Erloschene Sterne

"Sie sind tot." 

Sein Gesicht war blass, so unnatürlich blass vor Angst und erbarmungslosem Zorn, und er ließ den großen Stein in seinen Händen zu Boden fallen. Es hatte keinen Sinn mehr.

Das Geräusch, das dadurch ausgelöst wurde, ließ die anderen Zwerge herumfahren und für einen kurzen Moment mit ihrer Beschäftigung innehalten. 

"Kili, was redest du denn da?" Sein Bruder kam mit schnellen Schritten auf ihn zu, nachdem das Felsstück, das er soeben noch in den Händen getragen hatte, beseite geschafft war. 

Der junge Zwerg stand da, die Arme schlaff und lustlos nach unten hängend, den Blick zu Boden gerichtet. Eine Träne bahnte sich ihren Weg die mit Asche und schwarzem Staub verschmierte Wange hinab, die Nässe brannte durch die schneidende Kälte in dieser Tiefe.

"Sie sind tot..." wiederholte er, so leise und wispernd, dass nur sein Bruder fähig war, es zu verstehen.

Fili schüttelte nur den Kopf und lachte kurz auf, um ihm Hoffnung zu geben. Doch das Lachen klang hohl, unehrlich und bitter durch die damit verbundene Lüge, denn er selbst hatte den Glauben an ein gutes Ende bereits verloren. Er schüttelte erneut den Kopf, zuerst über sich selbst und seine gescheiterten Versuche, seinen Bruder zu ermutigen, danach über die gesamte Situation. 

"Sie sind nicht tot, das darfst du gar nicht erst in Betracht ziehen. Pass auf..." Er bückte sich und griff nach dem Stein, den Kili vor wenigen Sekunden fallen gelassen hatte, drückte ihn seinem Bruder in die zitternden Hände und ließ sie wieder los, nachdem er sicher war, dass er den Stein sicher hielt. "Sobald wir dieses verfluchte Tor freigelegt haben, werden wir sie wiedersehen. Sicher haben sie sich in Sicherheit bringen können und in ein paar Jahren werden wir gemeinsam Lieder darüber singen."

"Lieder über den sinnlosesten Tod aller Zeiten meinst du wohl. Er hätte nicht sterben müssen. Sie beide hätten nicht sterben müssen." Er fuhr sich müde und verzweifelt mit dem Ärmel über das Gesicht und mied dabei den Blickkontakt mit seinem Bruder, ehe er weitersprach. "Ich schäme mich, Fili. Ich schäme mich so sehr. So oft haben wir uns gegen ihn gestellt, weil wir glaubten, wir wüssten es besser. Aber hätten wir es wirklich besser gewusst, so hätten wir durchgesetzt, den Menschen von Thorins Verdacht zu berichten. Aber wir waren zu schwach, wir waren gebrochen. Weil wir tief in uns drinnen noch immer nicht wahrhaben wollten, dass Thorin krank ist. Hätten wir nicht nachgegeben, dann hätten wir die Menschen von Thal nun vielleicht auf unserer Seite. Das ist die Wahrheit, und das weißt du. Und dennoch haben wir Thorin den Brief von Bard verschwiegen. Wovor hatten wir beide Angst? Hätten wir Onkel von dem Brief erzählt, dann... vielleicht hätte er eingesehen, dass er Unrecht hatte. Und vielleicht hätten wir das hier dadurch verhindern können. Aber wir hatten Angst. Und diese Angst hat uns blind gemacht."

"Nein, Kili. Es ist gut, dass niemand von diesem Brief weiß, das hätte nur zu-..."

"Entschuldigt, aber was für ein Brief?" Es war Balin, der dem Gespräch eher unbewusst gefolgt war und nun auf sie beide zutrat, nachdem er eines der kleineren Trümmerstücke an seinen Bruder weitergegeben hatte.

Fili drehte sich um und für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, doch schon nach dem Bruchteil einer Sekunde erkannte er, dass er nicht fähig dazu war, im Angesicht dieser aussichtslosen Situation. 

Bevor er antworten konnte, fuhr sich Kili kurz über das Gesicht, um die Tränenspur zu beseitigen, griff dann ungefragt in die Manteltasche seines Bruders und zog den zerknitterten Umschlag hervor, auf dem das feuerrote Siegel des Thalfürsten zu erkennen war. Sein Bruder schnappte kurz danach, doch der Jüngere reichte ihn ohne Umschweife dem weißbärtigen Zwerg. "Der hier ist am heutigen Morgen gekommen. Bard hat ihn geschrieben."

Zögernd griff Balin nach dem Stück Pergament, das Kili zuvor des Umschlags entledigt hatte und überflog die ersten Zeilen. "Er ist an den König gerichtet."

"Und der König soll ihn bekommen," platzte es aus Fili heraus, der sich nun an seinem Bruder vorbeidrängelte und ihn mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. "Ich hielt es jedoch für angebracht, ihn vorerst nichts von diesem Schreiben wissen zu lassen, um..."

"... um was genau zu erreichen? Meinst du, Thorin wird schneller gesund, wenn man ihm wichtige Angelegenheiten vorenthält? Bei Mahal, wenn er davon erfahren hätte... Du weißt, wozu er fähig sein kann. Habt ihr denn nichts dazugelernt?!"

Der blonde Zwerg ging nicht auf seine Fragen ein, sondern deutete nur fordernd auf den Brief in den Händen des Weißbärtigen. "Lies ihn nur, lies ihn! Du wirst mein Handeln verstehen, sobald du von seinem Inhalt erfährst!"

Balin öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch noch im selben Moment beschlich ihn der Gedanke, dass Filis Sorgen berechtigt sein könnten und begann, die Zeilen zu überfliegen. Und selbst im schwachen Licht der wenigen Fackeln konnte man erkennen, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich, je weiter sein Blick über das dünne Papier huschte. Er versuchte, von der frischen Kenntnis dieser vollkommen neuen Entwicklungen nicht erschlagen zu wirken und räusperte sich, sichtlich angespannt. "Und... er kam heute Morgen, sagtet ihr?"

Die beiden Zwergenbrüder nickten zeitgleich.

"Dürfte man erfahren, weshalb ihr hier nur herumsteht und nicht mit anpackt?" unterbrach Dwalin murrend die nun einkehrende Stille, die sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf ihre Schultern und Gemüter legte und ihnen die Worte abschnürte.

Balin reichte ihm wortlos den Brief. Als er sich umwandte, konnte er erkennen, dass nun auch die anderen Zwerge aufgehört hatten, zu arbeiten und mit fragenden Blicken auf sie hinabsahen, manche von ihnen hatten noch Trümmerstücke in den Händen, um sie hinfortzuschaffen. Seit mindestens zwei Stunden waren sie dabei, das zugeschüttete Tor freizuräumen, doch ihr Fortschritt war kaum sichtbar, das Ende schien in weite Ferne gerückt. Und vielen war gar nicht recht bewusst, ob sie das Ende denn unbedingt erreichen wollten, denn... was würden sie wohl vorfinden, sobald die Steine den Zugang nicht länger versperrten?

Weit über ihnen thronte noch immer der silbern schimmernde Drache, fest, starr und kalt seinen Kopf nach unten gerichtet. Er war eines der wenigen Überbleibsel, die nicht von den zerborstenen Felsteilen zerstört worden waren. Sein Blick war trotz des toten Materials durchdringend und stechend und löste bei manch einem ein mulmiges Gefühl aus. Es schien, als würde er ihr Werk bewachen, dabei zusehen, wie ihre Kräfte und Hoffnung von Stein zu Stein geringer wurden.

Und nun war ihr Werk zum Stillstand gekommen. Vorerst.

Dwalin überflog das zerknitterte Pergament, sein Blick verfinsterte sich von Zeile zu Zeile mehr. Nachdem er den Brief beendet hatte, blickte er unsicher für einige Sekunden zwischen dem Geschriebenen, seinem Bruder und den anderen Zwergen hin und her, ehe er seine vom Staub und Fassungslosigkeit trockene Stimme erhob. "Die... die Spitzohren sind auf dem Weg hierher?! Was geht sie diese ganze Situation an? Sie sollen in ihren Wäldern bleiben, wo sie hingehören, und sich nicht in Angelegenheiten einmischen, von denen sie nichts verstehen!"

"Und wir alle sind deiner Meinung, dennoch... Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber aufzuregen." Balin legte ihm eine Hand auf die Schulter und senkte die Stimme zu einem beruhigenden Flüstern. "Sieh dich um. Die Wunde ist noch frisch und ihr Schmerz sitzt noch tief. Lass uns erst verkraften, was vor wenigen Stunden geschah und derer, die für uns starben, gedenken."

"Du... du glaubst nicht wirklich, dass sie tot sind, oder?"

Der weißbärtige Zwerg legte den Kopf schief und sah ihn mit gequältem, einfühlsamen Blick an. "Das können sie nicht überlebt haben, Dwalin. Und du weißt das. Lass Fili, Kili und den anderen noch ihre Hoffnung. Sie sind noch zu jung, um es einzusehen..."

Er wartete, bis der Angesprochene nickte und erhob wieder seine Stimme, dieses Mal in einer Lautstärke, die an die Ohren eines jeden gelangte.

"Wir werden nicht ruhen, ehe wir das Tor freigelegt haben. Fili, Kili, kommt, packt mit an, je mehr daran beteiligt sind, desto schneller werden wir das ganze hinter uns haben. Wie sieht es bei euch da oben aus?"

Die letzte Frage war an Gloin und Dori gerichtet, denn sie waren an die Spitze des Trümmerhaufens geklettert, um die oben liegenden Steine zu den anderen nach unten weiterzugeben. Gloin war es, der Antwort gab.

"Die kleineren Felsteile gehen uns allmählich aus..."

"Das ist doch gut, oder nicht?"

"Im Gegenteil. Das Tor ist von einem riesigen Felsen versperrt, der darunterliegt, vermutlich eine der umgestürzten Säulen. Den können wir nicht einfach so wegschieben oder rollen. Nur ein Stückchen. Man müsste ihn nur wenige Meter wegbewegen, dann könnte man einen kleinen Spalt freilegen, der in die Halle führt. Aber ohne Werkzeug ist das unmöglich."

Balin seufzte. "Dann müssen wir uns welches besorgen. Und das schnell. Bofur, Bifur!" Die zwei drehten den Kopf in seine Richtung und sahen ihn fragend an. 

"Kommt! Lasst uns zurück zu den Seilzügen gehen. Vielleicht finden wir etwas brauchbares, Ketten zum Ziehen, Eisenstangen als Hebel... Ihr anderen, bleibt hier, räumt den restlichen Schutt beiseite."

Bifur und Bofur folgten ihm ohne Widerrede, zu groß war die Erschöpfung und zu tief saß der Schock über die Ereignisse des bisherigen Tages.

Kili drehte den Kopf und sah die drei in der Dunkelheit verschwinden, blickte ihnen so lange nach, bis auch die tanzenden Lichtpunkte ihrer Fackeln nicht mehr zu sehen waren. Sein Bruder sah ihm das Unbehagen an und trat wieder zu ihm. "Na komm. Balin hat recht."

"Ja... leider. Ich will dieses Tor nicht öffnen, Fili. Ich möchte Onkel so in Erinnerung behalten, wie er von uns gegangen ist, er und... Bilbo. Ich will nicht ihre zerquetschten Überreste unter verwitterten, blutüberströmten Steinen finden. Ich will nicht, dass das unser letztes Bild von ihnen ist. Das hätte Thorin nicht gewollt..."

Fili seufzte bitter und hielt Tränen zurück, denn er konnte ihn verstehen. Er hatte genau dieselben Gedanken, hielt es jedoch nicht für klug, sie in Worte zu fassen, denn sein kleiner Bruder und der Rest der Gemeinschaft waren schon niedergeschlagen genug. 

Er trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Niemand wird dich zwingen, diese Halle zu betreten, noch, ihren Weg freizuräumen. Doch sieh dich einmal um. Sieh in ihre Gesichter. Siehst du nicht auch diese Sehnsucht in ihren Augen, dieses Verlangen nach einem Ende? Wenn wir jetzt aufgeben, so werden wir nie erfahren, was in dieser Halle geschehen ist. Hilf ihnen dabei, diese Antwort zu finden, und tu das vor allem für dich. Denn diese Sehnsucht, die in ihren Augen brennt, sehe ich auch in deinen. Du hast sie nur noch nicht erkannt."

Kili lächelte milde. 

"Hoffnung. Diese Sehnsucht nennt man Hoffnung, Fili."

~~~


Gemeinsam Seite an Seite mit demjenigen zu sterben, den man liebt - dies ist das Ende vieler Geschichten. Gemeinsam, Hand in Hand dem Tod ins Gesicht zu sehen, gegen ihn zu verlieren, die Augen zeitgleich zu schließen und zur selben Zeit wieder aufzuwachen, in einer besseren Welt, fernab von allem Bösen. In einer Welt voll weiter Strände mit einem ebenen Horizont, an dem die Sonne in rotem Licht verschwindet, mit sanften Wassern und grünen Auen. Ein gemeinsamer Abschied. Nicht voneinander, sondern miteinander, nur, um anschließend für immer vereint zu sein.

Bilbo hatte zuvor nie darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, die Augen für immer zu schließen. Das war nicht seine Art. 

Er hatte Geschichten gelesen. Viele Geschichten, in denen in glorreichen, schönen Worten vom Tod gesprochen wurde, doch nun, da er meinte, sein eigener stünde bevor, wusste er, dass er naiv gewesen war, diese Lügen zu glauben. Denn Lügen waren es. Eingeschlagen in abgegriffenem Leder verstaubten diese Lügen nun in seinen Bücherregalen, die er vor langer Zeit zurückgelassen hatte. 

Er hatte keine Hoffnung mehr, und darin unterschied er sich von den Protagonisten dieser Lügengeschichten. Angst war das einzige Gefühl, zu dem er fähig war.

Seine Augen waren fest geschlossen, er spürte die schützenden Arme des Schwarzhaarigen, die seinen zitternden Körper fest umschlungen hielten und ihn an sich drückten. Dieser schnelle Herzschlag, die panischen, hektischen Atemzüge, die Wärme durch die Berührung an seiner Haut - das würden also die letzten Dinge sein, die er auf seinem Weg aus dem Leben spüren würde.

Krachen, Donnern, schauerlich widerhallend. Die Felsteile stürzten zu Boden wie Hagel. 

Gleich. Nicht mehr lange und ein Stein würde sie treffen, unter sich begraben und ihrem Leiden ein Ende setzen. Gleich.

Er schmeckte etwas Salziges. Ob es seine eigenen Tränen oder die des Zwergenkönigs waren, vermochte er nicht zu sagen. Das war auch egal. 

Er drückte sich an ihn, wodurch ihn die starken Arme nur noch fester umschlangen und aus der Umarmung etwas wurde, was man nicht mehr Umarmung nennen konnte. Es war wie ein wilder Hunger, als würden sie sich aneinander festklammern, da sie sonst dieses Hungers sterben würden. Als würde ihr Leben davon abhängen.

Er krallte sich so fest an ihn, dass seine Finger begannen, zu schmerzen. Er hatte seinen Kopf gegen die Brust des Größeren gelegt und spürte seinen Bart, seine Locken, seine warmen Tränen. Sog ein letztes Mal seinen Duft ein, verzog sein Gesicht vor Schmerz.

Seit die Halle verschlossen war, hatte niemand von beiden etwas gesagt, die lauten donnernden Laute der einstürzenden Gewölbe hätten ihre Worte ohnehin übertönt. 

Bald schon wünschte sich Bilbo fast, einer der Steine würde sie von ihrem Leiden erlösen. Nur ein kurzer Schmerz und alles wäre vorbei.

Doch diese Gnade wurde ihnen nicht gewährt.

Er spürte, wie der Größere zusammenzuckte, als in unmittelbarer Nähe neben ihnen ein gewaltiges Felsstück auf dem Boden einschlug und mit einem splitternden, hässlichen Geräusch zerbarst.

Irgendwann jedoch verebbten die Geräusche. Sie wurden weniger, seltener. 

In der Halle wurde es ruhig.

Staub hatte sich in ihren Haaren und auf ihrer Kleidung abgesetzt, sie standen noch immer so da, einander fest umschlungen und zitternd vor Angst, hörten nur den wilden Herzschlag und den Atem, konnten bald nicht mehr unterscheiden, ob es der eigene oder der des anderen war.

Doch irgendwann fingen sie an, sich zu wundern. Die Ruhe war so abrupt eingetreten, dass sie für einen kurzen Moment mit dem Gedanken spielten, sie wären bereits tot, hätten es nur noch nicht erkannt.

Sanft und behutsam löste der Schwarzhaarige die Arme und Bilbo tat es ihm gleich, obgleich ihn die nun eintretende Kälte frösteln ließ und den Wunsch in ihm entfachte, sich weiter an den starken Armen seines Freundes zu wärmen.

"Thorin, was..." Er vollendete den Satz nicht, da er ihn nicht zu vollenden wusste. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Wangen und schüttelte den Kopf, um den Gesteinsstaub loszuwerden, der daraufhin in seine Augen und Nase rieselte und ein unangenehmes Kribbeln verursachte.

Der Schwarzhaarige tastete unwillkürlich nach der Hand des Halblings. "Bleib bei mir."

Oh, nichts lieber als das. Er erwiderte den sanften Druck seiner Finger und nickte, während er kratzenden Staub, vermischt mit brennenden Tränen hinunterschluckte. Dass Thorin das Nicken aufgrund des fehlenden Lichts nicht sehen konnte, spielte dabei keine Rolle, ein "Nein" hätte er sowieso nicht akzeptiert und Bilbo würde den Teufel tun, ihm zu widersprechen.

Er spürte, wie er sanft nach vorne gezogen wurde und folgte den leisen Schritten. "H-hältst du es für sicher, hier einfach so herumzulaufen? Es könnte sich jederzeit eines der Bruchstücke lösen und... ich will lieber gar nicht erst anfangen, von dem Drachen zu sprechen."

"Dann tu es nicht," lautete die seltsam schroffe Antwort des Königs und Bilbo schluckte, da es wirkte, als hätte der Schwarzhaarige seine vorige Fassung bereits wiedergefunden. Und das beunruhigte ihn, denn er selbst zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, sein Atem war unkontrollierbar und ungleichmäßig. 

Er hatte Angst. Und Thorin nicht. 

Thorin wirkte nicht ängstlich, nein. Er wirkte abwartend, wachsam, abwägend wie ein wildes Tier auf Beutezug. Und irgendetwas gefiel Bilbo daran nicht, das verriet ihm dieses seltsame, nur allzu gut bekannte Gefühl in der Brust. Er schwieg und folgte ihm, versuchte, sich auf seine Füße zu konzentrieren, die sich selbstständig zu machen schienen. Es ging langsam und holprig voran, doch immerhin gelang es ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

"Wir müssen zum Ausgang, er... er war in... dieser Richtung, denke ich," zischte der Schwarzhaarige, noch immer die Hand des Hobbits in der seinen fest umschlossen, um ihn in dieser Dunkelheit nicht aus den Augen zu verlieren.

Bilbo blieb stehen und sorgte damit fast dafür, dass Thorin durch den Ruck stolperte.

"Was ist?!" wisperte dieser mit einem genervten, scharf zischendem Unterton und trotz der Finsternis konnte sich der Halbling denken, wie zornverzerrt sein Gesicht gerade aussehen musste.

"Das wollte ich eigentlich gerade dich fragen. Bist du dir sicher, dass es in dieser Richtung war? Ich denke das nämlich nicht." Er versuchte, seiner Stimme durch eine höhere Lautstärke mehr Festigkeit zu verleihen, doch sie klang so kratzig wie eh und je.

"Es ist in dieser Richtung! Ganz eindeutig. Jetzt komm weiter, auf meinen Orientierungssinn ist Verlass."

"Das hab ich schon gemerkt."

"Warum dieser seltsame Unterton?"

"Oh, den nennt man wohl Ironie."

Thorin seufzte rau und entnervt. "Soll das heißen, du stellst ihn infrage?"

"Wen?"

"Meinen Orientierungssinn."

Das übertrieben unschuldige Schulterzucken, das darauffolgte, war für den Größeren glücklicherweise nicht sichtbar. "Ich sage nur, was ich denke. Und ich erinnere mich nur allzu gut an unsere erste Begegnung." Er verstellte die Stimme und imitierte die des Schwarzhaarigen. "Ich bin vom Weg abgekommen. Zweimal."

Thorin murrte, doch Bilbo konnte das Schmunzeln auf seinen Lippen erkennen. Ein Schmunzeln, das der Zwergenkönig offensichtlich zu unterdrücken versuchte. "Dein Humor ist hier leicht unangebracht, findest du nicht auch?"

"Stimmt. Also, lass uns in diese Richtung gehen." Er zog an der Hand, die seine umschloss, doch wurde von ihr zurückgezogen. "Was hast du denn?"

"Ich... komme gleich, nur... nur einen kurzen Moment." Mit einer unauffälligen Geste tastete er die Wunde ab, die ihm Azog zugefügt hatte, und Bilbo entging das nicht.

"Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich... ich kann dich stützen, wenn es dir recht ist."

"Nein," murrte Thorin, als hätte ihn der Halbling beleidigt. "Es wird schon gehen. Es muss einfach gehen."

Bilbo seufzte und überlegte kurz, ob es weise wäre, ihm zu widersprechen, doch im nächsten Moment schüttelte er nur den Kopf. Der Schwarzhaarige würde schon noch auf sein Angebot zurückkommen, dessen war er sich gewiss, und er beließ es bei diesem Kopfschütteln, während er inständig hoffte, dass Thorin wirklich wusste, was er tat. Hoffnung war im Moment so ziemlich das einzige, das ihn bei Atem hielt.

Thorin schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es geht dir gut, sagte er zu sich selbst. Du spürst diesen Schmerz nicht. Es geht dir gut. Verdammt gut. Dann öffnete er sie wieder und im ersten Moment wirkte es, als hätte er sie noch immer geschlossen, denn ohne Fackeln war die Halle schwarz wie der Himmel in einer wolkenreichen Nacht. Er spürte die klebrige Nässe unter seiner Hand. Sie war nicht mehr warm, wie zuvor, sondern kalt, denn das Blut, das sein Hemd tränkte, war nicht mehr frisch, und das war ein gutes Zeichen. 

Seine Hand verließ die alte Narbe und wanderte nach oben zu seiner Stirn, und es wirkte nicht, als hätte er diese Reaktion beabsichtigt, sondern als hätte ihn etwas anderes dazu getrieben. Matt und behutsam tastete er nach seiner Krone, richtete sie, und ließ seine Hand gleich danach wieder nach unten sinken. 

"Gut," seufzte er. "Ich bin soweit."

Bilbo nickte bevor sie ihren Weg fortsetzten, und es war für ihn nicht von Bedeutung, ob Thorin das sah oder nicht. Alles, was er spürte, war diese lähmende Angst. Angst und Hoffnung. Und innerlich stellte er fest, dass er sich mehr um das Leben des Schwarzhaarigen sorgte als um das seine.

Wäre Thorin zu diesem Zeitpunkt er selbst gewesen, dann hätte er ähnliches gefühlt. Vielleicht sogar etwas stärkeres. Aber er sorgte sich nicht um Bilbo, nicht jetzt. Der Halbling war ihm gleich. Und er hielt seine Hand nicht aus Sorge oder Beschützerinstinkt, sondern weil er wusste, dass er, solange sie hier unten waren, an ihn gebunden war. Ob ihm das gefiel oder nicht.

Irgendwann, nach zehn wackeligen Schritten, begann der zitternde Bilbo wieder, zu sprechen. "Weshalb ist es hier so ruhig geworden? Ich... ich habe Angst, Thorin. Ich fühle mich beobachtet."

Der Schwarzhaarige seufzte genervt auf. "Es ist so ruhig hier, Halbling, weil uns das Glück an diesem Tage hold ist. Und weil der Drache weniger Verstand besaß als ich angenommen hatte. Entweder, sie ist nun endgültig an dem schwarzen Pfeil verreckt, wie sie es verdient hat, oder sie liegt unter einem dieser Trümmersteine, mit denen sie vorhatte, uns zu töten. In beiden Fällen ist sie tot, also, was schert es dich? Sie war schwach, und wäre ohnehin bald gestorben."

Er wollte weitergehen, brachte aber keinen vollständigen Schritt zustande, weil Bilbo sich dazu entschlossen hatte, weiterhin stehen zu bleiben. "Sie hat diesen Pfeil überlebt. Sie hat sich verdammt nochmal tot gestellt, ich denke kaum, dass ihr ein paar herunterfallende Steine den Garaus machen!"

Thorin murrte nur und blendete den Hobbit aus, er versuchte es zumindest. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf den steinigen Weg vor seinen Augen, und ohne einen Orientierungspunkt erkennen zu können, ging er voran, während er in seinem Kopf schon mit dem Gedanken spielte, wie man die Arbeiten in diesen stillgelegten Silberschächten wieder aufnehmen könnte, ohne dass außenstehende Ohren wie die der Menschen von Thal davon Kenntnis erhielten. Denn würde jemand davon erfahren, so würde es nicht mehr lange dauern, und man würde sich an das Versprechen seines Großvaters erinnern, dessen war sich Thorin sicher. Und er dachte gar nicht daran, dieses Silber, das er mit Blut bezahlt hatte, mit Menschen zu teilen. Nicht mit Menschen. Und auch mit keinem sonst.

Bilbo folgte ihm, und der Kloß in seinem Hals schien ihm die Luft abzuschnüren. Er wagte es nicht, sich Thorins Entschlossenheit erneut in den Weg zu stellen, und er war fast froh darüber, dass sie so wenig sahen, denn hätten sie Lichtquellen getragen, so hätte er nicht nur das Feuer der Fackeln, sondern auch das in den Augen seines Freundes gesehen, und er war sich sicher, dass ihn dieser Anblick das letzte Bisschen Hoffnung gekostet hätte. 

Willenlos ließ er sich von ihm führen, während sie sich ihren Weg zwischen den am Boden liegenden Teilen des Deckengewölbes bahnten, die sie zuvor nur aus weiter Ferne hatten betrachten können. Die silbergleichen, leuchtenden Erze waren teils herausgebrochen, teils noch fest mit dem Fels vereint und erhellten matt und bläulich ihren steinigen Weg. Sachte, und schwächer als zuvor.

Seine Augen huschten durch die Halle, doch weit reichte der Blick nicht, denn seine Sicht wurde von großen Trümmerstücken versperrt. Hinter jedem dieser Trümmerstücke hätte gut der Drache lauern können und Bilbo sah ihn schon vor seinem geistigen Auge die Trümmerwand durchbrechen und sich auf sie beide stürzen. Doch die Trümmerwand brach nicht. Sie ragte hoch, spitz und trostlos neben ihnen auf, nahm ihnen die Hoffnung und auch das letzte Bisschen Orientierung, über das sie auch zuvor kaum verfügt hatten.

Ihr Gang endete so plötzlich, dass Bilbo in ihn hineinlief und sie beide ins Taumeln brachte - Thorin war nicht besonders begeistert darüber, und der Hobbit erntete ein entgeistertes Seufzen, das rau von den Trümmerwänden zurückgeworfen wurde.

"V-verzeih..." murmelte er erschrocken und brüchig, und spürte, wie Thorins Hand die seine noch fester als zuvor umschloss, doch es war nicht sanft, es war unangenehm grob und schmerzte, und innerlich fragte er sich, ob der Schwarzhaarige ihn mit Absicht so behandelte. 

Er öffnete die Lippen, um ihn genau das zu fragen, stellte letztendlich doch eine andere Frage, die in seinen Augen die wichtigere von beiden zu sein schien. "Weshalb bist du denn stehen geblieben?"

Ein metallisches Geräusch zu ihren Füßen verriet ihm die Antwort. Thorin bückte sich und tastete mit seinen vor Kälte tauben Fingern nach dem Gegenstand, der dieses Geräusch ausgelöst hatte. 

Es war einer der schwarzen Pfeile. Nur einer. Als sie sich umsahen, konnten sie keine weiteren sehen, doch zu ihrer Erleichterung ragte das geschwungene, mit Metall versehene Ende eines Bogens unter einem kleinen Haufen aus schwarzem Schutt hervor. 

Zu ihrem Bedauern war der besagte Bogen nicht ganz von den heruntergefallenen Steinen verschont geblieben, denn als Thorin ihn hochhob, konnten sie sehen, dass das andere Ende gebrochen war, die Sehne hing mitsamt des abgebrochenen Endes hinab.

Prüfend betrachtete der Zwergenkönig das gesplitterte Holz und fuhr mit seinen Fingern die Sehne nach, um sicherzugehen, dass sie unversehrt war. Der Bogen und der Pfeil musste zu den Zwergen gehören, die diese Waffen auf ihrer Flucht vor dem Drachen fallen gelassen hatten. Ein verlorener Pfeil, ein zerbrochener Bogen. Thorin blinzelte angestrengt, während er die Sehne inspizierte, denn ohne Feuer waren Fehler schlecht auszumachen. 

"Ich werde ihn reparieren," sagte er schließlich, und irgendetwas verwunderte Bilbo an dieser Aussage. Wenn Thorin nicht daran glaubte, dass der Drache überlebt haben könnte, weshalb legte er dann plötzlich Wert darauf, bewaffnet zu sein? Er stellte diese Frage nicht, denn irgendetwas sagte ihm, dass er die Antwort bereits kannte.

"Wie willst du das schaffen? Der Bogen ist hin, das ist unmöglich..."

"Du verstehst nichts von Waffen, Halbling, also sag mir nicht, was möglich ist und was nicht," murrte er, ohne Bilbo eines Blickes zu würdigen. 

Dann bückte er sich, und der Halbling hatte nicht den blassesten Schimmer, wieso er das tat, bis er erkannte, dass der Schwarzhaarige einen kleinen Dolch aus der Seite seines Stiefels zog. Er wunderte sich gar nicht, er hatte lernen dürfen, dass Zwerge meist nicht nur eine Waffe am Körper trugen, und er fragte sich, ohne es verhindern zu können, ob Thorin wohl noch mehr Dolche versteckt hielt. Ihm persönlich bereitete es schon Unbehagen, eine einzige Klinge mit sich zu führen, und selbst jetzt, im Angesicht der Gefahr, würde er Stich am liebsten beiseite legen, denn er hasste Waffen, er hasste sie wirklich. 

Er setzte sich auf einem Stein nieder, der neben dem Schwarzhaarigen aufragte, und betrachtete ihn. 

Thorin nahm das eine Ende des abgebrochenen Bogens in die eine Hand und den kleinen Dolch in die andere, und schnitzte an der abgebrochenen Stelle herum, bis sich das Metall, in dem die Sehne verankert war, davon lösen ließ. Die Holzreste warf er über die linke Schulter und widmete sich danach dem Rest des Bogens. Glücklicherweise war das Holz recht weit oben abgebrochen, und Bilbo meinte nach ein paar Minuten aufmerksamer Beobachtung zu erkennen, wie Thorin die Waffen zu reparieren gedachte.

Es dauerte eine kleine Weile, und Bilbo wagte es nicht, zu sprechen, sondern beobachtete lediglich die geschickten Finger seines Freundes, sah, wie er das Holz so zurecht schnitzte, dass das Metallstück auf den Rest des Bogens passte. Müde stützte er sich auf seinem Ellbogen ab und legte den Kopf schief, Thorin ließ er dabei keine Sekunde lang aus den Augen. 

"Hab ich was im Gesicht, Meisterdieb?"

Bilbo zuckte kurz zusammen, als sei er aus einem Tagtraum erwacht (nun - genau genommen war er das auch), und hob verwirrt und ertappt eine Braue. "W-wie bitte?"

"Ich kann es spüren, wenn man mich anstarrt."

Ohne, dass es nötig gewesen wäre, lockerte der Halbling verlegen seinen Kragen. "V-verzeih, ich wollte nicht starren."

Thorin seufzte nur rau, und beließ es dabei. Dass Bilbo keine Zurechtweisung erhielt, machte ihn nur noch verlegener, und er begann, mit den Beinen zu baumeln, seine geringe Größe ließ das durchaus zu.

Der Schwarzhaarige machte sich weiter an dem Bogen zu schaffen, und eine Weile sagte niemand von ihnen etwas, sie hörten nur das leise, raue Geräusch, wenn die Dolchklinge über das Holz fuhr, und ihren eigenen Atem. Die Stille war seltsam, beunruhigend. Das leise "Schrapp-Schrapp" des Dolches raubte Bilbo nach der kurzen Zeitspanne von fünf Minuten schließlich die wenigen Nerven, über die er noch Herr war, und er beschloss, etwas zu sagen, egal was, Hauptsache, diese Stille dauerte nicht noch länger.

Er räusperte sich und fuhr sich kurz durch das zerzauste Haar, bevor er zu sprechen begann. "Wenn du Hilfe brauchst..." 

"... dann werde ich mich gewiss nicht an dich wenden. Es sei denn, du trägst einen Dolch bei dir, denn dieser hier...", er fuhr mit den Fingerkuppen kurz über die Schneide und seufzte ungeduldig, "... dieser hier hat seine besten Tage schon hinter sich, fürchte ich. Es ist schon eine Weile her, dass ich ihn schliff."

"Nun, mit einem Dolch kann ich leider nicht dienen, aber..." Er beendete seinen Satz nicht, sondern zog stattdessen Stich aus der Scheide.

Er hörte Thorin kurz auflachen. Und dieses Mal konnte er nicht sagen, ob ihm das Lachen gefiel oder ob es ihm Unbehagen bereitete. "Ich denke kaum, dass uns dein Elben-Brieföffner hier weiterbringt." 

Als hätte der Schwarzhaarige nicht seine Waffe sondern ihn persönlich beleidigt, stieß er entrüstet Luft aus. "Nun, schärfer als dein Dolch ist Stich allemal."

"Stich..." murmelte Thorin kopfschüttelnd, und Bilbo meinte, ein Schmunzeln auf seinen Lippen zu erkennen. Doch vielleicht sah er auch nur das, was er sehen wollte.

Er überlegte, seinen "Brieföffner" wieder wegzustecken, doch musste in der nächsten Sekunde zu seiner Überraschung feststellen, dass Thorin die Hand danach ausstreckte. "Na, gib schon her."

Bilbo sparte sich einen Kommentar und händigte dem Zwergenkönig die Waffe aus, um kurz darauf interessiert dabei zuzusehen, wie er die Klinge mit beiden Händen an dem glatten Holz entlangführte. Es würde nicht mehr lange dauern und der Bogen wäre repariert. 

"Man wird nicht mehr so leicht damit zielen können," meinte Thorin irgendwann, als hätte Bilbo ihn gefragt. "Er ist ein Stück kürzer als vorher, und etwas schief." Er legte Stich beiseite und fixierte unter Kraftaufwand das Metallende, das vom Ende der Sehne baumelte, an der zurechtgeschnitzten Stelle. Als er damit fertig war, hielt er ihn prüfend hoch, als hinge über ihm in der Luft eine Lichtquelle, die sein Werk sichtbar machen könnte. Dann spannte er ihn, korrigierte die Fixierung der Sehne dreimal und spannte ihn daraufhin noch einmal, ehe er ihn sich über die Schulter hängte und Bilbo abwartend ansah. 

"Krieg ich meinen Brieföffner zurück?"

Ohne ein weiteres Wort erhielt Bilbo, wonach er gebeten hatte, und steckte Stich zurück in die Scheide. Dann entstand eine längere Pause, in der er seinen Freund ansah, und plötzlich wanderten seine Gedanken weiter, durchdrangen die Wand aus Steinen und landeten bei denjenigen, die gerade in diesem Moment damit beschäftigt waren, das versperrte Tor freizuräumen, nur, dass weder Bilbo noch Thorin das wussten.

"Meinst du, den anderen geht es gut?"

Thorin hielt kurz inne, starrte den Hobbit an und kam schließlich auf ihn zu, um sich neben ihm auf dem Stein niederzulassen. Denn auch wenn er es nicht zugeben wollte; er war schwach. Und müde. Und am Ende seiner Nerven. Die Stütze kam ihm daher ganz gelegen. 

Dann räusperte er sich. "Sie konnten rechtzeitig fliehen. Wir müssen lediglich den Ausgang finden und wir werden sie wiedersehen."

"So einfach ist das?"

"So einfach ist das."

Bilbo nickte, denn eigentlich wollte er das gerne glauben. Doch dann schüttelte er den Kopf. "Wozu dann der Pfeil, Thorin?"

Auf diese Frage wusste der Schwarzhaarige eine Weile keine Antwort zu geben - und vielleicht wollte er das auch gar nicht. Er schwieg, und kein Zittern seines Atems, kein Wimpernschlag verriet, was er fühlte, während er in die Finsternis starrte. Dann seufzte er.

"Warum stellst du eine Frage, deren Antwort du bereits kennst?"

Und diese Gegenfrage verwirrte Bilbo, und sie gab ihm gleichzeitig Gewissheit, dass der Zwerg vor ihm gerade wirklich Thorin war, und nicht dieser Fremde, dem er sonst gegenüberstand. Er fand es seltsam, wie launisch diese Krankheit zu sein schien; mal tauchte sie aus dem nichts auf, mal ließ sie ihn in Frieden, nur, um im nächsten Moment wieder zu erscheinen. Und Thorin hatte Recht; er kannte die Antwort. Obwohl der Schwarzhaarige zuvor behauptet hatte, er würde die Feuerschlange tot vermuten, tat er es nicht, ebenso wenig wie Bilbo, oder besser; er wollte sich nicht auf sein Glück verlassen. Und der kleine Hobbit nickte verstehend, das war Thorin Antwort genug.

Er legte den schwarzen Pfeil in seine rechte Hand und hielt die linke geöffnet vor Bilbo, dieser realisierte erst nach ein paar Sekunden, was von ihm erwartet wurde, und er legte die seine darauf ab. Thorin umschloss sie sanft und strich zweimal sanft mit seinem Daumen darüber. Es fühlte sich anders an als vorher, diese Berührung war vorsichtig, respektvoll, ja mehr noch, sie war liebevoll. Es fühlte sich so an, als würde Bilbo ihm wirklich etwas bedeuten. Und der Halbling liebte die Tatsache, dass er das allein an einer einzigen Berührung ihrer Hände erkennen konnte.

"Gehen wir weiter..." seufzte Thorin, Bilbo nickte und sie beide erhoben sich. 

Gerade, als der Schwarzhaarige auf seinen beiden Beinen stand, schwankte er, so stark, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Stützend griff ihm Bilbo unter die Arme.

"Du hast Schmerzen?" Er wartete die Antwort nicht ab, sondern tastete vorsichtig an die Stelle, an der einst das Schwert Azogs den Körper seines Freundes duchdrungen hatte. Seine zitternden Finger trafen auf etwas Nasses. Etwas Warmes. Blut.

Besorgt blickte er auf die tiefrote Flüssigkeit, die seine Hand überzog, dann wieder in die Augen seines Freundes. "Komm. Wir müssen hier heraus, und das so schnell wie nur möglich. Das muss versorgt werden." 

Er zog das Tuch, mit dem er Thorin an diesem Tag schon einmal versorgt hatte, aus seiner Manteltasche und reichte es ihm, mit der Anweisung, es fest auf die Wunde zu pressen, um den Blutfluss zu verringern. Der Zwergenkönig nahm es nur allzu gerne an.

Er widersprach auch nicht, als Bilbo den schlaffen Arm des Schwarzhaarigen über seine Schulter legte, um ihn zu stützen, und sich dann gemeinsam mit ihm in die Dunkelheit aufmachte.

Seine Schritte fühlten sich plötzlich unfassbar schwer und ungelenk an, ihm war, als wäre er ein kleines Kind, das erst noch lernen muss, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um vorwärts zu kommen. Und er konnte von Glück sprechen, das nicht alleine durchstehen zu müssen.

Während sie so gingen, ab und zu kleinere Umwege aufgrund des umherliegenden Gesteins einschlagen mussten und durch die Schmerzen recht langsam vorankamen, sagten sie nichts. 

Denn in solchen Momenten der Nähe, nicht nur körperlicher, sondern auch geistiger Natur, sind keine Worte vonnöten. Die Stille, die Bilbo zuvor versucht hatte, zu vermeiden, löste in diesem Moment ein angenehmes, kribbelndes Gefühl in ihm aus, und nicht nur in ihm. Und erst jetzt - als wären sie bislang zu blind gewesen, es zu sehen - wurde ihnen bewusst, welch ein Glück sie gehabt hatten. "Wir haben überlebt," flüsterte Bilbo, so leise, dass Thorin es nicht hören konnte. Und diese Erkenntnis ließ beide hoffnungsvoll schlagenden Herzens weiterlaufen. 

Die Finsternis drang tief in den Berg, wie dunkle Tinte in Wasser gemengt verbarg sie alles, was weniger als eine Armlänge von ihnen entfernt war, und hüllte ihre Umgebung in einen schweren Mantel aus schwarzen Schatten und Silhouetten.

Silhouetten, scharfkantig, glimmend und rau. Die Umrisse der Trümmerstücke.

Sie gingen zwischen ihnen entlang, nur langsam, durch die kräftezehrende Wunde und die nicht vorhandene Orientierung.

Irgendwann sah Bilbo etwas. Und er hoffte, es sich nur eingebildet zu haben. Wie in einem Albtraum, meinte er aus dem Augenwinkel Bewegungen zu erkennen. Als würden sich manche der undefinierbaren Schatten regen, die sich bei Licht zweifelsohne den schroffen Felsen hätten zuordnen lassen. Als würde Leben in die Silhouetten kommen.

Doch jedes Mal, wenn er glaubte, solch eine Bewegung erkannt zu haben und den Kopf panisch in deren Richtung drehte, sah er... nichts. Die Schatten waren wieder so kalt, so starr und unbeweglich, wie sie es auch sonst waren.

Und nichtsdestotrotz stieg das unangenehme Gefühl in ihm auf, beobachtet zu werden. Und auch wenn es ihm nicht gefiel, dieses Gefühl verwandelte sich mehr und mehr, je weiter sie gingen. Erst in eine beklemmende Befürchtung, und später in eine unheimliche Gewissheit.

Dem Schwarzhaarigen entging dies selbstverständlich nicht. Er richtete seinen Blick auf den Halbling, der mit verängstigten, hilflosen Augen auf ihre unerkennbare Umgebung starrte, den Kopf drehte, wenn er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben und dessen Atem Schritt für Schritt panischer wurde.

"Meinst du, wir könnten etwas schneller gehen? Ich... ich spüre etwas... Wir werden beobachtet." Ein dringliches Zischen in seinen wispernden Worten ließ den Zwergenkönig beunruhigt und zitternd ausatmen, ehe er seine Kräfte sammelte, um seine geschwächte Stimme zu erheben. Seine Wunde brannte. Ein denkbar schlechter Zeitpunkt, doch er hatte damit gerechnet.

"Wovor fürchtest du dich?"

"Ich weiß es auch nicht so recht. Ich spüre etwas. Irgendetwas. Ich spüre, wie es sich nähert..." 

"Dann lass uns nicht weiter hier verweilen, sondern den Ausgang suchen." Er hatte weder die Kraft, noch das Verlangen, seinen Meisterdieb zu beruhigen. Denn auch er spürte dieses schwere, bedrückende Etwas, das die Luft in dieser Halle erfüllte und mit jedem Atemzug ihre Gemüter ein Stück der wenigen Hoffnung kostete. Und neben dem Licht war Hoffnung hier unten Mangelware.

Dann sahen sie ihn. Der unterirdische See, fast zur Gänze mit Steinen zugeschüttet, die seine glänzend glatte Oberfläche durchbrachen. Wie ein zersplitterter Spiegel, schwarz und trüb. Geheimnisvoll. Angsteinflößend.

Die Orientierung kehrte zu ihnen zurück und Bilbo hörte sich und den Schwarzhaarigen erleichtert aufatmen. Mit deutlich leichteren Schritten traten sie an das Ufer, nur dieses Mal war es schwerer zu erreichen als zuvor, denn der Großteil des Sees wurde von den scharfkantigen Steinen gesäumt und ließ sie nicht passieren.

"Wenn hier der See ist..."

"... dann muss das Tor in dieser Richtung liegen!" vollendete der überglückliche Thorin den Satz und wies mit dem linken Arm in die Dunkelheit. Sie hatten einen Anhaltspunkt. "Wir haben es geschafft!"

Bilbo hätte das warmherzige Lächeln des Größeren von Herzen gerne erwidert, doch die Worte waren nicht an seine Ohren gedrungen. Seine ganze Aufmerksamkeit war etwas anderem gewidmet.

Er blickte auf die Oberfläche des Sees, als hätte er ein Gespenst gesehen. Weshalb war er so skeptisch? Irgendetwas stimmte mit dieser Oberfläche nicht... Irgendetwas war anders als zuvor. Und das lag weder an den Trümmern noch an dem trüben Drachenblut, welches wie tiefschwarze Tinte das sonst so klare Wasser verunreinigte. 

Vorsichtig löste er den Arm um seinen Schultern. Diesen einen Moment würde Thorin auch ohne Stütze auskommen, er musste nur etwas überprüfen... nur kurz. Ohne ein Wort der Erklärung schritt er auf das stille Gewässer zu und kletterte auf einen der schroffen Felsen, die am Ufer des Sees lagen und die Sicht auf ihn erheblich einschränkten. Es war schwierig, mit seinen baren Füßen rutschte er mehrfach auf dem glatten Gestein aus und konnte sich noch in letzter Sekunde an einem kleinen Vorsprung sichern, doch nach kurzer Zeit hatte er das obere Ende erreicht und blickte angestrengt auf die klare, dunkle Wasseroberfläche, in der Hoffnung, zu erkennen, was ihn um den Verstand brachte.

"Was tust du da?"

Er ignorierte die Frage des Schwarzhaarigen und ließ seinen Blick weitergleiten.

Irgendetwas... nur etwas kleines, er müsste nur darauf kommen, um was es sich dabei handelte. Was beunruhigte ihn so an diesem stillen, glatten, pechschwarzen Spiegel?

Im nächsten Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. 

Pechschwarzer Spiegel... "Pechschwarz..." 

Als er meinte, zu begreifen, blickte er benommen, angsterfüllt und mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge auf sein eigenes Spiegelbild, kaum erkennbar durch die Entfernung und die Finsternis.

Er hatte sich an diesem Tag schon einmal darin gespiegelt. Nur hatte zu diesem Zeitpunkt das Spiegelbild noch anders ausgesehen. Als hätte er unter einem Sternenhimmel gestanden, hatte er die silbernen Flüsse der fernen Deckengewölbe neben seinem Abbild wiedererkennen können.

Doch nun waren sie verschwunden. Die Silberflüsse wurden nicht auf dem ebenen  Wasser reflektiert. Die Sterne waren fort. Ihre Lichter erloschen. 

Erloschen, ja. Oder verdeckt. Verdeckt von etwas Großem.

"Sieh nicht zur Decke, Bilbo..." - Das war Thorin.

Der Halbling hörte nichts außer seinem eigenen, kalten, bebenden Atem, als er wie in Zeitlupe seinen Kopf nach oben richtete, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es weise gewesen wäre, es bleiben zu lassen. Und als seine vor Schreck weit geöffneten Augen auf den Grund trafen, aus dem er die Lichter nicht hatte sehen können, verfluchte er sich dafür, nicht auf seinen Verstand gehört zu haben.

Ein Paar blauer, kalter Augen starrte auf ihn hinab. Sie hatte überlebt. Natürlich hatte sie das. Und anders als er angenommen hatte, schienen ihre Flügel noch einwandfrei zu funktionieren.

Bevor der trockenen Kehle des Hobbits ein Schrei entfahren konnte, spürte er, wie er von starken Armen gepackt und ihm eine Hand sanft auf die Lippen gelegt wurde. Thorin zog ihn von seinem Aussichtspunkt weg und hinter eine der wenigen Säulen, die Widerstand geleistet hatten, obwohl er wusste, dass den Augen der Drachenmutter keine einzige Bewegung entging.

Und ein Schauer lief den beiden Verlorenen über den Rücken, als sie sich von dem Deckengewölbe löste und mit den Flügeln schlug, um vor ihnen auf dem Boden zu landen.

Und noch während des Fluges begann sie, zu sprechen.





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Fun Fact: Dieses Kapitel sollte eigentlich gar nicht existieren. 

Vor drei Tagen hab ich gemerkt, dass ich eigentlich überhaupt keine Lust darauf habe, das Kapitel zu überarbeiten, was eigentlich heute an dieser Stelle veröffentlicht werden sollte, und hab daher innerhalb von diesen drei Tagen ein komplett neues Kapitel geschrieben - nämlich das hier. Es ist komisch, ich weiß. Aber ich scheue mich so ein bisschen davor, den Drachen sprechen zu lassen, weil es schon irgendwie schwieriger ist als erwartet.

Ich kann mich irgendwie nicht entscheiden, ob ich heute Abend Sherlock oder Good Omens schauen soll. (Ich weiß, ich hab krasse Probleme...)

Oder ich mach einen entspannten Leseabend (Kuschelsocken, Das Silmarillion, mein Lieblingstee, meine Katze... die perfekte Mischung). Ich weiß noch nicht.

Danke nochmal für Eure Votes und Kommentare, die retten mir immer den Tag.❤

LG
dragon_sickness (Wieso hab ich mich eigentlich so genannt?! xD)

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