Die Entscheidung

Ein einzelner Kronleuchter beleuchtete flackernd den langen, aus massivem Eichenholz gefertigten Tisch. Behutsam fuhr Bilbo mit seinen Fingern über die geschwungenen Schnitzmuster am Rand der Platte. Glatt geschliffen, kalt und matt glänzend reflektierte die Oberfläche das schwache Licht der Kerzen, die über ihren Köpfen leuchteten.

Ohne es zu merken, seufzte er und fuhr mit den Fingerspitzen seiner linken Hand den geschwungenen Zweig eines langen geschnitzten Astes nach, der sich den gesamten Rand der Tischplatte entlangzog. Sein Kopf ruhte auf seiner rechten Hand. Angestrengt kniff er die Augen zusammen. Alles schien vor seinen Augen zu tanzen, seine Stirn brannte und sein Schädel schien jeden Moment zerspringen zu wollen. Er war müde. Todmüde.

Die lauten Stimmen, die den kleinen Raum erfüllten, verbesserten seine Stimmung nicht gerade. In einem schneidend scharfen Echo dröhnten die Worte durch seinen Kopf und vermischten sich mit den Erinnerungen an die letzte Nacht. Irgendwann konnte er sie nicht mehr auseinanderhalten und schüttelte den Kopf, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Für einen kurzen Moment zeigte es Wirkung, doch dann verfiel er wieder in dieselbe Müdigkeit, die ihn schon seit Beginn des Tages erfüllte.

Ungeduldig tippte er mit den Fingern einen Rhythmus auf die Tischplatte, in der Hoffnung, das Geräusch würde ihn wach halten. Doch schon nach wenigen Sekunden wurde auch dies von den lauten Stimmen der anderen verschluckt und er gab auf. 

Der Tisch, an dem er und die zwölf Zwerge saßen, stand in der Mitte des Raumes. Mit halb geschlossenen Augen ließ er seinen Blick durch die Runde gleiten.

Zu seiner Rechten saß Bombur, zu seiner Linken Nori, beide in ein Gespräch vertieft. Sein Blick glitt weiter, über vier weitere Zwerge, bis seine Augen schließlich auf einem leeren Stuhl am Tischende hängen blieben. Der Platz von Thorin. 

Die Zwerge diskutierten angeregt, weshalb sie nicht bemerkten, wie er nachdenklich und gedankenverloren auf den leeren Platz am Ende des Tisches starrte.

Am Morgen dieses Tages war er geweckt worden. Nun - geweckt konnte man es schlecht nennen, denn Schlaf gefunden hatte er nicht. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht und die Konsequenzen quälten ihn jetzt. Noch mehr allerdings der bloße Gedanke an das, was er in der Nacht gesehen hatte. Der bloße Gedanke an ihn. 

Thorin hatte etwas zu verkünden. Das hatte man ihm jedenfalls als Grund für die unangemessen frühe Weck-Aktion genannt, mit dem Hinweis, er solle sich lieber beeilen und zum Versammlungsraum kommen, denn er wartet nicht gerne. Wer mit er gemeint war, konnte sich Bilbo denken. Und jetzt saß er hier. Und er war nicht da. 

Er riss sich vom Anblick des leeren Stuhls los und begann wieder damit, mit den Fingerspitzen die Zweige am Rande des Tisches nachzufahren. Für einen so kleinen Raum war es ein erstaunlich großer Tisch, wie er fand. Gerade groß genug, dass kein anderes Möbelstück im Zimmer Platz hatte und gerade klein genug, dass er den Raum nicht ganz ausfüllte. Er schüttelte erneut den Kopf. Sein Freund ließ auf sich warten und er machte sich Gedanken über die Größe des Tisches... 

"Schlecht geschlafen?" hörte er plötzlich aus dem Meer an Stimmen. Diese Zielgerichtetheit in den beiden Worten ließ ihn erkennen, dass sie an ihn gerichtet waren und er hob seinen Kopf.

Die Stimme kam von Bofur, der ihm gegenüber saß und ihn fragend, fast besorgt ansah. 

Der Hobbit nickte nur müde, zwang sich ein Lächeln auf das Gesicht und gähnte. "Es war verdammt kalt... Das Kaminfeuer ist ausgegangen." Er hielt es nicht für angebracht, seinen kleinen nächtlichen Spaziergang zu erwähnen. Das musste niemand wissen. Das ging nur ihn und Thorin etwas an.

Bofur nickte verstehend. "Ja, die Nächte sind hier kalt. Du wirst dich daran gewöhnen... Wie an so vieles..." Der letzte Satz war lediglich ein Flüstern, ein Seufzen, weshalb sich der kleine Hobbit anstrengen musste, ihn zu verstehen. Es brach ihm das Herz, seine Freunde trauern zu sehen, als hätten sie ihren König verloren. Denn das hatten sie. In gewisser Weise.

Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen, um klare Gedanken fassen zu können. "Weshalb sitzen wir hier?" kam es ihm schließlich über die Lippen und es gelang ihm nicht, seine Müdigkeit zu überspielen. Er hatte bereits eine Ahnung, worum es bei der Versammlung gehen sollte - das nächtliche Gespräch zwischen Dori und Ori war ihm in guter Erinnerung geblieben.

Bofur zuckte milde lächelnd mit den Schultern. "Ich denke, dass jeder hier schon eine Theorie entwickelt hat. Und ich denke, dass sich diese Theorien gleichen. Sei ehrlich - es ist nicht an dir vorübergegangen, dass hier etwas nicht so läuft wie es laufen sollte."

Bilbo schluckte. "Du hast recht."

"Dafür bin ich bekannt." Er lachte, doch das Lachen erstarb schnell wieder.

Der Halbling seufzte. "Sie sagten, es wäre dringend. Wenn es so dringend ist, weshalb lässt er so lange auf sich warten?"

"Nun ja, man mag über ihn sagen, was man will, aber eines hat sich bei ihm nicht geändert: Pünktlichkeit zählt nicht zu seinen Stärken." 

Bilbo lächelte mild. "Nein, wahrlich nicht." 

Erneut seufzte er und betrachtete das geschliffene Holz des Tisches, als hätte er noch nie welches gesehen. Die Zwerge redeten weiter. Bilbo tat so, als würde er sich weiter damit beschäftigen, die Schnitzereien nachzufahren, während er den anderen lauschte. Und immer wieder drangen dieselben Worte an seine Ohren. Worte, die er in der vergangenen Nacht schon einmal gehört hatte. Pfeile. Dracheneier. Thorin. Thal.

Er räusperte sich leise, denn sein Hals war von der kalten Nacht rau und seine Stimme heiser geworden. Die Müdigkeit machte das Warten schier unerträglich. Wie lange denn noch...  

Plötzlich verstummten die Diskussionen. Das kam so unerwartet, dass Bilbo den Kopf hob und fragend in die Runde sah. 

Ein lautes, metallisches Krachen erklang hinter ihm. 

Er schluckte. Das war die Tür. Jemand hatte die Tür geöffnet. Und er wusste, wer dieser Jemand war.

Langsam drehte er sich um.

Ein eiskalter Luftzug schlug ihm entgegen und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Als der hereinwehende Lufthauch den Kerzenleuchter erreichte, erloschen wenige der Flammen mit einem gespenstisch zischendem Geräusch. Das einzige Geräusch, das zu hören war. 

Der kleine Hobbit sah in Richtung Türbogen. 

Dort stand er. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. 

Die aus Gold und Silber geschmiedete Krone reflektierte den schwachen Schein der Kerzen. Einzelne Zöpfe durchzogen die langen, schwarzen Haare, die nur ab und zu von grauen Strähnen unterbrochen wurden. Der lange Mantel, der bis zum Boden reichte, war aus schwarzem, schweren Stoff und mit dunkelblauen Stickereien versehen. Seine Haltung war aufrecht, doch stand in krassem Kontrast zu seinen blassen Gesichtszügen, die von durch Krankheit hervorgerufener Schwäche zeugten. 

Es schien, als würde er die angsterfüllte, ehrfürchtige Stille genießen, während er missmutig in den Raum sah. Als sein Blick den von Bilbo streifte, bereitete es dem Halbling Gänsehaut. 

Nach einer schieren Ewigkeit atmete er tief ein und aus, bevor er schließlich eintrat und die Tür, die er bis zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hatte, mit einem hässlichen Geräusch zurück ins Schloss fiel. 

Dass er noch immer die Rüstung trug, war bei jedem seiner Schritte zu hören. Metallisch klingend hallte das Geräusch seiner Schritte durch den kleinen Raum, während er zu dem Stuhl am Tischende ging. Mit einem Seufzer sank er auf seinen Platz.

Majestätisch. Das war das erste und einzige Wort, das Bilbo durch den Kopf schoss, während er seinen Freund ansah. Majestätisch, aber schwach. Doch diese Schwäche wurde durch den feurigen Blick seiner blauen Augen wettgemacht. 

Eine Weile sagte niemand etwas. Das Lodern der Kerzenflammen war das einzige Geräusch, das zu hören war.

Dann, als hätte er diesen Moment gebraucht, um die Worte zu sammeln, erhob Thorin seine Stimme. Und es ist unnötig zu beschreiben, was dieser verzerrte, hohle Klang im Herzen des kleinen Hobbits auslöste.

"Ich danke Euch für Euer Kommen." raunte er mit tiefer Stimme.

Als ob wir eine Wahl gehabt hätten... 

Thorin sah in die Runde. "Nun, da wir alle beisammen sind, will ich sogleich auf den Punkt kommen. Doch vorerst will ich meinen Dank aussprechen..." er machte eine kurze Pause, in der er neuen Atem schöpfte. 

"... an meinen Meisterdieb." Sein Blick blieb bei dem Hobbit hängen und er sah in seine Augen. 

Dieser wusste gar nicht recht, wie ihm geschah. Auch die anderen Zwerge hatten ihre Blicke nun auf ihn gerichtet und dieser Umstand bereitete ihm umso größeres Unbehagen.

"Aber w-wofür?" stotterte er, während er zurück in die Augen seines Freundes blickte. Auf dem Gesicht desjenigen, den er trotz allem zu lieben gelernt hatte, zeichnete sich ein unerwartetes, warmes Lächeln ab.

"Du bist zurückgekehrt. Trotz allem, was du hier erlebt und überlebt hast. Wie die letzten Ereignisse gezeigt haben, werden wir Hilfe brauchen. Und je mehr auf unserer Seite stehen, desto größer ist unsere Chance auf Erfolg. Nun - du standest immer auf unserer Seite, und deine Rückkehr hat bewiesen, dass du das auch in Zukunft tun wirst. Dafür möchte ich heute im Namen aller unseren tiefsten Dank aussprechen."

Bilbo war sich sicher, dass Thorin in der Lage gewesen wäre, noch Stunden darüber zu sprechen. Der König vermochte es, mit Worten umzugehen, keine Frage. Und er vermochte es, mit diesen Worten Sätze zu formen, die sein Herz jedes Mal aufs Neue höher schlagen ließen.

Vorsichtig erwiderte er das Lächeln, worauf das des Königs nur umso breiter und wärmer wurde.

Er wusste nicht, was er sagen sollte und schwieg. Doch er brauchte nicht zu reden - sein Blick sagte schon alles. 

Dann, als würde Thorin aus einem Tagtraum erwachen, blinzelte er und das Lächeln verschwand. Als hätte er sich bei etwas ertappt, was er nicht beabsichtigt hatte, schüttelte er den Kopf und versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen. Und das konnte er.

"Womit wir beim Stichwort wären." räusperte er sich und stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab. "Die letzten Ereignisse."

Seine Gesichtszüge verfinsterten sich wie von selbst und er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Jedes Mal, wenn er den Blick eines Zwerges kreuzte, sah dieser ehrfürchtig zu Boden, als versuchten sie, ihm auszuweichen.

"Ich habe Euch Bedenkzeit gegeben. Nun ist die Zeit gekommen, mir Eure Entscheidung mitzuteilen."

Niemand sagte etwas. 

Ein drückendes Schweigen entstand.

Irgendwann hielt Bilbo es nicht mehr aus und räusperte sich. "Ent-entschuldigt bitte, aber wäre es eventuell möglich, mich aufzuklären? Um was für eine Entscheidung geht es hier?"

Bofur setzte an, etwas zu sagen, doch Thorin kam ihm zuvor.

"Um eine Entscheidung, von der vieles abhängt. Verzeih, dass wir dich noch nicht aufgeklärt haben. Wie du gestern sagtest, hast du bereits etwas gehört, was diesen unmöglichen Fund in unseren Hallen betrifft."

Bilbo nickte. "Es... es ist mir zu Ohren gekommen, ja. - Nur durch einen Zufall." fügte er noch schnell hinzu, als er Kilis und Filis schockierte Blicke sah. Hatten sie wirklich gedacht, er würde ihrem Onkel von dem Brief und dem Gespräch vor dem Tor verraten? Fast unmerklich stieß Fili erleichtert Luft aus.

"Nun, besonders viel scheinst du dennoch nicht zu wissen. Es sind zwei. Zwei Dracheneier, bereits versteinert wohlgemerkt, wenn man den Worten Balins Glauben schenken kann. Wir fanden sie vor den Gängen zu einem stillgelegten, abgelegenen Teil des Berges, dort, wo schon vor vielen Jahren die Suche nach Erzen aufgegeben wurde. Dieser Teil des Berges besteht aus vielen großen, in den Fels geschlagenen Hallen und Gängen und bietet schon seit Ewigkeiten Raum für den Fall, dass das Gold zum Schutz tiefer in den Berg verlagert werden muss. Bisher war das nicht nötig gewesen." Er stieß einen tiefen, rauen Seufzer aus.

"Mit diesem Fund sind Fragen aufgetaucht. Fragen, wegen denen Ihr hier sitzt. Ziel dieser Versammlung ist es, so gut es geht, Antworten zu finden und dadurch der Lösung um einige Schritte näher zu kommen. Beginnen wir also damit."

Er wandte sich seinem Neffen zu, der zu seiner Linken saß. "Fili, ich habe dir aufgetragen, dich diesbezüglich zu informieren. Was hast du herausgefunden?"

Der Blonde räusperte sich. "Ich fürchte, nichts brauchbares. In den Berichten wird in keinem Zusammenhang ein weiblicher Drache erwähnt, weder in den letzten Monaten noch vor hunderten von Jahren."

Thorin knurrte grimmig. "Dann ist dies die erste Frage, um die es heute geht: Wo befindet sich die Mutter der Drachen?"

Er blickte erneut in die Runde, doch niemand kannte die Antwort. Das war nicht verwunderlich, er hatte damit gerechnet. Und erneut blieb sein Blick auf dem kleinen Hobbit hängen, der nun aufrecht sitzend und aufmerksam dem Geschehen folgte.

"Wie denkst du darüber?" hörte er den Zwergenkönig plötzlich sagen und blickte auf. Als er erkannte, dass die Frage in ihn gerichtet war, geriet er ins Stammeln.

"N-nun, ich denke nicht, dass ich genug über Drachen weiß, um Vermutungen anstellen zu können. Meine Erfahrungen, die ich mit diesen Wesen gemacht habe, halten sich in Grenzen, also..."

"Du hast mehr Erfahrungen mit Drachen gemacht, als die meisten von sich behaupten können. Ich frage dich um deinen Rat. Du bist nun Teil dieser Zusammenkunft und würdest mir sehr helfen, wenn du die Dinge aus deiner Sicht einschätzt."

Der kleine Hobbit räusperte sich erneut, um etwas Zeit zu gewinnen. Schließlich antwortete er, wenn auch unsicher. "Nun, ich weiß zwar nicht viel über Drachen, aber ich hatte immer angenommen, sie würden ihre Eier ausbrüten und sie nicht einfach irgendwo ablegen, nur um dann wieder zu verschwinden. Und die Eier sind bereits versteinert, was bedeuten muss, dass sie nicht in der Lage war, sie auszubrüten. Was in meinen Augen heißen muss, dass sie entweder vor langer Zeit gestorben ist - wo sich auch immer ihr Leichnam befinden mag - oder sie etwas dazu veranlasst hat, ihre Eier zurückzulassen. Was allerdings bedeuten würde, dass sie den Einsamen Berg vor langer Zeit verlassen haben müsste und das wäre sicher nicht unbemerkt geblieben."

Thorin nickte. "Dass sie gestorben ist, liegt also nahe. Allerdings hätten wir dann ihre Überreste gefunden."

Bilbo nickte. "Eine Mutter beschützt ihre Jungen... bis in den Tod. Aber woher stammt sie? Wie konnte sie all die Jahre unbemerkt bleiben? Wie konnte es zu diesen zwei Eiern kommen?"

"Fragen über Fragen. Und zu keiner kenne ich die Antwort. Noch nicht." Thorin erhob sich von seinem Platz und sah dem Hobbit direkt in die Augen. "Vielleicht ist sie aber auch noch am Leben. Diesbezüglich gibt es noch eine dritte Möglichkeit, was den Verbleib der Drachenmutter betrifft."

Bilbo zog eine Augenbraue hoch und sah ihn fragend an, während er in seinem Kopf Theorien spann, um hinter Thorins Gedanken zu kommen. Dann lachte er. "Sie kann sich ja schlecht noch im Berg aufhalten!" 

Dann erstarb sein Lachen, als er erkannte, was er da eben gesagt hatte. Thorin verzog keine Miene, zuckte mit keiner Wimper. Er sah nur mit demselbem durchdringenden, ruhigen Blick in die schockierten Augen des Halblings.

"Moment." sagte der Hobbit, nachdem er in die Runde geblickt hatte und denselben Gesichtsausdrücken bei den anderen gewahr wurde. "Ihr zieht also ernsthaft in Betracht, dass in diesem Berg ein weiterer Drache haust? Ein lebender Drache?"

Ungläubig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schüttelte energisch den Kopf. "Das... das kann nicht sein. Wie hätte er... äh... sie denn all die Jahre unbemerkt bleiben sollen?"

Thorin atmete ruhig aus und antwortete mit monotoner Stimme. "Nun, ihre Eier blieben bis vor wenigen Tagen noch unbemerkt. Hinter unserem Rücken spielt sich mehr ab, als wir vermuten."

Bilbo atmete zitternd ein und wieder aus, während er das, was er gerade eben erfahren hatte, versuchte zu verarbeiten. Es war also wirklich möglich, dass Smaug nicht der einzige Drache im Erebor war?

"Geht es dir gut?" 

Die Stimme seines Freundes riss ihn aus den Gedanken. Offenbar musste er ziemlich blass geworden sein, denn in den Augen des Schwarzhaarigen lag eine ernsthafte Besorgnis.

Der kleine Hobbit räusperte sich. Sein Hals war noch immer rau und es bereitete ihm Schmerzen, weshalb er es sofort wieder bereute. "Ja, ja... alles in Ordnung. Alles bestens. Wenn man von dem Fakt einmal absieht, dass gerade in diesem Augenblick weit unten, in den Tiefen dieses Berges ein lebendiger Drache sein Unwesen treibt oder treiben könnte..." Er sah in die Runde und dann wieder zu Thorin. "Ich dachte, ich würde recht in der Annahme gehen, nach Smaug nie wieder mit derartigen Wesen konfrontiert zu werden."

Der Zwergenkönig seufzte traurig. "Und es tut mir leid, dass es so weit kommen musste."

"Aber noch haben wir keine Gewissheit! Was ist nur mit euch los? Haltet ihr es allen Ernstes für wahrscheinlicher, dass ein lebendiger Drache in all den Jahren in diesem Berg gehaust hat, ohne dass auch nur irgendwer Notiz davon genommen hat?" 

Thorin blieb trotz der aufbrausenden Stimmlage seines Meisterdiebs unerwartet ruhig. "Wir haben allen Grund, davon auszugehen. Der Berg reicht tief. Unser Reich ebenfalls. Somit gibt es genügend Schlupfwinkel für einen Drachen. Weibliche Drachen sind kleiner und leiser... aber nicht weniger gefährlich."

Bilbo versuchte, wieder ruhig zu werden und atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor er antwortete. 

"Aber... Eines verstehe ich nicht ganz..." Er blickte zu den anderen. "Ihr wusstet es bereits, habe ich nicht recht? Ihr wisst es schon seit ein paar Tagen. Das ist auch der Grund, weshalb ihr ruhig auf euren Stühlen sitzt und zuhört, als wäre es etwas komplett normales. Der Grund, weshalb ihr kein Wort sprecht, weshalb ihr nicht einmal mit der Wimper gezuckt habt, als das Wort auf den Drachen in diesem Berg fiel. Ihr habt die Antwort auf die Frage über den Verbleib ebendieses Drachen schon vor einer Weile gefunden und habt diese Frage dennoch heute erneut gestellt, weil ihr hören wolltet, was ich darüber denke. Weil ihr Gewissheit darüber haben wolltet, ob die Vorstellung eines zweiten lebenden Drachen in diesen Hallen hirnrissig oder realistisch ist. Weil ihr Bestätigung in eurer Vermutung brauchtet." 

Er sah wieder zu Thorin. "So traurig es ist, aber... diese Bestätigung kann ich euch leider geben." Er schluckte. "Dracheneier entstehen nicht einfach aus dem Nichts. Und lebendige Drachen verschwinden nicht einfach von jetzt auf gleich. Der Drache muss noch hier sein..."

Eine unangenehme Stille entstand. Bilbo bemerkte, dass er während seiner kleinen Rede aufgestanden war und sank wieder gedankenverloren in seinen Stuhl.  

Auch der Zwergenkönig nahm wieder seinen Platz ein, sein Blick ruhte noch immer auf dem Halbling. "Du hast recht. Wir brauchten Gewissheit. Wir brauchten dich."

Bilbo sah wieder zu ihm auf und sein Herz schlug bei dem herzzerreißend sanftmütigen Blick seines Freundes höher. Es erstaunte ihn nur, dass diese Maske, mit der er die Drachenkrankheit gerne verglich, ihm gegenüber transparent zu werden schien. Als könne er die alten Züge seines alten Freundes darunter erkennen, doch niemals erreichen. Und genau so ein Moment war nun wieder gekommen.

"Kommen wir nun zu der Entscheidung, die ihr treffen solltet." unterbrach Thorin plötzlich seinen Gedankengang.

"Und ihr habt mir noch immer nicht gesagt, um welche Entscheidung es dabei geht." murmelte Bilbo, allerdings laut genug, dass es die Ohren des Zwergenkönigs erreichte.

"Du weißt, mit welcher Waffe Smaug getötet wurde?" 

Der kleine Hobbit nickte. "Ein schwarzer Pfeil. Der einzige Pfeil, der es vermag, einen Drachenpanzer zu durchdringen."

"Das ist das richtige Stichwort, Meisterdieb. Das Durchdringen eines Drachenpanzers. Aber dieses Mal nicht den Panzer Smaugs."

Jetzt war der Groschen gefallen. Es war, als legte sich in Bilbos Kopf ein Hebel um und er hätte vor Freude über die Erkenntnis laut in die Hände klatschen können. Jetzt ergab alles einen Sinn... Das Gespräch von Dori und Ori... Die Pfeile, bei denen es sich offenbar um schwarze Pfeile handelte... Die Unruhe von Bard, der von den Plänen Wind bekommen haben musste... 

"Du... du planst, schwarze Pfeile schmieden zu lassen. Um den Drachen zu töten."

Thorin lächelte. "Du denkst schnell, Meisterdieb."

Einen Moment wusste Bilbo nicht recht, was er sagen sollte. Und was er von den Plänen halten sollte.

"Aber... aber ist das nicht ein wenig voreilig?"

"Keinesfalls. Wir müssen jetzt handeln."

"Und das sehe ich ja auch ein, aber..." er stockte, um seine Gedanken zu sortieren. Schwarze Pfeile waren etwas seltenes. Und vermutlich aus gutem Grund. "Wie... wie sollte das denn funktionieren?"

"Der schwarze Pfeil, der Smaugs tödlichem Atem ein Ende setzte, wurde einst in den Schmieden des Einsamen Berges gefertigt. Vor langer Zeit wurde er zum Erbstück des Hauses Girion, wodurch er schließlich zu Bard gelangte. Es war der letzte schwarze Pfeil und er traf sein Ziel. Und nun liegt er mit den verrottenden Überresten Smaugs in den Tiefen des Langen Sees."

"Ich weiß, ich weiß, aber... es hatte einen Grund, weshalb nur so wenige dieser Pfeile geschmiedet wurden, nicht wahr?"

Der Zwergenkönig nickte leicht. "Oh, nicht nur einen Grund. Diese Pfeile werden nur zu einem einzigen Zweck geschmiedet. Diesen Zweck kennst du bereits. Und die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Pfeile geschossen wird, um ebendiesen Zweck zu erfüllen, ist nicht sehr groß. Man sah keine Notwendigkeit, weitere zu schmieden. Zudem ist ihre Fertigung ein komplizierter und langwieriger Prozess und kann nur von Meistern ihres Faches vollzogen werden. Schwarze Pfeile werden von einer Wildlanze abgeschossen und die einzige passende Wildlanze, die es je in diesem Tal gab, wurde durch das Drachenfeuer vernichtet."

Bilbo schluckte. "Keine guten Voraussetzungen, wie es scheint."

"Das sollte uns nicht abhalten. Es geht nicht darum, ein perfektes Ebenbild dieser Waffe zu erschaffen. Seit drei Tagen arbeiten wir an einem ähnlichen Entwurf für diesen Pfeil, der ebenso tödlich und zielsicher ist, sich allerdings mithilfe eines speziellen Bogens anstatt einer unhandlichen Wildlanze abschießen lässt. Und dieser Entwurf wurde heute Morgen abgeschlossen."

Vereinzeltes aufgebrachtes Murmeln erklang, erstarb jedoch wieder, als sich Thorin erneut erhob und mit finsterer Miene in die Runde blickte.

"Einigen scheinen diese von mir getroffenen Maßnahmen zu missfallen. Ich bin euer König. Doch ein weiser König zieht nicht den Zorn seiner Untertanen auf sich. Teilt mir nun eure Entscheidung mit. Werdet ihr euch der Fertigung dieser Waffen in den Weg stellen? Oder werdet ihr mich unterstützen im Kampf gegen den letzten Drachen, der sich im Zentrum unseres Königreiches eingenistet hat?"

Wieder erklang ein unruhiges Murmeln und Flüstern. Die Zwerge waren sich nicht sicher und Bilbo schon gar nicht.

Diese Vorstellung eines weiteren Drachen im Erebor... Noch hatten sie keine Gewissheit. Keine Hinweise, außer die beiden Eier. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein lebender Drache in den Tiefen des Berges befand, war ebenso groß, wenn nicht aber kleiner als die Wahrscheinlichkeit, dass sie keinen Drachen dort vorfinden würden. Voreilig, das war es. Würde es tatsächlich einen zweiten Drachen geben, so hätten die Zwerge das doch mit Sicherheit gemerkt, oder etwa nicht? Und mit keinem Wort hatte der Zwergenkönig bisher die wachsende Unruhe Thals und ihres Fürsten erwähnt, die bei dem nächtlichen Gespräch zwischen Dori und Ori thematisiert wurde, obwohl er es wissen musste. 

Er sah zu den anderen. Offenbar war er nicht der einzige, der derartige Gedanken hegte. Plötzlich stand einer der Zwerge auf. Und Bilbo überraschte es nicht, als er erkannte, dass es Balin war.

Thorin sah ihn erwartungsvoll an. "Dann sei du der Erste, der mit seine Entscheidung unterbreitet."

Der Zwerg räusperte sich. "Ich... ich erachte diesen Schritt nicht als den richtigen."

Schweigen. Der Zwergenkönig hatte die Arme auf den Tisch gestützt und sah ihn herausfordernd an, sagte jedoch nichts. Er wartete auf eine Erklärung.

"Sollten in den Schmieden wieder Pfeile dieser Art geschmiedet werden, so sollten wir mit offenen Karten spielen. Du kannst es den Menschen von Thal nicht länger vorenthalten! Du hast Bard vor unseren Toren weggeschickt, ohne ein Wort der Erklärung. Sollte sich in diesem Berg ein weiterer lebender Drache befinden, so haben diese Menschen ein Recht darauf, es zu erfahren. Sie wissen nicht, woran sie sind. Nur ein Fehler, Thorin, nur ein Fehler und der Drache wird erneut ihre Häuser in Schutt und Asche legen, ohne dass sie seine Existenz auch nur erahnen konnten."

Thorin blieb erstaunlich ruhig. Mit monotoner, tiefer Stimme antwortete er. "Was sollte ich also deiner Meinung nach tun?"

"Wenn es mir gestattet ist... Ich habe eine Bedingung. Ich werde der Fertigung dieser Pfeile nicht weiter im Weg stehen, wenn die Menschen Thals und vor allem ihr Fürst Bard von der Situation erfahren. Bard weiß von unseren Plänen und du weißt das. Du denkst, einer von den deinen hätte es ihm gesagt, doch du irrst dich. Es war dein eigenes Verhalten und Handeln, welches dein Vorhaben verriet."

"Mein Vorhaben? Du sprichst nicht von unserem Vorhaben? Das, worüber wir hier reden, betrifft auch dich. Bist du etwa von meiner, von unserer Seite gewichen? Ein weiser König würde Verrat bestrafen."

Jetzt konnte Bilbo nicht mehr anders und sprang von seinem Stuhl auf.

"Hörst du dich eigentlich reden? Verstehst du überhaupt, was du da sagst? Balin ist kein Verräter! Das ist niemand von uns! Er hat dir seine Bedingung genannt, mehr nicht! Warum lässt du ihnen die Entscheidung, wenn du sie am Ende doch nicht akzeptierst?"

Thorin sah den Halbling wütend an. Seine Augen funkelten vor Zorn. Doch irgendetwas in ihm hinderte ihn daran, etwas zu erwidern, er wandte seinen Kopf wieder Balin zu und tat so, als hätte er die Worte des Hobbits nicht gehört. Denn sie schmerzten. Sie brannten. Stärker noch als Drachenfeuer.

"Sprichst du nur für dich oder auch im Namen der anderen?"

Keine Antwort. Balin sah betreten zu Boden. Dann, als wäre das ein vereinbartes Zeichen, erhoben sich langsam und nacheinander die anderen Zwerge.

Für Thorin war das Antwort genug. "Was ihr fordert, ist maßlos. Niemand darf etwas von der Existenz dieser Waffen und des Drachen erfahren. Ihr werdet mit den Schmiedearbeiten beginnen. Noch heute! Dies ist mein letztes Wort!" Um das Gesagte zu betonen, schlug er mit der geballten Faust so hart auf den Tisch auf, dass Bilbo schon befürchtete, er würde unter der Zorneskraft zersplittern. 

Dann schob der Zwergenkönig seinen Stuhl beiseite und wollte in Richtung der Tür gehen, doch der kleine Hobbit kam ihm zuvor. Noch immer versuchend, zu verarbeiten, was gerade vorgegangen war, sprang er von seinem Platz auf und stellte sich dem König in den Weg.

"Das kann nicht dein letztes Wort sein!"

Thorin blieb abrupt vor ihm stehen und starrte ihn ungläubig mit vor Wut funkelnden Augen an. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet. Eine Weile sahen sich die beiden wortlos an und lieferten sich ein stummes Duell. Wenn Blicke töten könnten...

"Geh mir aus dem Weg!" zischte er nach ein paar Sekunden. 

"Oh nein! Nicht, bevor das hier geklärt ist!"

Plötzlich lachte Thorin auf. Es war ein bitteres, hasserfülltes Lachen und es wurde in einem gespenstischen Ton von den Wänden zurückgeworfen.

"Dann fang an, Halbling! Sag mir, was sollte ich deiner Meinung nach ändern?"

Bilbo atmete zitternd aus, bevor er antwortete. 

"Balin hat recht. Er spricht uns allen aus der Seele und tief in dir drin weißt du das auch. Du weißt, dass wir die Menschen von Thal nicht blind in ihr Verderben stürzen können..."

"So weit wird es dank der Pfeile nicht kommen!"

"... und du weißt, dass sie uns helfen könnten. Wenn sie erst einmal erfahren, was hinter ihrem Rücken vor sich geht, dann werden sie alles daran setzen, uns zu helfen, denn es geht auch um ihr Schicksal!"

Sein Gegenüber schnaubte verächtlich. "Ich werde keine Hilfe von Menschen annehmen. Dies ist mein Königreich. Dies ist meine Verantwortung. Was meinst du, werden ihre Bedingungen sein? Denkst du nicht auch, dass sie sich ihre Hilfe in Gold und Silber aufwiegen lassen werden? Gold und Silber aus meinem Erbe?"

Bilbo stand fassungslos da und schnappte nach Luft. "Unser aller Schicksal steht auf dem Spiel und du denkst nur an dein Erbe! So weit wird es nicht kommen und selbst wenn, was sind schon ein paar Münzen gegen unzählige Leben? Meinst du nicht, dass ihnen ihre Zukunft wichtiger sein wird als dein Gold?"

"Menschen sind gierig. Hat man ihnen einmal etwas gegeben, so denken sie, man würde es jederzeit wieder tun. Einen Vierzehntel Anteil an meinem Schatz und den Wiederaufbau ihrer Stadt habe ich ihnen bereits gezahlt, und jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Bei jeder Gelegenheit versuchen sie, ihren neu gewonnenen Reichtum zu erweitern. Doch nicht mit meinem Gold! Nicht mit meinem Erbe! Nicht mit mir!"

Mit diesen Worten ging er einen Schritt auf den Halbling zu, doch dieser wich nicht von der Stelle. Stattdessen rollte ihm eine Träne die Wange hinab.

"Was ist nur aus dir geworden..." hauchte er, so leise, dass es nur Thorin verstand.

Diese Worte erzürnten den Zwergenkönig so sehr, dass er zu keinen Worten mehr fähig war. Stumm und hasserfüllt holte er aus und stieß Bilbo beiseite, wodurch er der Länge nach auf den Boden fiel. 

Das metallische Krachen der Scharniere hinter seinem Rücken verriet ihm, dass sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

Die Zwerge, die bis zu diesem Moment noch mit gesenktem Haupt an dem Tisch gestanden hatten, eilten nun zu ihm und halfen ihm auf die Beine.

Doch er hörte ihre Worte des Mitleids nicht. Er hörte nur den gespenstischen Widerhall dieser Stimme. Sah nur das blasse Blau dieser stechenden Augen. Spürte noch immer den kalten Atem auf seiner Haut.

Und diese Gedanken sollten für den Rest des Tages nicht verschwinden.







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Endlich.

Sind.

Ferien.

Und das heißt, ich werde sehr viel Zeit haben, zu schreiben. 🙂 Nur irgendwie bin ich in letzter Zeit nicht gerade motiviert, vor allem, weil mir in ein paar (zum Glück noch nicht veröffentlichten) Kapiteln ein echt krasser Handlungsfehler aufgefallen ist und ich den erstmal ausbügeln muss... ups. 😅 Aber wer weiß, vielleicht kommt das nächste dann schon in einer Woche.

Also, wir sehen... äh... lesen uns!

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