächten in den Wahnsinn trieb.
Er erschrak, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, und zuckte merklich zusammen, was Kili, der sich inzwischen von seinem Platz erhoben hatte und zu ihm gegangen war, ein Lachen entlockte. "Gratulation", bemerkte er, mit dem breitesten Grinsen, das Bilbo jemals gesehen hatte, "du bist der erste Hobbit, der es in unsere Familie geschafft hat."
"Hat ja lange genug gedauert", ergänzte sein Bruder lächelnd, doch er flüsterte mehr als dass er sprach, sodass es mehr nach einem Gedanken klang, der nicht für die Ohren anderer bestimmt gewesen war.
Bilbo konnte ihm nur zustimmen.
~~~
In dem kleinen Zimmer roch es nach Regen und Fisch.
Der Wind riss an den Fensterläden, öffnete und schloss sie wieder, in einem Rhythmus, der die beiden Brüder um den Schlaf brachte. Doch das Unwetter verängstigte sie nicht. Es entfachte einen Wunsch in ihren kleinen, wild schlagenden Herzen, ein unzähmbares Verlangen, das wohl Teil ihrer Natur war.
Die Ketten klirrten wieder; und ein aufmerksamer Zuhörer hätte erkennen können, dass sie anders klangen als sonst. Rauer, brüchiger. Doch sie hielten noch, hielten ihrem Wunsch entgegen, die Flügel auszubreiten und eins zu werden mit diesem nassen, grauen, reißenden Meer aus eisigem Regen und singendem Wind.
Es klirrte erneut. Und noch einmal.
Sie zogen an ihren metallenen Fesseln, mit all ihrer Kraft und ihrem sturen Willen, und sie würden es so lange tun, bis sie vor Erschöpfung in den Schlaf fielen. Und wenn es soweit war, würden sie träumen.
Von dem Geräusch versagender Ketten.
Von dem Wind unter ihren dünnen Flügeln.
Von der Welt, die jenseits dieser Mauern lag und die sie noch nicht begreifen konnten.
Sie sollten ihr noch früh genug begegnen.
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I'm back, guys.😎
Aber wer weiß, wie lange...
Ich bin mal gespannt, ob nach dieser langen Schreibpause noch jemand hier ist.
Bitte verzeiht mir meinen Schreibstil in diesem Teil, ich werd es früher oder später nochmal überarbeiten.
In der Zwischenzeit ist viel passiert.
Dieses Buch ist bei einem Award aus irgendeinem Grund auf dem Siegertreppchen gelandet (ich überleg immer noch, wo ich den Sticker hinmache), ich wurde so oft getaggt, dass mir schwindelig wird (nicht falsch verstehen - ich mag es, getaggt zu werden), gestern hatte ich meine mündliche Vorabi-Prüfung in Englisch und wider Erwarten hab ich es überlebt.
Und jetzt bin ich kurz davor, volljährig zu werden. Wtf. Was soll das.
Thema Zwerge - es hat keinen wirklichen Grund, warum Thorin & Co. bis jetzt allein in diesem Berg gehockt haben, der einzige Grund dafür ist meine schlechte Planung. Ich hätte dieses Buch wirklich besser durchdacht, wenn ich geahnt hätte, dass es von so vielen gelesen wird (Apropos - über 15K Reads? Ihr seid so krass😳❤️). Daher hier ein fettes SORRY dafür, dass ich erst jetzt ein paar andere Zwerge mit ins Spiel bringe.
Wenn meine Berechnungen stimmen, dürft ihr noch mit sieben weiteren Kapiteln und einem Epilog rechnen, schließt daraus, was ihr wollt. Ich werde vor Freude schreien, wenn ich diese Fanfiction abschließe. Und ich werde dieses Projekt vermissen, das weiß ich jetzt schon, aber es ist ja noch eine Weile hin.
Wir lesen/schreiben/sehen uns <3
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