Gerechtigkeit

Die von Wolken verdeckte Morgensonne sandte einen kleinen, dünnen Strahl durch das halb geschlossene Küchenfenster und enthüllte die schemenhaften Umrisse umgekippter Stühle und zerbrochener Schalen, die über den Boden verstreut lagen. Staub und Asche wirbelte in kleinen, bläulich schimmernden Wolken durch die kalte, rußige Luft.

Der Raum sah genau so aus, wie man ihn sich vorstellt, nachdem zwei junge Drachen in ihrem Hungerwahn dem Duft nach einem vielversprechenden Mahl gefolgt waren und nach einer langen, langen Suche zwischen Töpfen, Schüsseln und Geschirr auf etwas Erfreuliches gestoßen waren. Wie es schien, hatten sie nicht einen Schrank und nicht eine Tür ausgelassen, und der Farbe des Küchenbodens nach zu urteilen hatten sie es nicht einmal versäumt, ein ausgiebiges Bad in der Asche des offen stehenden Ofens zu nehmen, die vom vorherigen Tag noch warm gewesen war.

Fili stand nahe der Tür und starrte in die Ecke des dunklen Zimmers.

Würde man Smaug auf die Größe eines Schäferhundes schrumpfen, die Proportionen in Kopf, Gliedmaßen und Flügeln verändern und seinen Zügen mehr Sanftheit verleihen; man hätte ein ähnliches Bild wie das, was sich Fili in diesem Augenblick bot.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte.
Sie wirkten nicht gefährlicher als zwei schlafende Welpen.

Ihre Schuppen glänzten matt im dämmrigen Licht, und sie wirkten nicht wie ein Panzer, nicht so, als würden sie diese unschuldigen, kleinen Geschöpfe in irgendeiner Weise schützen können. Eingerollt wie zwei müde Katzen lagen sie in einer kleinen Kuhle, die sie in die erkaltende Asche gescharrt hatten, ineinander verschlungen, ihre kleinen, spitzen Schnauzen unter ihre dünnen, schwachen Arme gesteckt, die Flügel ungeöffnet und starr an ihre zierlichen Körper gelegt, die sich in kurzen, säuselnden Atemzügen hoben und senkten. 

Die Schuppen des einen glichen denen seines Vaters, die des anderen waren heller, blasser, vielleicht ein wenig rosa; das Licht war zu schwach, als dass Fili es mit Gewissheit hätte sagen können.

Er legte den Kopf schief, und gab Acht, seinen Atem ruhig zu halten, wagte es nicht, sich zu bewegen, denn auf irgendeine Weise berührte ihn der Anblick dieser beiden Kreaturen, und es erschien ihm als ein Verbrechen, sie unbedacht zu wecken. Seine Mundwinkel zuckten, während er sie betrachtete. Und als er lächelte, fühlte es sich schmerzhaft falsch an.

Ein Blitz zuckte über den hellgrauen, wolkenverhangenen Himmel, und Fili schloss die Augen, bis der das Donnern vernahm. Das leise tap-tap-tap des Regens, der durch den kleinen, offen stehenden Spalt des Küchenfensters auf den nackten, schwarz gefärbten Boden tropfte, wurde mit einem Mal stärker und übertönte bald das schwache, säuselnde Atmen der beiden schlafenden Jungen. Er war gewollt, zum Fenster zu laufen, um es zu schließen, doch irgendetwas hielt ihn dort, wo er war, und irgendetwas in ihm weigerte sich, sich dagegen zu wehren. Er vernahm ein weiteres Geräusch, und als er es zuordnen konnte, wusste er nicht, ob er beunruhigt oder erleichtert sein sollte.
Es waren die Schritte der anderen, die den Gang entlangeilten.

Hätte er sich nun dazu überwunden, seinen Platz zu verlassen und einen Blick auf das zu werfen, was jenseits der Türschwelle lag, er hätte keinen Gefallen daran gefunden. Doch er brauchte nur die Stimme seines Onkels zu hören, um zu begreifen, dass dieser Tag ein schlechter werden würde, wenn nicht sogar ein schwarzer. Stumm schloss er die Augen, schluckte, sah durch die Lider, wie ein Blitz den Raum erhellte und lauschte den sich nähernden Schritten, bis sie so nahe waren, dass er gezwungen war, sie wieder zu öffnen.

Ein langgezogenes, stöhnendes Donnern brachte die Luft zum Schwingen, als Thorin über die Schwelle trat. Sein Haar wirkte dunkler und matter, und durch das schwache, bläuliche Licht trat seine Narbe deutlicher hervor als vorhin im warmen Licht der Fackeln. Ein seltsamer Glanz durchzog seine Augen, und als er sie auf Fili richtete, war ihm, als würde ihm jemand mit kalten, gierigen Händen an die Kehle greifen. 

Er nickte in die Richtung der beiden Schlafenden, als wäre es ein natürlicher Reflex. Er wollte etwas sagen, doch er konnte nicht. Zu seiner Überraschung folgte Thorin seinem Blick nicht, sondern sah über die Schulter zu den anderen, die nun hinter ihm im Türrahmen standen, streckte seine rechte Hand aus, und sprach mit einer Stimme, die unschöne Erinnerungen an eine Zeit emportrug, die noch nicht allzu lang verstrichen war. 

"Habt ihr mein Schwert geholt, wie ich es euch befohlen habe?" 

Bilbo, der direkt hinter ihm stand, sah erst zu Fili, dann zu der dunklen Silhouette seines Freundes und schließlich zu den anderen hinter ihm. Er erschrak, als er den Griff von Orkrist in ihren Händen erkannte, der aus der geschwungenen Scheide ragte. "Ihr habt seinen Befehl doch nicht etwa befolgt?" zischte er, doch der Klang eines Gewitters ist nun einmal stärker als das Flüstern eines Halblings, und seine Worte blieben ungehört. 

"Gebt es mir", sagte Thorin trocken und betont, als er merkte, dass sie zögerten. "Gebt es mir!"
Er wurde des Wartens müde, trat auf sie zu und entriss es ihnen, zog es aus der Scheide und wandte es in der Hand, um die geschwungene Klinge zu mustern. Sie glänzte so scharf und glatt wie eh und je, fast wie ein Spiegel, doch der Glanz in den Augen des Schwarzhaarigen war bei weitem der stärkere. Er ließ die Scheide zu Boden fallen, und schließlich, zum ersten Mal, ließ er seinen Blick langsam und bedeutsam in die dunkle, vom fahlen Licht verschonte Ecke des Raumes gleiten. 

Sie sahen nicht, was in ihm vorging, während er sie betrachtete, denn er stand nun mit dem Rücken zu ihnen, und sie konnten nur beobachten, wie sich seine rechte Hand am Griff des Schwertes verkrampfte.
Langsam, vielleicht war es aus Vorsicht, umschloss er den Griff nun auch mit den Fingern seiner linken Hand. Ein weiterer Blitz erfüllte das Zimmer. Ein weiteres Donnern erklang. 

"Aber du kannst doch nicht-" begann einer der Zwerge, Bilbo erkannte die Stimme nicht, denn er war zu fokussiert auf das, was vor ihm lag. 

Thorin unterbrach ihn in einem zischenden Ton, ohne den Blick von den schlafenden Geschöpfen abzuwenden. "Tut nicht so, als würde es euch nahegehen. Ihr wisst, wer sie sind. Ihr wisst, dass ich es tun muss." 

Es war der Moment, in dem sich Bilbo dafür entschied, etwas Unüberlegtes zu tun, da es sonst niemand tat - er schnellte einen Schritt nach vorn und versperrte Thorin den Weg. Ein Blick in seine fremden Augen genügte, und Bilbo begriff, dass dieser Schritt nicht das weiseste war, was er jemals getan hatte. Doch weise oder nicht, dieser Schritt fühlte sich richtig an. 

"Tu das nicht, Bilbo, du weißt, wie das enden wird", sagte der Schwarzhaarige mit einer Stimme, die keinen Widerspruch erduldete, und die verriet, dass er diese Reaktion erwartet hatte.

Bilbo schüttelte den Kopf und sah ihm in die Augen, als suchte er nach etwas, was ihm vertraut vorkam, doch er wurde nicht fündig. Sein Atem stockte, als er sprach. "Es sind Waisen. Die unschuldigsten Geschöpfe auf der Welt, es sind Kinder! Kinder, Thorin!"

"Das werden sie nicht immer bleiben. Sie werden größer werden und stärker und sie werden lernen. Und wenn sie beginnen, zu begreifen, was sie sind, wer sie sind - dann werden sie der Grund für so manches Grab sein." Er legte den Kopf schief und bedachte den Hobbit mit einem Blick, der ihn erschaudern und wissen ließ, dass dieses Handeln Konsequenzen mit sich ziehen würde. "Du weißt, dass du für mich kein Hindernis darstellst. Geh zur Seite. Noch schlafen sie, sie werden kaum etwas spüren."

Bilbo spielte für einen Augenblick mit dem Gedanken, die anderen im Raum darum zu bitten, ihm das Schwert abzunehmen, denn obwohl er Thorin stets vertraute, spürte er nichts als Unbehagen, als er sah, mit welcher Entschlossenheit er den Griff von Orkrist umklammerte. Er zögerte, sah erst zu den anderen, und schließlich wieder in die kalten, blassen Augen, die ihn verzweifeln ließen. 

"Ich werde nicht dabei zusehen, wie du zwei Kindern im Schlaf die Kehle durchschneidest."

"Dreh dich weg, wenn dir der Anblick nicht behagt."

Bilbo schüttelte erneut den Kopf, verletzt über den Ton, mit dem diese Worte über Thorins Lippen gekommen waren. "Weshalb redest du so mit mir?" Er sah wieder zu den anderen. "Warum tut ihr nichts? Merkt ihr nicht, dass hier etwas nicht stimmt?"

Der Schwarzhaarige vor ihm ließ das Schwert sinken und trat einen Schritt näher. Er wirkte nicht überrascht, als der Hobbit von ihm zurückschnellte. "Dass du versuchst, den Tod zweier 'Unschuldiger' zu verhindern, ehrt dich, aber ich tue es nicht der Rache wegen. Das hier ist keine Hinrichtung. Das hier ist Selbstschutz." Selbstschutz? Bilbo gab sich keine Mühe, seine Abscheu zu verbergen, als dieses Wort fiel. Er spürte, dass er den Tränen nahe war, doch er konnte keine vergießen, denn er hatte keine mehr, und er wartete in stummen Gedanken versunken darauf, von Thorin aus dem Weg gestoßen zu werden.

"Geh jetzt zur Seite."

Dieser ruhige Ton, der sich nicht mit dem blinden Zorn dieser blauen, leeren Augen in Einklang bringen ließ, machte Bilbo wütender und enttäuschter, als er ohnehin schon war, und als er schließlich antwortete, taten es seine Lippen wie von selbst, und das erschrak ihn. "Selbstschutz, ja? Würdest du es wirklich so nennen? War das vor ein paar Tagen auch Selbstschutz, als wir vor dem sterbenden Körper ihrer beider Mutter standen und du deinen letzten Pfeil geschossen hast? War es das, Thorin? War es das?"

Bilbo biss sich auf die Lippen, wohl wissend, dass er das nicht hätte sagen dürfen. Im ersten Moment erntete er nichts als kaltes Schweigen, und es behagte ihm nicht. Ein Blick in diese blauen Augen genügte nicht, um zu verstehen, was hinter ihnen vor sich ging, und er wusste, dass er es niemals verstehen würde. In seiner Brust wurde es kalt. Das Schwert in Thorins Hand machte ihm Angst, und irgendetwas in ihm rechnete fest damit, dass der Schwarzhaarige es wieder erheben würde; irgendetwas in ihm wollte zur Seite springen, irgendetwas in ihm verfluchte ihn dafür, sich überhaupt in seinen Weg gestellt zu haben. Vielleicht war es seine Vernunft, doch Bilbo konnte es nicht sagen. 

Er atmete auf, als er sah, wie Thorin seine Schwerthand senkte. Als er den Griff von Orkrist losließ, und das Schwert mit einem unangenehmen, schneidenden Klirren auf den mit Asche bedeckten Boden fiel, erstarrte er, als hätten seine Finger unwillkürlich von ihm abgelassen. Einige bange Sekunden blickte er unverwandt auf seine Hand, als wäre es die eines anderen, und als er aus dieser seltsamen Trance erwachte, wirkten seine Züge älter und dunkler und voll von Zorn. 

"Ihr alle", sagte er mit einer Stimme, die irgendwie anders klang als sonst, und während er sprach, sah er weder zu Bilbo noch zu den anderen. Sein Blick ruhte auf den kleinen, blassen, schlafenden Körpern, und er sah sie an, als hoffte er, sie würden vor seinen Augen in Flammen aufgehen.

"Kümmert euch um sie. Legt sie in Ketten. Sollten sie sich ihrer Zähne besinnen, tötet sie. Oder lasst sie am Leben, es ist mir gleich. Nur sorgt dafür, dass ich sie nicht mehr sehen muss."

Sie hätten sich freuen können, dass Thorin sich umentschieden hatte, doch ihre Herzen wussten, dass dieser neue Befehl nicht von Einsicht, sondern von Zorn rührte. Stumm und verwirrt wichen sie von der Stelle, als ihr König auf sie zutrat, um zur Tür zu gelangen.

"Was wirst du jetzt tun?" fragte Balin in böser Ahnung, als Thorin an ihnen vorbeitrat, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und er erhielt keine Antwort. Als der Schwarzhaarige im Türrahmen stand, drehte er sich um, suchte den Raum nach dem Halbling ab, und als seine Augen die seinen trafen, nickte er in Richtung des vor ihm liegenden Ganges. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet ihm, dass es sich bei dieser Geste nicht um eine Einladung, sondern um einen Befehl gehandelt hatte.

"Komm jetzt, Halbling", setzte er nach, als Bilbo keine Anstalten machte, ihm zu folgen, und die Art, wie er es sagte, verletzte ihn mehr als es Orkrist hätte tun können.

"Ich habe einen Namen, Thorin", sagte er leise und mit kratzender Stimme.

"Es gibt einen Grund, aus dem ich ihn nicht benutze."

Bevor Bilbo antworten konnte, trat Dwalin aus der Menge. "Thorin, du solltest wirklich nicht-" Als der Schwarzhaarige ihn unterbrach, klang seine Stimme nicht mehr natürlich, sondern laut und donnernd, und schwarz wie die Wolken eines Gewitters.

"Ich habe euch gerade einen Befehl gegeben, nicht wahr?" Für einen kurzen Moment sah er in ihre Gesichter, doch es schien, als ertrüge er diesen Anblick nicht, und senkte den Kopf; nicht aus Trauer, sondern aus Zorn, und mit der Absicht, sich zu konzentrieren, sich im Zaum zu halten. Es gelang ihm nicht. "Jetzt tut, was ich sagte, bevor ich es mir anders überlege."

Es war das letzte, was er sagte, bevor er sich umdrehte und mit schweren, lauten Schritten das Zimmer verließ. Der Hobbit und die Zwerge regten sich einen Moment lang nicht und lauschten mit Unbehagen, wie sich Thorin von ihnen entfernte. 

Als das Geräusch plötzlich und ungewöhnlich abrupt erstarb, spürte Bilbo, wie sich alle Blicke im Raum auf ihn richteten. Langsam, zögernd. Stumm atmete er die kalte, rußige Luft und senkte den Kopf.

Ohne sie anzusehen, ging er an ihnen vorbei, und sie traten erneut zur Seite, doch nicht in derselben Art, wie sie es bei Thorin getan hatten. Sie taten es, als würden sie ahnen und bedauern, was noch kommen würde. So muss sich ein Verurteilter auf dem Weg zu seiner Richtbank fühlen, dachte er, als er über die Türschwelle trat und sie hinter sich ließ.

~~~

Die dunkle Silhouette stand wie ein Schatten vor der Sonne auf der anderen Seite des Ganges. Wachsam. Wartend. 

Es bedurfte nicht viel Mutes, dass Bilbo - wenn auch nach kurzem Zögern - einen Fuß vor den anderen setzte, um zu ihm zu gelangen. Was immer Thorin von ihm wollte, es konnte nicht schlimmer sein als das, was er bereits getan hatte. Und Bilbo war wütend. Er spürte es, und auch wenn es ihn erstaunte, so war diese Wut doch mit einem Mal größer und stärker als die Trauer und Enttäuschung über Thorins Verhalten. Er ging auf die Silhouette zu, die mit verschränkten Armen auf ihn wartete, und als er sie erreicht hatte und erneut in seine eigenartig bleichen Augen sah, überkam ihn eine seltsam warme, aber schmerzende Welle und sein Zorn sank wieder, verschwand jedoch nicht ganz. Wir waren so kurz vor dem Ziel, dachte er, und er spürte, wie etwas unter seinen Lidern brannte. So kurz vor dem Ziel.

Dass Thorins Zorn noch nicht abgeklungen war, hatte er schon von weitem gespürt, doch als er nun plötzlich von ihm gepackt und gegen die nächstgelegene Wand gepresst wurde, hatte er es nicht kommen sehen und er bemerkte es erst, als es bereits zu spät war. 

In einem verspäteten Reflex griff er verzweifelt nach Thorins Armen, versuchte vergeblich, sie von sich zu lösen, doch gegen die Kraft des Stoßes kam er nicht an, und als er mit dem Rücken gegen die Wand schlug, zwang ihn ein stumpfer Schmerz dazu, aufzustöhnen und das Gesicht zu verziehen. Thorin löste seine linke Hand von seiner rechten Schulter, griff ihm unter das Kinn und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. Bilbo wusste, dass es nichts bringen würde, sich zu wehren, und ließ es mit sich geschehen, noch immer versuchend, zu begreifen, was Thorin da gerade tat.

"Warum hast du das gerade getan?" kam es in einem monotonen Knurren von dem Schwarzhaarigen; ein Knurren, das mehr nach dem eines wilden Tieres als nach dem eines Zwerges klang.

Bilbo, der Schwierigkeiten hatte, die Schmerzen in Kiefer, Rücken und Schultern auszublenden, sah ihm verwirrt in die Augen, doch Thorin wandte die seinen von ihm ab, als könnte er selbst nicht ertragen, was er da tat. Eine einzelne Träne glitt Bilbos Wange hinab. "W-warum ich das getan habe? Warum hast du das gerade getan? Erwartest du wirklich von mir, dass ich dich einen Mord begehen lasse? Denn genau das ist es, ein Mord. Das hat nichts mit Selbstschutz oder Gerechtigkeit zu tun, Thorin."

Als Bilbo seinen Namen nannte, spürte er, wie sich für einen kurzen Moment die Hände, die ihn so gewaltsam gegen den kalten Stein drückten, lockerten; er erkannte seine Chance und schüttelte den Kopf, sodass Thorin gezwungen war, sein Kinn loszulassen. Es brachte nicht viel, denn kurz darauf wurde er am Kragen gepackt, mit so festem und schmerzendem Griff, als hätte der Schwarzhaarige Angst, Bilbo würde versuchen wollen, zu entkommen.

"Hör auf, mich bei meinem Namen zu nennen", sagte er, und er sah aus, als verstünde er seine Worte selbst nicht.

"Weshalb? Weil es dich daran erinnert, wer du bist? Siehst du mir deshalb nicht in die Augen, weil du Angst hast, dass ich es erkennen könnte? Zu spät, denn das habe ich längst", sagte Bilbo mit einer Stimme, die ihn selbst erschrak und die ihm nicht gefiel.

Mit einem Mal ließ Thorin ihn los. 

"Wovon sprichst du?" flüsterte er zischend.

Bilbo, der nicht mit dieser Reaktion gerechnet hatte und dem von jetzt auf gleich das Gleichgewicht fehlte, rutschte unbeholfen mit dem Rücken an der Wand hinab und fiel auf die Knie. Mit zitternden Händen stützte er sich auf dem eiskalten Boden ab, um sich wieder aufzurichten, abwägend, ob er die Gelegenheit beim Schopfe packen und fliehen sollte, doch er wusste, es würde nichts bringen, nichts verändern. Er hob den Kopf und sah in Thorins fremde Augen.

Auch wenn dieser seltsame Schleier über ihnen lag, hätte er sich in ihnen verlieren können, ein kalter, erbarmungsloser Schauer lief ihm über den schmerzenden Rücken, als er sich dessen bewusst wurde. So schwach und trüb wie dunkles Glas, und doch so lebendig, als würden sie brennen. Als läge eine matte, erlöschende Flamme hinter diesem leeren, starren Blick. 

Als er sicher war, fest auf beiden Füßen zu stehen, und nicht stottern zu müssen, gab er Thorin eine Antwort. "Ich habe es bereits an deinen Worten gemerkt, der Blick in deine Augen hat mir Gewissheit verschafft. Du bist nicht Thorin."

Der Angesprochene schnellte einen Schritt nach vorne, Bilbo wich einen zurück und fand sich erneut an der Wand wieder. "Sag das noch ein einziges Mal und-"

"Und was? Wirst du mich umbringen? So, wie du es schon einmal fast getan hättest, als du mir mit Pfeil und Bogen gedroht hast? Nun, du stehst mit leeren Händen da, es könnte ein wenig dauern, bis es dir gelingt." Als er befürchtete, Thorin würde seinen Blick wieder abwenden, wurde er lauter, und zorniger, und er sagte etwas, was er vielleicht nicht hätte sagen sollen. "Was erwartest du von mir? Eine Entschuldigung? Dafür, dass ich dich davon abgehalten habe, das Leben zweier Kinder zu beenden? Hätte ich es nicht getan, vor wem würde ich nun stehen? Thorin, dem Drachenschlächter? Thorin, dem Kindermörder?"

Drachenschlächter.
Kindermörder.

Der Schlag traf ihn so unvorbereitet, dass er den Schmerz zunächst gar nicht spürte und nur den seltsamen, schwarz flimmernden Schleier sah, der vor seinen brennenden Augen tanzte. Die Wucht ließ ihn das Gleichgewicht verlieren und er fand sich auf dem vertrauten Boden wieder.

Als er begann, zu begreifen, was geschehen war, und seine rechte Hand langsam an seine linke Gesichtshälfte wandern ließ, kroch allmählich ein dumpfer, kribbelnder Schmerz in seine Wange, und er musste blinzeln, denn das Gefühl trieb ihm Tränen in die Augen.

Er war für diesen Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er das verdächtige, erschrockene Schweigen um sich herum hätte bemerken können, doch als der Schleier um seine Sicht verschwand und er sich bei vollem Bewusstsein beide Hände auf die brennende Stelle presste, nahm er die plötzlich eingetretene Stille wahr. Er spürte, dass Thorin noch da war, doch er weigerte sich, zu ihm aufzusehen. Er spürte, dass Thorin ihn beobachtete, er spürte Thorins Augen auf seinem Gesicht, und es machte Bilbo wahnsinnig, dass er das alles in völligem Schweigen tat. Wenn er mich wenigstens anschreien würde, dachte er, und schloss die Augen.

Die Tränen liefen ihm nun in Strömen über die Wangen, ob er es wollte oder nicht. Er stöhnte. Seine linke Gesichtshälfte war wie taub, lediglich dieser pulsierende, stumpfe Schmerz war zu spüren, der durch die Tatsache noch verstärkt wurde, dass der Schlag von Thorin selbst gekommen war.

Die Luft auf dem kalten Gang war umgeschlagen. Sie war kälter. Schwerer. 
Sag doch was, dachte Bilbo in seinem Inneren. Irgendwas. 
Nur mach, dass diese Stille endet.

Doch Thorin sprach noch immer nicht, und Bilbo brauchte einige Sekunden, um sein Schweigen richtig zu deuten. 

Er hob den Kopf, fuhr sich mit dem Ärmel über das wunde Gesicht und sah ihm in die Augen. Und als er es tat, erstarrten beide. 

Thorin hatte den Mund um einen kleinen Spalt geöffnet, seine Lippen bebten. Auf seinen Augen lag noch immer ein Schleier, nur war es nicht mehr derselbe. Kaum, dass Bilbo ihm ins Gesicht gesehen hatte, wandte der Schwarzhaarige das seine ab, als könnte er den Anblick nicht ertragen, und hob seine zitternde, rechte Hand, deren Knöchel sich durch den Schlag rot gefärbt hatten. Er starrte sie an, als hoffte er, sie wäre nur eine Einbildung, und ließ sie wieder sinken, als er erkannte, dass sie das nicht war. 

"Ich... es..." sprach er im Flüsterton, doch er stockte und sprach nicht weiter. Bilbo sah, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, doch Thorin sah nicht zu ihm zurück, er wagte es nicht.

Er stolperte zwei Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und den Halbling zurückließ.

Auf dem Gang wurde es wieder still.
Bilbo zog sich an die Wand und lehnte sich stöhnend gegen das kalte Gestein. Und er begann, zu weinen. Langsam. Und leise. 

Ein paar Gänge weiter tat jemand dasselbe.





-----------------------------------------

Und schon wieder Verzeihung, dass ich euch so lange habe warten lassen, ist noch jemand da?

Ich muss mich jetzt erstmal mit Kakao, Räucherkerzen und einer Metallica-Playlist auf den kommenden Lockdown einstimmen, bei dem ich definitiv 24/7 in Jogginghose mit meiner Katze vor dem Laptop sitzen werde, um irgendwelche Aufsätze für irgendwelche Lehrer zu schreiben. Wahoo. 
Was ich schon mit Gewissheit sagen kann, ist, dass das nächste Kapitel nicht erst in vier, sondern in zwei Wochen kommen wird. So. Punkt. Aufsätze hin oder her, man muss Prioritäten setzen.
Apropos Prioritäten, ich muss heute Abend noch ne Folge Doctor Who nachschauen.

Habt ein schönes lebkuchenreiches Wochenende, meine Lieben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top