Gespräche im Dunkeln
"Thorin, Sohn des Thrain, Sohn des Thror..."
Ihre bleichen Flügel durchschnitten die dünne Luft, als sie lautlos durch die Halle glitt. Als sie mit den Flügeln schlug, hörten sie ein leises, hohes, durchdringendes Sirren, wie bei einem Herbstwind, der sich in den Winkeln eines alten Hauses auf dem Lande verfängt. Singend, wispernd.
Dann landete sie. In ihren Gliedern steckte eine Kraft, die sie ihr nicht zugetraut hatten, und dennoch bewegte sie sich mit schwachen Regungen, schwächer, als sie für Drachen üblich waren.
Ihre Stimme erklang tief und rau, verzerrt durch ein unüberhörbares Beben, das noch mehrere Sekunden in ihrer beiden Ohren nachklang. Diese Stimme klang weniger weiblich als Bilbo vermutet hatte, und doch enthielten ihre Worte weniger Schärfe, Hass und Tiefe als die von Smaug. Der Drache wirkte trotz dieses durchdringenden Klanges schwach, als wäre sie kurz davor, in einen Fieberschlaf zu sinken, doch ihre wachsamen Augen schimmerten so blau wie eh und je. Fiebrig. Stechend. Brennend.
Die Säule, hinter der der Zwergenkönig und der Meisterdieb Schutz gesucht hatten, lag fest in ihrem Blick, und das wussten die beiden. Ein Entkommen schien ebenso waghalsig wie unmöglich.
Thorin öffnete zögerlich und angespannt die Lippen, um ihr eine Antwort zu geben, doch seine raue Kehle erlaubte es nicht. Stumm schluckte er, und der bittere Geschmack auf seiner Zunge ließ ihn erschaudern.
Der Atem des Drachen kam einem Donnergrollen gleich, geprägt von einem scheidenden Widerhall, der von den Felswänden zurückgeworfen wurde, fast wie ein Knurren - vielleicht war es das ja auch; Bilbo und Thorin hatten keine Zeit, darauf eine Antwort zu finden.
Sie war krank. Und der Pfeil, der aus ihrer Brust ragte, saß zu tief als dass er sie hätte kalt lassen können. Der Drache, der gerade vor der Säule auf seine Beute wartete, war dem Tode geweiht. Dieses Rasseln in ihrem Atem, das war das Blut, das sich ihre Kehle emportastete, diese Schwäche in ihren Gliedern war die Müdigkeit vor dem Todesschlaf. Sie starb. Langsam, qualvoll. Und dieser Umstand verbot ihr, auf Zeit zu spielen, das wusste der Schwarzhaarige.
Der kleine Hobbit spürte, wie die warme linke Hand Thorins gegen seine Brust drückte und ihn sachte, aber dennoch dringlich hinter sich schob.
Tatsächlich war er sich nicht sicher, ob er das tat, weil er Angst hatte, dass Bilbo vor Furcht weglaufen würde, oder weil er Angst hatte, Bilbo könnte genau das Gegenteil tun und sich zu etwas Waghalsigem hinreißen lassen. Doch der Halbling blieb an seinem Platz.
Plötzlich wandelte sich ihr Atem, wurde ungleichmäßiger, schwächer, und kurz darauf vernahmen der Zwergenkönig und der Meisterdieb einen schmerzvollen Laut. Ihre Flügel krümmten sich gepeinigt, ihrer Kehle entfuhr ein grollendes Rumoren, stärker noch als vorher, und allein der Klang bereitete Bilbo und Thorin Schmerzen. Sie stirbt gerade, dachte Bilbo, doch aus irgendeinem Grund fühlte er bei diesem Gedanken nicht die Erleichterung, mit der er gerechnet hatte. Er fühlte etwas anderes, und noch wusste er nicht, um was es sich dabei handelte.
Für einen kurzen Moment dachte er, er hätte vor Schreck den schwarzen Pfeil fallen lassen, doch gleich darauf bemerkte er, dass es nur die Krallen der Bestie waren, die sich vor Schmerz krümmten, und dabei über den Boden schabten. Es klang wie Metall auf Stein. Als würde man ein Schwert schleifen, rief er sich Thorins Beschreibung ins Gedächtnis. Er hatte seine Worte damals noch nicht ernst genommen, jedenfalls nicht so ernst, wie er es hätten tun sollen.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als würde der Drache ins Taumeln geraten, doch der Schein trog. Die Feuerschlange schüttelte kurz ihren Kopf, schloss die Augen und öffnete sie wieder, als würde sie den rotschwarzen Schleier auf ihren Augen abwerfen wollen. Doch er blieb, und sie wusste, was das bedeutete.
Sie hievte sich erstaunlich leise mit all ihrer verbliebenen Kraft über den Gesteinsboden, und obwohl sie der Schmerz und ihr Gewicht nach unten zerrten, war ihr Wille stark genug, und es gelang ihr. Langsam, zwar, aber das spielte keine Rolle, nur wenige Meter trennten sie von ihrem Ziel.
Der Geruch von Blut drang an ihre Nüstern. Zwergenblut. Drachenblut.
Ihr eigenes, dickes Blut glitt in dünnen Rinnsalen an ihren glatten, bleichen Schuppen hinab und hinterließ eine langgezogene, tiefschwarze Spur auf dem Stein unter ihr. Das schwarze Metall des Pfeiles ragte zwar aus ihrer Brust, doch der größte Teil seiner beachtlichen Länge hatte sich tief in ihrem Fleisch versenkt. Sie wusste, dass ihr nur noch Minuten bleiben würden.
Doch sie war ein Drache. Und die vergangenen Jahre hatten sie Schmerzen gelehrt. Ihre Schwäche kostete sie mit jedem vorsichtig tastenden Schritt fast das Gleichgewicht, doch sie wollte nicht auf diese Art gehen. Nicht, bevor sie nicht wusste, was geschehen war.
Sie musste plötzlich an Smaug denken, und der Gedanke machte sie wütend. Getroffen von einem Winzling. Sie schnaubte und eine dichte Rauchwolke stieg aus ihren Nüstern empor, einzelne, orangegelbe Funken stoben auf und erloschen in der kalten, klammen Luft.
Sie konzentrierte sich auf die Dunkelheit, die ihr die Sicht vernebelte. Auf die rissige Säule, hinter der sich die zwei Schatten versteckten. Sie roch ihren Schweiß. Ihr Blut. Etwas, was sie schon lange nicht mehr gerochen hatte. Vertraut, in gewisser Weise. Der Geruch von Angst.
Sie spürte, wie ihr Atem schwächer wurde. Wie ihre Flügel schwerer wurden und es von Sekunde zu Sekunde immer schwerer wurde, ihren Kopf aufrecht zu halten. Ihre Augen loderten auf. Blau. Wie zwei Irrlichter im Nebel der Dunkelheit.
Sie sammelte ihre Kraft wieder, ignorierte das schmerzende Metall, das aus ihrer Brust ragte und ihr die Luft abschnürte. Donnernd und bebend erklang ihre Stimme ein zweites Mal in all den Jahren.
"Ich nehme an, du hast von mir gehört, Eichenschild."
Thorin erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde und Bilbo spürte, wie seine Hand bei dem Klang dieser hohlen Stimme zitterte. Der Schwarzhaarige zögerte mit einer Antwort und drehte panisch den Kopf in die Richtung seines Freundes. Bilbo schüttelte den Kopf, hastig und energisch, als er in den Augen seines Freundes das Vorhaben auflodern sah, den schützenden Schatten der Säule zu verlassen. "Bleib hier! Sie wird dich töten, wenn du dich ihr zeigst!" zischte er und fasste entschlossen nach seiner Hand, hielt sie, so fest er nur konnte. Die Augen des Zwergenkönigs veränderten sich. Ein letzter, entschuldigender Blick, dann riss er sich mit einem festen Ruck von der Hand des Halblings los, schnappte sich den Bogen, den sie in der Eile zu Boden hatten fallen lassen und verschwand hinter dem Rand der Säule in die Richtung des Drachen.
"Thorin! Nicht!" Ohne zu überlegen, dass von ihm im nächsten Moment nicht mehr als ein Häufchen Asche übrig sein könnte, trugen ihn seine Füße hinterher, den schwarzen Pfeil in seiner rechten Hand. Sein Atem stockte, als er in die feurigen Augen des Drachen blickte, vor denen sein Freund nun stehen geblieben war.
Was dachte er sich dabei? Er trug keine Rüstung mehr, vor wenigen Minuten wäre er aufgrund seiner Wunde fast zusammengebrochen... Er wird sterben. Er wird sterben, verdammt, und das nur, weil du seine Sturheit unterschätzt hast! schalte er sich, obwohl er wusste, dass er damit hätte rechnen müssen.
Thorin hatte das gewusst. Er hatte gewusst, dass der Halbling ihm folgen würde. Vorsichtig streckte er hinter seinem Rücken die Hand nach ihm aus, ohne seinen Blick von der Feuerschlange abzuwenden, und Bilbo antwortete durch einen leichten Händedruck. Er hörte, wie der Schwarzhaarige tief ein und wieder ausatmete, bevor er dem Drachen eine Antwort gab.
"Ja, ich habe von dir gehört, so wie du von mir. Und doch scheinst du mehr über mich zu wissen als ich von dir und deinesgleichen." Er hob seinen Blick ein Stückchen mehr, und im dämmrigen Licht schien es, als wäre seine Krone aus Schatten gefertigt.
In den Augen der Feuerschlange tanzte erneut dieses seltsame Feuer, das Bilbo so beunruhigend vertraut vorkam. Sie versuchte, Stärke zu zeigen, doch ihr Schauspiel misslang. Sie schien nicht so recht zu wissen, was sie von Thorin halten sollte, über das Ziel des Schwarzhaarigen war sie sich im Unklaren. Bilbo mittlerweile auch.
Thorin ließ, ungesehen von der Feuerschlange, die Hand hinter seinem Rücken los und wisperte zischend zu dem Halbling herunter. "Gib mir den Pfeil, Bilbo! Jetzt!" Der kleine Hobbit tat, wie ihm geheißen und legte zögernd das kalte, raue Stück Metall in die warmen Hände seines Freundes. Sie zitterten nicht, als der Drache erneut begann, zu sprechen.
"Sag mir, Eichenschild... Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?"
Der Angesprochene lachte bitter, hohl und heiser auf. "Ehre! Als wäre Ehre ein Wort, dessen Bedeutung du kennst! Würde dich der Grund unseres Kommens wirklich interessieren, dann hättest du nicht versucht, uns umzubringen!"
Die Feuerschlange hob den Kopf, und es gelang ihr nur unter Qualen. "Und würdet ihr wirklich meinen Tod wollen, weshalb riskiert ihr gerade euer Leben? Eure Schwerter werden euch nichts nützen und zu deinem Bogen fehlt dir der Pfeil."
Stur richtete Thorin seinen Blick auf den Pfeil in ihrer Brust. Sie starb, merkte sie das denn nicht? Thorin hatte sie schon getötet, sie ist schon tot. Sie schien es nur noch nicht akzeptieren zu wollen. Er senkte seine Stimme noch ein Stücken mehr, und gab mit grimmigem Ton Antwort. "Es gibt Fragen, deren Antworten wir suchen."
"Die Suche nach Antworten hat euch also zu mir geführt. Warum sagt ihr das nicht gleich?"
"Wer bist du, Schlange?"
Der Drache überlegte einige Sekunden, die Augen zu Schlitzen verengt und noch immer auf die beiden gerichtet. Der gehässige Ton in Thorins Stimme verärgerte sie. Geradezu beleidigt schüttelte sie den Kopf. "Schlange... was für ein hässliches, hässliches Wort... Sehe ich etwa aus wie eine Schlange?"
Bei den letzten Worten wandte sie den Blick von den beiden ab und richtete sich auf, bemüht, ihr Haupt oben zu halten und ihren Hals vor Qual nicht zu krümmen. Sie sah nicht aus wie eine Schlange, nein. Sie sah aus wie ein Geist. Boshaft war der Klang ihrer Stimme, hasserfüllt ihre Worte und brennend ihr hypnotisierender Blick. Man war in ihm gefangen, konnte sich nicht aus dem Bann lösen, egal wie stark der Wille dagegen ankämpfte. Ja, ihre Augen waren das schlimmste. Es waren bleiche, kalte Augen. Sie wirkten blind, in Nebel eingehüllt, weiß glänzend und doch so trüb und matt, als wären sie von Staub bedeckt.
Thorins Augen waren wässrig und brannten, denn dieser beschriebene Bann erlaubte es keinem von beiden, zu blinzeln, selbst wenn sie gewollt hätten. Er nahm all seine Kraft zusammen und drehte sich von ihr weg, verzog sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse, als hätte ihm eine Stichflamme die Haut versengt und schüttelte den Kopf. Dann drehte er sich wieder um, und Bilbo, der noch immer hinter seinem Rücken stand, konnte sehen, wie verkrampft er seine Finger um den schwarzen Pfeil legte, noch immer die Möglichkeit abwägend, ihn in die Sehne zu legen. Doch diese Chance hatte sich noch nicht ergeben, denn der Drache vor ihrer beider Augen, nun zu voller Größer aufgebäumt, hielt beide für unbewaffnet, und diesen entscheidenden Vorteil hieß es auszukosten. Der Überraschungseffekt wäre auf ihrer Seite.
"Wohlan, Winzling, du sprachst von Fragen. Stellt sie jetzt und lasst mich entscheiden, ob sie einer Antwort würdig sind."
Bilbo hörte, wie Thorin bei dem Wort "Winzling" knurrte und hoffte inständig, dass er nicht unbedacht handeln würde, denn Wut war - und das hatte er selbst lernen müssen - ein Auslöser von vielen, die aus einem Funken ein Feuer machen konnten. Aus einer Idee eine Tat. Ein Chaos, aus dem es trotz Reue kein Zurück mehr gibt.
Seine Sorge erwies sich als unbegründet und Thorin atmete langsam ein und wieder aus, um seinen Herzschlag zu beruhigen, dann erhob er seine Stimme. Und tatsächlich klang sie sicherer und ruhiger als zuvor.
"Wie... wie bist du hier hingekommen?"
Die Augen des Drachen weiteten sich um wenige Zentimeter, und als sie ihr Maul öffnete, zeigte sie eine Reihe gebleckter, spitzer, heller Zähne, geradezu amüsiert. "Interessant..."
Thorin verärgerte dieses Wort, da er schon fast mit einer erkenntnisbringenden Antwort gerechnet hatte, doch er presste die Zähne aufeinander und sprach. Seine Stimme war ruhig, zumindest jetzt noch, doch der Donner, der drohte auszubrechen, schimmerte hindurch und ließ seine Worte erbeben. "Interessant?" Er trat einen weiteren entschlossenen Schritt auf sie zu und Bilbo folgte ihm auf leisen Sohlen, doch als er sich neben ihn stellen wollte, hob Thorin den Arm und drängte ihn beschützend wieder hinter sich. "Interessant?!"
"Ja, das ist es. Dieselbe Frage wollte ich nämlich gerade euch stellen."
Jetzt wusste der Schwarzhaarige nicht mehr weiter. Sein Mund war leicht geöffnet, sein Arm hing schlaff an seiner Seite hinab, und Bilbo befürchtete schon, er würde den Bogen fallen lassen. Er hätte gerne etwas gesagt, aber die Stimme des Drachen hatte ihm den Atem genommen. Ihr Klang war scharf und verletzend, schnürte ihm die Kehle zu wie Gift. Doch dieses bedrückende Gefühl, das er spürte, wenn er sie anblickte, war noch immer stärker als die Furcht vor einem Tod im Feuer.
"Da ihr meine Gäste seid..." Sie ließ sich nicht davon irritieren, dass Thorin bei dem Wort "Gäste" gehässig auflachte, "... will ich euch zuerst die Antwort geben, nach der ihr so dringend sucht."
In den Drachenkörper, der zuvor starr und stolz vor ihren Augen gewartet hatte, kam Bewegung und sie wandte den Kopf ab, während sie über eine Antwort nachsann.
"Ich lebe länger hier, als deine Erinnerungen zurückreichen würden, und das in Frieden. Ja, ich hatte Frieden, bis die Zwerge kamen, ihre lächerlichen Statuen errichteten und das Silber meiner Höhlen ihr Eigen nannten. Sie kamen hier herunter, atmeten meine Luft und schlugen ihre Hallen in meinen Stein, doch ich tat nichts, um es zu verhindern,-" Thorin unterbrach sie.
"Du... du hast meinen Großvater in den Wahnsinn getrieben, Schlange! Nennst du das etwa nichts?" rief der Zwergenkönig, seine Stimme bebte und hatte sich zu einer Art von Fauchen verzerrt, das dem Halbling hinter ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Die Feuerschlange stieß eine kleine Rauchwolke durch ihre Nüstern und ein paar verirrte Funken stoben auf, wie ein aufgeschreckter Schwarm Glühwürmchen. "Du hältst dich für etwas besseres, Eichenschild, und weißt doch so wenig von der Welt wie ein Neugeborenes. Du suchst die Schuld bei dem Falschen."
Thorin schüttelte den Kopf, langsam und zornerfüllt, sein Blick wurde finster und er zischte die Worte zähneknirschend. "Rede weiter, ich bin sehr gespannt. Wer außer dir sollte sonst für sein Schicksal verantwortlich sein?!"
Es schien, als würde sie überlegen. Sie erstarrte für wenige Sekunden in ihrer Bewegung, hielt ihren Blick starr auf den Zwerg und den Hobbit gerichtet und begann schließlich, ruhig und nachdenklich zu sprechen. Ihre Worte klangen gefasster und ruhiger als die des Königs, und das beunruhigte Bilbo.
"Dir scheint nicht bewusst zu sein, was Gier in manchen Herzen auszulösen vermag. Gier... Weißt du überhaupt, was dieses Wort bedeutet? Ein unerschütterliches Streben nach mehr Reichtum, mehr Stärke, nach unverdienter Anerkennung. Du bist einen weiten Weg gekommen, Eichenschild, hattest sicher viele Hindernisse zu überwinden und viele Verluste zu betrauern, doch ein starker Wille und ein Kämpferherz vermögen dies hinzunehmen. Niemals jedoch vermagst du es, zu akzeptieren, dass das Böse auch auf der eigenen Seite lauert, dass es nur darauf wartet, herauszubrechen. Dass es bei deinem Großvater so weit gekommen ist, ist nicht mein Verdienst. Gier findest du nicht nur auf der Seite derjenigen, die du deine Gegner nennst, sie ist nicht nur dort. Sie vernebelte den Verstand deines Großvaters und auch in deinen Adern fließt dieses Blut. Du bist allein, Eichenschild, und wirst es bleiben, wenn du aus dem Geschehenen keine Lehre ziehst."
In der Halle herrschte Stille und Bilbo bemerkte, dass sein Mund offen stand. Dass diese Feuerschlange fähig war, ihm so aus der Seele zu sprechen, ließ seine Gedanken still stehen. Selbst Thorin schienen diese Worte zu verwundern und sie ließen ihn nicht unberührt.
Der Schwarzhaarige senkte den Blick und schluckte salzige Tränen hinunter. Er hatte bis jetzt gar nicht gemerkt, dass er angefangen hatte, zu weinen. Die Erinnerungen an die kalten, ausdruckslosen Augen seines Großvaters jagten ihm einen Schauer über den Rücken. Er fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht, ohne den Bogen loszulassen, der blutgetränkte Stoff hinterließ eine rote Spur auf seiner Stirn und Wange. Die Tränen brannten in seiner Kehle, doch er ignorierte den Schmerz und erhob seine bebende, verzerrte Stimme.
"Ich... ich bin nicht wie mein Großvater."
Die Feuerschlange antwortete, ihre Stimme war noch immer ruhig und bedacht. Als sie sprach, meinte Bilbo, den Hauch einer Emotion zu erkennen, die er niemals bei einem Wesen wie ihr vermutet hätte. Ihre Worte klangen aufrichtig. In gewissem Maße sogar mitfühlend. Er warf einen Blick auf das kalte Blau ihrer Augen, und zu seiner Überraschung waren sie nicht länger gehässig verengt, sondern wirkten klar und traurig wie zwei tiefe, glimmende Seen. Er ertappte sich, wie er sich die Frage stellte, ob so etwas überhaupt möglich war.
"Nun, es ist gut, dass du so etwas sagst. Es ist wirklich gut. Du willst nicht sein wie er es war, und das ist wichtig, das ist entscheidend. Du weißt, wie du sein willst, wer du sein willst. Dann beginne, dieses Ziel zu verwirklichen. Du kannst ein anderer sein, Thorin Eichenschild, noch ist Zeit."
Bilbo wurde das Gefühl nicht los, dass sich etwas in dem Wesen vor ihrer beider Augen geändert hatte. Oder, nein, nicht geändert. Vielmehr war etwas zum Vorschein gekommen, von dem er nicht wusste, dass es einer Feuerschlange eigen sein kann.
Thorin hatte das jedoch nicht erkannt.
Seine Augen waren vor Schmerz geschlossen. Vor seinem inneren Auge bildeten sich Erinnerungen ab, sich bewegende Bilder, umgeben vom Nebel vergangener Zeiten. Verblasst, schwach, grau.
Augen starrten ihn aus der Dunkelheit seiner Gedanken an. Ein vertrautes und zugleich völlig entfremdetes Paar blauer, flammender Augen. Die Augen seines Großvaters, verhüllt von einem dichten Tränenschleier. Er sah, wie die Wärme aus seinen Zügen verschwand. Konnte blass im Hintergrund die verzweifelten Rufe seines Vaters hören, die versuchten, zu ihm durchzudringen. Doch er sah, es war vergeblich. Sie wirkten tot. Brennend. Leer.
Wut stieg in ihm hoch. Sie war das. Egal, was sie sagt, sie trägt die Schuld an alledem.
Er öffnete die Augen und richtete sie mit so tödlichem Blick auf den Drachen vor ihnen, dass Bilbo fast meinte, das Feuer in seinem Blick würde herausbrechen und seine Haut versengen.
"Ich bin nicht wie mein Großvater."
"Das ist gut, Eichenschild. Das bedeutet, dass du-"
"Das bedeutet, dass ich anders handeln werde als er es damals tat. Er verschonte dich."
Seine Lippen, nass von Tränen und Blut, verzogen sich zu einem boshaften, siegesgewissem Lächeln, das nicht nach dem Schwarzhaarigen aussah, den Bilbo kennengelernt hatte. "Ich werde anders sein als er. Er zeigte dir Mitleid, ich werde dir Rache zeigen. Er zeigte dir Furcht, ich werde dir Stärke beweisen. Ich werde tun, wozu er nicht fähig war und diese Halle zu deinem Grab machen, so wahr ich hier stehe."
Die Augen des Drachen änderten sich.
Sie wirkten leer, fassungslos und enttäuscht, doch schon im nächsten Augenblick verdüsterte sich ihr Blick. Ein wütendes Knurren entfuhr ihrer Kehle und ihr Atem wurde schneller, wirkte fast nervös.
Einige Sekunden geschah nichts. Bilbo und Thorin warteten auf ihre Reaktion, der Halbling mit weniger siegesgewissen Gedanken als der Zwergenkönig. Dann rührte sich etwas in der Feuerschlange. In ihre rechte Klaue kam Bewegung, zornig und hasserfüllt versuchte sie, auszuholen, doch plötzlich erzitterte sie und schloss die feurigen Augen. Ihr Körper krümmte sich erbärmlich unter den Qualen der Wunde, aus der nun ein weiterer, dünner Schwall tiefschwarzer Flüssigkeit troff und mit einem unangenehmen Geräusch auf dem feuchten Stein zu ihren Füßen aufkam.
Sie stellte keine Gefahr mehr dar, das erkannte Bilbo, und plötzlich erkannte er, welches Gefühl ihn die ganze Zeit über gepeinigt hatte. Es war Mitleid gewesen. Er erschrak fast darüber. Aber er fühlte aufrichtiges Mitleid, als er sie sah. Hatte er einfach ein zu weiches Herz oder hatte sie dieses Mitleid tatsächlich verdient? Nun, er konnte es nicht sagen - was spielte das auch für eine Rolle. Bald würde alles vorbei sein.
Er fuhr zusammen, als er Thorin lachen hörte.
"Hast du noch letzte Worte, Schlange? Wenn ja, solltest du sie jetzt sprechen, denn deine Zeit läuft ab... ebenso wie meine Geduld."
Bei den letzten Worten legte er den bislang versteckten Pfeil in die Sehne, spannte den Bogen und richtete die gewundene Spitze des schwarzen Metalls direkt auf den Kopf des Drachen.
Der kleine Hobbit erschrak beinahe mehr als der Drache es tat und schnellte hinter seinem Rücken hervor, stellte sich zwischen den Schwarzhaarigen und die Feuerschlange. Wieso, das wusste er nicht. Es war wie eine Art Reflex, und er realisierte sein Handeln erst, als es schon passiert war.
"Geh mir aus dem Weg, Bilbo!" zischte Thorin hasserfüllt, doch der Angesprochene blieb an seinem Platz. "Verschwinde, Halbling, was denkst du, was du da tust?!"
"Nein, Thorin, bitte tu das nicht... Das bist nicht du", hörte sich Bilbo sagen. Seine Worte klangen traurig, flehend.
Die Feuerschlange, die durch die Qualen der tödlichen Verletzung nun mehr lag als aufrecht stand, öffnete die Augen, die sie in Erwartung des Tod bringenden Pfeils geschlossen hatte und blickte das kleine Geschöpf an, das nun zwischen ihr und dem König stand. Sie stöhnte ein weiteres Mal auf, denn das Metall in ihrer Brust brannte so stark, dass es ihr fast die Sinne raubte.
Bilbo blickte sich um, denn er stand mit dem Rücken zu ihr, und wandte sich daraufhin wieder Thorin zu. "Kannst du das wirklich, Thorin? Sie ist keine Gefahr mehr für uns. Sie... sie stirbt, sieh sie dir doch einmal an."
Der Zwergenkönig überlegte kurz, was genau der Halbling damit erreichen wollte, auch wenn es für ihn fast auf der Hand lag. Die Feuerschlange quälte sich, doch er wollte sie nicht töten, um ihren Leiden ein Ende zu bereiten, er wollte sie töten, weil er es begehrte. Weil er sie hinrichten musste für das, was sie getan hatte. Er begann, zu knurren. Der Halbling stand ihm im Weg, also fasste er schließlich einen Entschluss.
Der Schwarzhaarige festigte seinen Griff und richtete die Pfeilspitze nun auf Bilbo, der daraufhin erschrocken zusammenfuhr und seine Hände zu einer beschwichtigenden Geste hob.
"T-thorin?"
"Du wirst es nicht wagen, mir meine Rache zu nehmen. Das hier geht dich nichts an. Diese Bestie dort hat meinen Großvater in den Wahnsinn getrieben und sie wird mit ihrem Leben dafür zahlen."
Bilbo schüttelte fassungslos den Kopf und es bedurfte all seiner Mühe, seine Stimme ruhig zu halten, denn hätte er seinen Emotionen freien Lauf gelassen, so wäre sie vermutlich hoch und gebrochen. "Das, was du da in den Händen hältst, ist kein Gnadenpfeil. Sie... sie ist unschuldig, könntest du es über dein Herz bringen, ein unschuldiges Wesen zu töten?"
"Unschuldig? Du... du glaubst ihr? Sie hat versucht, uns zu töten, Bilbo! Öffne deine Augen!"
"Sie hat uns aber nicht getötet. Sie hat auch deinen Großvater nicht getötet, sie hat all die Jahre in diesem Berg gelebt, und dabei zugesehen, wie deine Ahnen ihn an sich nahmen. Und was hat sie getan? Nichts! Und weißt du auch, warum?" Er drehte sich wieder zu der Feuerschlange um und in seinem Blick lag etwas trauriges, wehmütiges. "Ich denke, weil sie anders ist als... als Smaug."
Als er diesen Namen nannte, sah es so aus, als versuchte die Feuerschlange, etwas zu sagen, doch der Versuch ging in einem schmerzerfüllten Stöhnen unter und sie beließ es dabei. Bilbo drehte sich wieder um zu Thorin, der in seiner Rage nun weitaus bedrohlicher wirkte als der Drache selbst.
"Sei kein Narr, Halbling. Sie ist ein Drache."
"Sie hatte so oft die Chance, sich zu verteidigen, es wäre ein Leichtes für sie gewesen, deine Vorfahren zu töten, doch sie tat es nicht. Verzeih, aber in diesem Moment traue ich ihr mehr als dir..."
"Geh mir aus den Augen, Halbling." Seine Stimme war dringlich und erduldete keinen Widerspruch. Bilbo zitterte. Dieser Blick, diese Stimme, dieser Hass in seinen Worten. Der Zwerg vor seinen Augen war nicht mehr Thorin.
"Ich sagte..." Der Schwarzhaarige löste einen Finger von der Sehne und hielt den Pfeil nur noch mit zweien. "... Geh mir aus den Augen. Sonst..."
Er senkte die gewundene Spitze des schwarzen Metalls auf Bilbos Kopf. Würde er jetzt schießen, so wäre der Hobbit augenblicklich tot.
Es entstand eine kleine Pause, und die Welt um Bilbo verschwand im Nichts, und in der Halle wurde es ruhig. Alles, was er wahrnahm, war sein eigener panischer Herzschlag, sein zitternder Atem... und die Pfeilspitze, die auf seine Stirn gerichtet war.
"Verschwinde."
Bilbo rann eine Träne die Wange hinab. So oft hatte er diese Stimme nun schon hören müssen, doch selten war der Hass, der in ihr lag, so schmerzhaft und verletzend gewesen. Er ignorierte die schmerzerfüllten Laute des sterbenden Drachen hinter seinem Rücken und richtete den Blick nach unten, schloss schließlich die Augen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Die Tränen, die nun seine Wangen hinabrannen, fühlten sich schwer an wie flüssiges Blei, und schienen sich in seine Haut zu fressen. Allmählich meinte er, zu begreifen, dass sich Thorin nicht mehr ändern würde. Er hatte versucht, ihm zu helfen, und er war gescheitert.
"Dann schieß doch..." flüsterte er, zitternd durch all die Tränen. Seine Stimme klang hoch und schwankte, er schluckte die brennende Flüssigkeit herunter und öffnete schließlich die geröteten, glasigen Augen.
"Wie bitte?" Thorin war sich nicht sicher, richtig gehört zu haben, sein Blick wirkte nicht weniger zornig, aber fassungsloser denn je.
"Schieß, Thorin." sagte Bilbo, dieses Mal laut. "Erschieß mich. Ich will nicht länger leben, wenn du diese Maske nicht mehr absetzen kannst. Ich will nicht länger mit ansehen, wie du dich quälst. Vielleicht würde dir mein Tod die Augen öffnen und ich bin gewillt, diesen Preis zu zahlen, wenn du dafür wieder du selbst werden kannst. Ich bin gespannt, ob du es wagst. Ob du mich wirklich erschießen kannst oder ob diese Drohung genauso hohl und unehrlich ist wie all die Worte, die in den letzten Wochen deine Lippen verlassen haben."
Thorin entgegnete nichts, und vielleicht, vielleicht war das auch gut so. Es vergingen Sekunden um Sekunden und die beiden lieferten sich ein stummes Blickduell, dem Bilbo kaum standhalten konnte. Irgendwann war ihm dieses blaue Feuer in den Augen seines Gegenübers genug, er schloss die Augen wieder und vergrub sein Gesicht erneut in den Händen. Ja, er rechnete sogar fast damit, dass Thorin die Sehne wirklich loslassen würde.
Doch das tat er nicht.
Bilbos Worte hatten seinen Zorn nicht schmälern können. Noch nicht. Er nahm den Pfeil aus der Sehne, holte aus und trat dem Hobbit hasserfüllt gegen das Schienbein, sodass seine Beine umknickten und er sich auf dem nasskalten Boden wiederfand. Und dort blieb er. Denn er wagte es nicht, sich aufzurichten.
Thorins Weg war nun frei. Er überwand die restlichen Meter, die ihn von der Feuerschlange trennten und blieb direkt vor ihrem gigantischen Haupt stehen, denn der Kopf war ihr in der Zwischenzeit schwer geworden und nun lag sie sterbend, von Schmerz und schwallartigen Blutergüssen gequält, auf dem Boden, ihr Blick wirkte bereits abwesend und in eine andere Welt übergetreten, auch die schmerzerfüllten Laute waren abgeklungen, denn sie schien die Qualen nur noch stoßweise zu spüren.
Langsam ließ er die Pfeilspitze nach oben wandern, bis sie schließlich auf die Stirn des Drachen gerichtet war. Dort verharrte sie ungewöhnlich lange.
"Ich frage dich noch einmal. Hast du letzte Worte?"
Ihre Augen weiteten sich, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass Thorin mit der Hinrichtung zögern würde. Doch als ihr nun die Möglichkeit geboten wurde, zu sprechen, tat sie es.
"Erzähl mir, was geschehen ist", krächzte sie, und wider Erwarten klang ihre Stimme stärker als der Schwarzhaarige vermutet hatte.
Skeptisch musterte er ihren trüben Blick. "Was geschehen ist?"
"Smaug. Erzähl mir, was mit ihm geschehen ist."
Als Bilbo diesen Namen hörte, hielt er inne und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, schluckte und drehte den Kopf schließlich in die Richtung, in der sich der Schwarzhaarige und der Drache befanden. Den stechenden Schmerz in seinem Bein ignorierte er.
Der Klang ihrer Stimme tat ihm weh, aber auf eine Art, die ihn erschreckte. Hatte sie denn keine Ahnung, was vor vielen Monaten geschehen war? Nein, das hatte sie nicht, und das wurde ihm erst jetzt wirklich bewusst. Dass sie die ganze Zeit in quälender Ungewissheit hier unten im Schatten ausgeharrt hatte, nicht wissend, was aus dem Vater ihrer Kinder geworden war. Und ihre Kinder... Was ist mit denen? Weiß sie überhaupt, dass sie nicht mehr am Leben sind? Und was hatte sie dazu getrieben, ein Leben im Schatten zu führen, wenn sie doch ans Licht hätte kommen können? Hatte sie sich gefürchtet? Sie, ein Drache? Es überraschte Bilbo, wie viel Furcht er zuvor vor diesem erbärmlichen Geschöpf gespürt hatte und wie schnell daraus ein brennendes Mitgefühl geworden war.
Denn dass Drachen Gefühle haben, war etwas Neues für ihn, etwas, was ihm Hoffnung gab, etwas, was ihn zu stärken schien. Aber stimmte das wirklich? Oder war Bilbo einfach zu leichtgläubig? Er ignorierte seinen inneren Konflikt und rappelte sich auf. Dreimal atmete er ein und wieder aus, zitternd, ehe er es wagte, einen Schritt auf Thorin und die Feuerschlange zuzugehen.
Thorin hatte noch nicht geantwortet. Bilbo war sich nicht sicher, weshalb, doch irgendetwas sagte ihm, dass das vielleicht gar nicht so schlecht war. Wie würde sie reagieren, wenn sie erfahren würde, was aus Smaug geworden war? Denn obwohl sie es offenkundig schon ahnte - sie war immer noch ein Drache.
Dass ihr Tod bevorstand, sah man ihr auf den ersten Blick an. Und dennoch schien in ihren Augen ein Feuer zu brennen, das lebendiger wirkte als sonst. Bilbo wusste, dass man dieses Feuer Hoffnung nannte.
"Hast... du ihn geliebt?" Bilbo hätte sich fast die Hände vor den Mund geschlagen, als er erkannte, dass diese Worte aus seinem Mund gekommen waren. Es war vielmehr ein Gedanke gewesen, doch sein verwirrter Verstand hatte ihn diesen Gedanken laut aussprechen lassen.
Thorin drehte sich abrupt um, als hätte er vergessen, dass der kleine Hobbit noch immer in der Halle war, und durchbohrte ihn mit einem Blick, der vernichtender wirkte als Drachenfeuer.
"Du willst dich mit ihr unterhalten?" Seine Stimme wirkte weniger hasserfüllt, eher skeptisch. Und dennoch klangen die Worte nicht nach ihm.
"Sie hat ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, oder nicht?" flüsterte Bilbo und mied dabei den Blickkontakt mit Thorin. Seine Augen waren noch immer gerötet und fühlten sich müde an, und auch der salzige Geschmack in seinem Mund war noch nicht verschwunden.
"Sie hat jeglichen Anspruch darauf verwirkt. Ich sollte schießen und es dabei belassen."
Bilbo schüttelte nur den Kopf und trat einen Schritt auf den Drachen zu. Ihm wurde schwummrig bei den gigantischen Ausmaßen ihres Kopfes, doch er versuchte, sich davon nicht verängstigen zu lassen und räusperte sich, inständig hoffend, dass er sich in ihr nicht getäuscht hatte.
"Ich bitte dich um Verzeihung." Er war sich nicht sicher, ob das die richtige Herangehensweise war. Er hatte schon einmal mit einem Drachen gesprochen, nur war der fast zweimal so groß und quicklebendig gewesen. Er hielt inne und blickte ihr in die Augen, als wollte er überprüfen, ob sie noch unter ihnen weilte.
Er war ihr jetzt genau so nahe, wie er es an diesem Tag schon einmal gewesen war. Als er ihre Schuppen berührt und Thorin seine Hand neben die seine gelegt hatte. Da hatte er noch geglaubt, sie wäre tot. Nun - sie war tot. So gut wie. Das hier war anders als das erste Mal, es war wie Abschied von jemandem zu nehmen, den man nicht einmal kennt. Und die Angst, die ihn zuvor fast um den Verstand gebracht hatte, die spürte er nun nicht mehr. Sie hatte Angst gehabt. Sie hatte den Tod von ihm und Thorin in Kauf genommen, ja. Aber dieses Gespräch hatte irgendetwas verändert.
Nun, sie lebte noch. Bilbo gab sich einen Ruck und senkte den Kopf. "Smaug hat schreckliche Dinge getan. Er hat Thorin Eichenschild, seiner Familie und seinem Volk die Heimat gestohlen. Viele... haben dabei ihr Leben gelassen." Er schluckte. "Wir... wir dachten, du wüsstest es bereits, aber... Smaug hat vor einigen Monaten für seine Verbrechen bezahlt. Als er die Menschen der Seestadt angriff, wurde er von einem schwarzen Pfeil getroffen. Er versank im Langen See. Und liegt bis heute dort."
Er blinzelte und sah, dass der Blick des Drachen nun starr geradeaus gerichtet war. Sie schien nicht schockiert, nicht sonderlich überrascht. Und dennoch wirkte es so, als sei etwas in ihr zerbrochen, das zuvor noch ganz gewesen war.
Nach einigen Sekunden des Schweigens sprach sie wieder. "Ich hatte es bereits geahnt." Mehr sagte sie nicht.
Sie blickte nun wieder Bilbo in die Augen und fast wäre er zurückgewichen, denn ihr leuchtender Blick war so angsteinflößend wie eh und je. Ihre Augen glitten weiter zu Thorin, der inzwischen mehr verwirrt als angriffslustig wirkte und es langsam leid wurde, den Bogen gespannt zu halten.
"Was ist mit meinen Kindern?"
"Sie sind genauso tot, wie du es in wenigen Augenblicken sein wirst!" entfuhr es dem Schwarzhaarigen mit zischender, gehässiger Stimme.
Und als Thorin das sagte, weiteten sich ihre Augen.
"Das hättest du nicht sagen dürfen, Thorin..." flüsterte Bilbo und stolperte unbeholfen drei Schritte rückwärts, als er erkannte, wie ein zorniger Schatten in den Blick der Feuerschlange stieg und sie begann, sich zu regen.
Was der Schwarzhaarige mit seinen Worten angerichtet hatte, wurde ihm erst bewusst, als es schon fast zu spät war.
Der Kehle des Drachen entfuhr ein tiefes, langgezogenes Knurren, als sie auf den Zwergenkönig hinabsah. Ihre Zähne knirschten, schwarzer Rauch stieg aus ihren Nüstern empor, rote Funken stoben auf, tanzten durch die Luft wie kleine glimmende Federn und erloschen nach wenigen Sekunden. Auf einmal begannen ihre bleichen Schuppen zu glühen, und Bilbo konnte sehen, wie sich plötzlich ein bedrohlich rotes Leuchten ihre lange Kehle emportastete, und er wusste, dass das kein gutes Zeichen war.
Das Feuer blieb ihr sprichwörtlich im Halse stecken.
Thorin, der bis zu diesem Zeitpunkt wie angewurzelt auf die Drachenmutter gezielt hatte, ließ die gespannte Sehne los, doch... der schwarze Pfeil verfehlte sein Ziel.
Anstatt des Kopfes wurde ihr langer, lodernder Hals von dem spitzen, scharfen Metall durchbohrt. Blut spritzte, Funken wirbelten durch die Luft und erloschen, ein langgezogenes Stöhnen entfuhr ihrer Kehle, doch dieses Mal wirkte es nicht mehr natürlich.
Die Laute waren erbärmlich, schmerzvoll. Gurgelnd, rasselnd, nass durch das schwarze Blut, das in schwallartigen Ergüssen die neue Wunde verließ.
Einen kurzen Moment blieb Bilbo so stehen, sah zu wie der Drache langsam und qualvoll an seinem eigenen Blut zu ersticken drohte, bis er den Anblick nicht mehr ertragen konnte.
Ohne ein weiteres Wort und mit Tränen in den Augen drehte er sich um und rannte in die Richtung des versperrten Tores, ließ Thorin und den sterbenden Drachen hinter sich, hörte, wie die Geräusche leiser und kratzender wurden. Er spürte nichts als Trauer und Enttäuschung. Nichts.
Wenn wir wieder oben sind, gehe ich.
Ich kann das nicht mehr. Ich will einfach nur noch nach Hause...
Ich war dumm, zu glauben, das hier könnte meine Heimat werden.
Sein Gedankengang und seine Schritte wurden unterbrochen, als er Thorin schreien hörte.
Bilbo gefror das Blut in den Adern, denn der Schrei klang schmerzerfüllt und grausam, und dieser Laut zwang ihn dazu, den Kopf zu drehen. Seine Augen weiteten sich, als er realisierte, was geschehen sein musste. Ohne, dass er etwas dagegen machen konnte, trugen ihn seine erschöpften Beine zurück.
Der Schwarzhaarige hatte sich die Krone vom Haupt gerissen und hielt seine rechte Gesichtshälfte mit beiden Händen bedeckt, während er schmerzvoll aufstöhnend von dem Körper der Feuerschlange weghumpelte, aus der nun vollends das Leben gewichen war.
Der Drache war tot.
"Thorin!" Bilbo rannte auf ihn zu, jegliche Vernunft vergessend, und als er ihn erreicht hatte, hätte er beinahe selbst geschrien.
Er konnte nicht sehen, was genau geschehen war, doch auf Thorins Händen, auf seinem Gesicht und seiner Kleidung konnte er tiefrote Stellen erkennen, und das verriet ihm alles, was er zu diesem Zeitpunkt wissen musste.
Er legte dem Schwarzhaarigen beiden Hände auf die Schultern und hielt ihn fest, aus Angst, er könnte das Gleichgewicht verlieren. Thorin nahm die Stütze an, ihm blieb keine Wahl. Gemeinsam humpelten sie einige Schritte weiter in Richtung des zugeschütteten Tores, bis sie so weit gekommen waren, dass der trostlose Leichnam der Drachenmutter nur ein bleicher, weit entfernter Punkt in der tiefen Finsternis war und sie den unnatürlichen See hinter sich gelassen hatten.
Thorin entfuhr ein weiteres Stöhnen, und nun machte sich der Halbling ernsthafte Sorgen.
"Was ist passiert?" fragte er mit bebender Stimme, und sie überschlug sich, da er das Atmen vergessen hatte.
Er kramte ohne ein weiteres Wort das Tuch aus seiner Tasche und wollte es dem Zwergenkönig reichen, doch als er mit den Hand kurz vor seinem Gesicht angekommen war, wandte er sich ab, als wollte er nicht von Bilbo berührt werden.
"Thorin, zeig es mir, bitte! Ich kann dir nicht helfen, wenn du es mir nicht zeigst!"
"Ich will deine Hilfe nicht!" knurrte er, das Gesicht noch immer abgewandt und die Hände noch immer auf die Stelle pressend, aus der das frische Blut strömte.
Bilbo war fassungslos. "Dieses Gespräch haben wir schon einmal geführt, Thorin Eichenschild!"
Er wollte einfach nur noch weg von hier. Vielleicht lag das alles ja an ihm. Er dachte, seine Anwesenheit würde ihm helfen, mit dieser Krankheit fertig zu werden, doch es war fast, als hätte sich nun alles nur noch verschlimmert. Innerlich fasste er den Entschluss. Ich werde gehen. Ich werde diesen dummen, sturen Zwerg mit seinen Bergen von Gold und Silber alleine lassen.
Ein Geräusch aus der Dunkelheit ließ ihn zusammenfahren.
Es kam nicht aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern aus der, die sie anstrebten. Thorin schien es noch nicht bemerkt zu haben, denn er hatte sich noch immer weggedreht, presste sich die Handflächen auf das Gesicht. Seinen blutroten Lippen entfuhr in einem schwachen Rhythmus ein schmerzvolles, leises Stöhnen. Fast klang es wie ein Schluchzen.
Das Geräusch wurde lauter.
Plötzlich war da ein Schleifen, als würde man etwas Schweres über eine raue Ebene schieben oder ziehen. Er schluckte, als er realisierte, was dieses Geräusch auslöste. Ein letztes, dröhnendes Krachen und die Geräusche verstummten.
Bilbo griff Thorin am Ärmel und zog ihn in die Richtung, aus der er die Laute vermutete. Hoffnung stieg in ihm auf, und als er kurz darauf rote Lichter sah, wurde aus dieser Hoffnung eine erleichternde Gewissheit.
Der Schwarzhaarige, der seit dem letzten donnernden Geräusch mit dem Schluchzen aufgehört hatte, folgte dem Halbling, doch im Gegensatz zu ihm musste er blind durch die Dunkelheit irren, denn er wagte es nicht, seine Augen zu öffnen. Weshalb, das sollte Bilbo später erfahren.
"Hallo? Hallo!"
"Hörst du das? Das war Fili!" Bilbo fiel ein Stein vom Herzen, als er diesen vertrauten Klang vernahm, und schon bald mischten sich auch andere vertraute Stimmen darunter, die ihre Namen riefen. Den Zwergen war es gelungen, das Tor freizulegen.
Was Thorin dachte, das konnte Bilbo nicht sagen, und er musste ehrlich sagen, dass es ihn in diesem Moment recht wenig scherte, denn so langsam wurde er es leid.
"Hier sind wir!" rief er, denn der Schwarzhaarige war zu keinen Worten fähig.
Er blieb stehen, denn ihm wurde plötzlich bewusst, wie viel seine armen Beine am heutigen Tag gelaufen waren und wie sehr seine Fußsohlen brannten. Innerlich lächelte er müde, als er sah, wie sich die roten Lichter näherten und größer wurden. Doch von außen betrachtet blieb seine Miene ernst und enttäuscht.
Er hörte von ferne Lachen, freudige Rufe, und er hätte gerne mit ihnen gelacht, doch er konnte es nicht. Sein Gesicht blieb emotionslos, als sei ihm die Rettung gleichgültig. Sie mochten überlebt haben, ja. Doch am heutigen Tag hatte er seinen Glauben an ein gutes Ende verloren.
Bevor die Zwerge, die nun freudig auf sie zustürmten, die beiden erreichten, wandte sich Bilbo Thorin zu. Es war das letzte Mal an diesem Tag. Er versuchte, die blutende Gesichtshälfte zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was er vorhatte, zu sagen.
"Ich wollte, dass du es als Erster weißt, trotz allem. Ich..." Er stockte kurz. "Ich werde gehen, Thorin. Morgen werde ich den Einsamen Berg verlassen. Es ist besser so, denke ich."
Er drehte sich kurz weg, als er erkannte, dass ihn diese Worte trauriger machten, als er angenommen hatte. Mit Tränen in den Augen schüttelte er den Kopf und plötzlich wurde er wütend.
Ja, er war so wütend. So wütend, verletzt und enttäuscht. Ohne weiter nachzudenken blickte er Thorin an, nicht in die Augen, denn der Schwarzhaarige hatte den Blick noch immer abgewandt und sein blutendes Gesicht in den Händen vergraben.
"Ich bin so enttäuscht von dir, Thorin... Du hast sie verdammt nochmal glauben lassen, du hättest ihre Kinder getötet! Sie... sie waren ihr das Wichtigste im Leben! Wie hättest du denn reagiert, wenn man dir den Sinn deines Lebens raubt, dir diejenigen nimmt, die dir am meisten bedeuten?! Aber nein, ich vergaß, du bist ja lieber allein! Du hast ja niemanden, den du vermissen würdest, den du an dich heranlässt! Du bist kalt, Thorin, eiskalt!"
Er realisierte, dass er angefangen hatte, ziemlich laut zu werden, und wartete mit hochrotem Kopf auf eine Reaktion des Schwarzhaarigen.
Als er nach endlos scheinenden Sekunden noch immer keine Antwort erhalten hatte, stieß er tonlos Luft aus und ließ den Zwergenkönig allein zurück, während er sich den Fackeln näherte, die auf sie zugerannt kamen.
Hätte er sich umgedreht, so hätte er gesehen, dass sich unter das rote Blut auf Thorins Wangen Tränen gemischt hatten. Seine Hände waren nach unten gesunken und hingen nun schlaff und willenlos an seiner Seite.
Er stand dort und sah dem Halbling mit schmerzverzerrtem und tränennassem Gesicht nach, nicht fähig, sich zu rühren oder etwas zu sagen.
Denn er wusste, er hatte alles kaputt gemacht. Hatte alles zerstört.
Es würde nichts mehr sein wie zuvor.
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That's it, my friends.
Das ist das Ende dieses Buches.
Bilbo geht zurück ins Auenland, Thorin bleibt wo er ist und treibt die anderen mit seiner Krankheit in den Wahnsinn.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann... dann leiden sie noch heute.
~The End~
Cool, oder?
Okay, nee, im Ernst. Ihr seid mich und meine Story noch lange nicht los... *lacht diabolisch* Sorry.
Und hey - über 5500 Reads? Und über 560 Votes? Ihr seid ja mal so was von genial! Das Buch hat eher als so ne Art netter Zeitvertreib angefangen, und ich war anfangs überrascht, dass die Rückmeldungen zum größten Teil positiv ausgefallen sind (bin ich zugegeben auch jetzt noch). Die Tatsache, dass es tatsächlich Leute gibt, die diese Story aktiv mitverfolgen ist irgendwie ein wahnsinnig schönes Gefühl, womit ich am Anfang gar nicht gerechnet hatte. Fühlt euch gedrückt. Fest gedrückt.
Ein fettes HANNON LE an jeden von euch!
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