Das Unmögliche

"Er will dich sehen." 

Bilbo sah auf und seine Augen trafen auf Kili, der aus irgendeinem Grund nass bis auf die Knochen war. Einzelne Perlen kalten Regenwassers tropften von seinen Haaren und Kleidern auf den steinernen Boden. 

Nachdem der Halbling ihn für einige Sekunden schweigend betrachtet hatte, richtete er seinen Blick wieder auf den rabenschwarzen Himmel, den die Gewitterwolken vor seiner Zeit verdunkelt hatten. Ein Blitz durchbrach die schwere, nasse Sphäre und kurz darauf erklang der Donner, langgezogen und grollend wie das Knurren eines gigantischen, ausgehungerten Tieres, das zum Sprung auf seine Beute ansetzte.

"Ach ja?" sagte er leise, als das Grollen verklungen war. Er hatte Thorin seit dem Morgen und seit dem Schlag nicht mehr gesehen; nun war es später Abend, die Drachenkinder waren in einen leeren Raum geschafft, der Küchenboden war gesäubert, zerbrochene Schüsseln, Töpfe und Möbel waren repariert oder entsorgt worden. Es war ein langer Tag gewesen. Ein seltsamer Tag.

Er biss sich auf die Lippe, zupfte an den Ärmeln seines Hemdes, ohne es zu merken, schloss die Augen, lauschte dem Regen. Dem Donner. Dem Knurren. 

"Hör mal, Bilbo..." Der Halbling öffnete die Augen wieder und Kili fuhr fort. "Niemand wird dich zwingen, zu ihm zu gehen. Ich kann ihm ausrichten, dass du nicht willst, wenn du es nicht selbst tun möchtest." 

Bilbo lachte kurz und tonlos auf, und der Klang gefiel ihm nicht, er passte nicht zu ihm. Er räusperte sich, spürte etwas Salziges auf seiner Zunge. "Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich ihn nicht sehen will?"

Eine kleine Pause entstand. Bilbo sah ihn nicht an, doch er sah aus dem Augenwinkel, dass sich Kili nicht rührte, und nur langsam von einem Fuß auf den anderen wippte. Er hatte verstanden, was Bilbo mit seiner rhetorischen Frage hatte bezwecken wollen, und daher kostete es ihn einige Zeit und einige Überwindung, weiterzusprechen.

"Er war sehr seltsam, als er mich bat, dich zu holen."

Bilbo drehte den Kopf zu ihm und zog eine Braue hoch. "Soso, er war seltsam."

"Nein, nicht auf diese Art", sprach der Zwerg schnell weiter, "es war vielmehr... Wüsste ich es nicht besser, so würde ich meinen, er möchte Abschied nehmen."

Der Hobbit sah wieder aus dem geöffneten Fenster. "Abschied nehmen", wiederholte er, langsam, flüsternd, in den kalten, dunklen Regen hinein. "Wie es scheint, kann er Gedanken lesen."

"Gedanken lesen?"

"Ich habe dasselbe vor. Ich habe Heimweh. Ich... ich denke, ich werde gehen." Er hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, darüber nachzusinnen, und er hatte die Entscheidung erst vor wenigen Minuten, bei Kerzenlicht und einer Tasse Kräutertee getroffen. Sie nun so auszusprechen tat mehr weh als er vermutet hatte, denn als er es aussprach, fühlte er sich wie ein Schauspieler; wie ein Lügner. Nein, er wollte nicht gehen. Und ja, er hatte Heimweh, doch was ist schon Heimweh gegen das Gefühl, gebraucht zu werden? Er hatte diese Entscheidung getroffen, weil er meinte, dieses Gefühl hätte ihn getäuscht, genau so, wie er sich in Thorin getäuscht hatte. Er atmete tief ein, ehe er weitersprach, denn die Stille behagte ihm nicht.

"Du bist der erste, der es erfährt, Thorin wird der zweite sein. Ich hatte befürchtet, es würde schwer werden, es ihm beizubringen, doch wenn er selbst vorhat, sich von mir zu verabschieden, erleichtert das tatsächlich einiges."

Er musste gestehen, dass ihn die Tatsache verletzte, dass Thorin ihn nicht mehr an diesem Ort wissen wollte; vor wenigen Tagen erst hatte er ihm schließlich unter Tränen gestanden, seine Anwesenheit würde ihm helfen. Durch diesen Schlag vor ein paar Stunden war er einen Schritt zu weit gegangen. Doch wenn Bilbo ganz ganz ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, so hätte er einsehen müssen, dass ihn nur ein Wort, nur ein vertrautes Lächeln, und nur ein Blick in diese altvertrauten blauen Augen gereicht hätte, um seinen Entschluss zu vergessen und zu bleiben. 

Er zuckte kurz zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. "Ich werde es ihm sagen, wenn du magst." Bilbo nickte, es war wie ein Reflex. Doch als Kili die Hand von seiner Schulter nahm und Anstalten machte, den Raum wieder zu verlassen, kam irgendetwas in ihm hoch, das ihn dazu veranlasste, sich zu korrigieren.

"Nein, ich... werde es selbst tun. Es würde sich falsch anfühlen, es ihm nicht selbst zu sagen. Er ist immer noch mein Freund, oder er war es zumindest."

Kili nickte langsam. Seine Mundwinkel zuckten, und auch wenn das vertraute Lächeln ausblieb, so reichte diese Regung, und der Halbling fühlte sich ein klein wenig leichter. "Ich glaube, das ist die richtige Entscheidung", sagte der Zwerg leise.
"Er ist-"

"Ich weiß, wo er ist", unterbrach ihn der Hobbit, sprang von der Bank vor dem Fenster und griff nach seinem Mantel.

~~~

Als Bilbo die schwere, metallene Tür passiert hatte, fiel sie wie von selbst ins Schloss. Ein langgezogenes, stöhnendes Donnergrollen hieß ihn willkommen, ein leichter, milder Windzug trieb ihm Regentropfen in die Augen, eine schwere, kalte Nässe setzte sich auf seiner Kleidung und seinen Haaren ab. Er blinzelte dem fahlen Licht des Mondes entgegen, der sich durch die dicke, schwarze Wolkendecke nur als verwaschener, weißlich glimmender Fleck von der Schwärze des Gewitterhimmels abhob.

Thorin hatte sich über die schmale Mauer gelehnt, sein Kopf war gesenkt, vermutlich beobachtete er das Tal wie ein stummer Wächter, und doch schien es so, als würde er die fernen Lichter, das bläulich glimmende Relief, die wogenden Wipfel vereinzelter Bäume nicht sehen, sondern als wäre er in sich gekehrt, in sich gefangen. Ob er das dumpfe Schnappen der Tür vernommen hatte, ließ sich nicht sagen, denn er stand mit dem Rücken zu ihm.

Bilbo fasste sich ein Herz und näherte sich der dunklen Gestalt, das kalte, platschende Wasser unter seinen baren Füßen ließ ihn erschaudern. Er erreichte ihn nach wenigen Schritten, lehnte sich auf dieselbe Weise über die Brüstung wie Thorin es tat und schwieg. 

Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Schwarzhaarige ihn für wenige Sekunden musterte und seinen Blick wieder auf das Tal richtete. Doch er sprach nicht.
Eine kleine Weile standen sie so da, schweigend, und während sie standen, fiel Bilbo auf, dass er es in gewisser Weise genoss. Und dieser Gedanke verwirrte ihn.
Ein Blitz zuckte über das schwer verhangene Gewölbe.

"Ist ein bisschen nass hier", bemerkte er.

"Ein wenig, ja."

Der Halbling fuhr sich mit dem Ärmel seines Mantels über das Gesicht, doch er war so klitschnass, dass es kaum etwas brachte. "Warum hier, Thorin?" fragte er nach einer kleinen Ewigkeit, drehte sich zur Seite, sodass das Tal aus seinem Sichtfeld verschwand, und studierte das Profil des Schwarzhaarigen.

Thorin blickte zurück. Er hatte geweint, bemerkte Bilbo. Er wirkte gebrochen.

Als sich ihre Blicke fanden, zuckten Thorins Mundwinkel. "Ich könnte lügen, und sagen, es wäre der Aussicht wegen, doch wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, der Regen könnte meine Tränen verbergen."
Als hätte er erst im Nachhinein gemerkt, was er gesagt hatte, schüttelte er den Kopf über sich selbst und senkte den Blick. "Albern, nicht wahr?"

Sie sahen wieder ins Tal.

Nach einer Spanne von wenigen Sekunden fühlte sich Bilbo, als müsste er etwas sagen. "Ich werde dir eine einzige Chance geben, bevor..." Er stockte. Bevor ich gehen werde, das hatte er sagen wollen, doch er sprach es nicht aus, da er die Befürchtung hatte, Thorin könnte es missverstehen und sich übergangen fühlen, und weil er sich selbst mit einem Mal nicht mehr so sicher in seiner Entscheidung war. "Eine einzige Chance, mir etwas zu erklären. Etwas, was ich nicht verstehe und noch nie verstanden habe."

Thorin sah ihn an, als hätte das Wort 'Chance' etwas in ihm erweckt, vielleicht war es Hoffnung, vielleicht war es das nicht. "Verrate mir, wovon du sprichst, und ich werde mein bestes geben."

Bilbo nickte. "Ich spreche von dir." Falls Thorin darüber überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. "Wer bist du?" setzte der Halbling nach, nicht sicher, ob sein Gegenüber die Intention seiner Frage richtig zu deuten wusste.

"Ich bin... Thorin Eichenschild", antwortete dieser nach einer Weile nachdenklichen Schweigens. Ein Blitz zog über den schwarzen Himmel, der Regen wurde stärker, sickerte durch ihre Haare, ihre Mäntel, die bläulich glimmenden Regenschleier, die in den kalten Böen tanzten, wurden dichter, weiter, verliehen der Natur etwas Transzendentes, Geisterhaftes. Der Schwarzhaarige fuhr fort. "Doch ich weiß, dass ich das nicht immer war und nicht immer bin und nicht immer sein werde."

Bilbo nickte wieder, doch dieser Satz genügte ihm nicht, und er fuhr fort. "Was meinst du damit?" Dass er wusste, was Thorin damit meinte, spielte keine Rolle; er wollte es aus seinem Mund und mit seinen Worten hören, solange es noch seine waren.

Zu seinem Bedauern wandte sich der Schwarzhaarige wieder dem Tal zu, und er war gezwungen, es ihm gleich zu tun, während er dem tiefen Rumoren des Gewitters und der von Tränen raue Stimme seines Freundes lauschte, die ab und zu schwieg, um dem Geräusch des Donners zu weichen, und dann wieder einsetzte, als hätte er die Zeit gebraucht, um in sich zu fühlen, in sich zu sehen. "Manchmal sind es nur Momente; kurze Augenblicke, in denen ich beginne, mich zu verändern, manchmal werden Minuten daraus, manchmal Stunden, Tage, Wochen. Befreie ich mich daraus, so erinnere ich mich nicht mehr daran, doch diese Stunden, Tage und Wochen haben mich so verändert, dass ihre Folgen nun spürbar werden. Ja, ich habe mich verändert. Ich bin es nicht würdig, die zerbrochene Krone meiner Ahnen zu tragen. Ich schaffe es nicht einmal mehr, in deine Augen zu sehen, aus Furcht, ich könnte Angst in ihnen erblicken."

Vielleicht war das der Grund, aus dem er ihm nicht in die Augen sah, vielleicht war es das nicht. Wenn es so war, so beunruhigten Bilbo diese Worte, denn er kannte den Schwarzhaarigen als jemanden, der sein Handeln nicht auf Furcht begründete. Er schwieg für eine Weile, folgte Thorins Blick und sah, dass er ins Nichts führte. 

"Ich hatte früher immer das Gefühl, du hättest gerne in meine Augen gesehen." Es fühlte sich seltsam an, es zu sagen, und als er es ausgesprochen hatte, fragte er sich, ob dieser Satz tatsächlich notwendig gewesen war.

Wie es schien, war er das. "Früher..." raunte Thorin und schloss die Augen. "Wenn du von früher sprichst, spüre ich etwas, doch es sind keine Erinnerungen. Es sind Gefühle, doch ich weiß nicht mehr, von welcher Natur."

"Gefühle?" fragte der Halbling und musterte ihn von der Seite.

Thorin sah nach unten. "Ich... ich kann es nicht beschreiben."

"Versuche es."

"Ich bin kein Poet."

"Bitte."

Er wusste, er hatte nur eine Chance. Eine Chance, und keine Wahl. Und so fügte er sich, auch wenn es ihm nicht behagte, so tief in sich zu sehen, und hätte ihn ein anderer als Bilbo darum gebeten, so hätte er nicht geantwortet. Er schluckte und begann, zu sprechen.

"Stell dir vor, du säßest in einem Zimmer. Die Wände sind schwarz gestrichen, die Fenster sind vermauert; alles, was du sehen kannst, ist eine Handvoll goldenes Sonnenlicht, das durch den schmalen Spalt unter der Tür auf der anderen Seite des Raumes fällt. Du willst danach greifen, doch du kannst es nicht, du willst es ertasten, doch du kannst es nicht. Alles, was dir übrigbleibt, ist, an deinem Platz zu bleiben und dir in Gedanken auszumalen, wie es sich anfühlen würde, dieses warme, lebendige Licht auf deiner Haut zu spüren. Der Gedanke daran fühlt sich an wie ein Traum, denn er ist zu schön, zu perfekt, um wahr zu sein."

Bilbo legte den Kopf schief und studierte seine Züge, sah, wie Thorin die Augen schloss, als versuchte er, seinen Blicken auszuweichen. Vielleicht war es auch nur wegen dem Regen. Vielleicht wegen beidem. Der Meisterdieb schüttelte langsam den Kopf, während er ihn betrachtete. "Es müsste nicht nur ein Traum bleiben. Du brauchst diese Tür nur zu öffnen."

"Das kann ich nicht. Ich bin durch schwere Ketten an diesen Raum gebunden, und ich erinnere mich, dass ich sie selbst schmiedete." Und mit einem Mal drehte er den Kopf und sah ihm in die Augen. "Aber du...", begann er mit bebender Stimme, "du könntest diese Tür öffnen. Du kannst zurück in dein früheres Leben, zurück zu diesem Licht. Du hast diese Chance, weshalb ergreifst du sie nicht?"

Bilbo musste nicht lange überlegen, ehe er antwortete. "Ich habe eine Chance, aber keine Wahl. Deine Ketten sind nur Metaphern, Thorin. Sie sind nicht real, und wären sie echt, so wären es auch die meinen."

"Wenn es keine Ketten sind, die dich halten... Was hält dich dann hier?"

Was mich hier hält? Bilbo ließ von der Brüstung ab, als wäre es ein natürlicher Reflex, und sah in diese flehenden, blauen Augen, die nach einer Antwort in den seinen suchten. 

"Wenn du das nicht weißt, Thorin, dann..." 

Er musste den Satz nicht zu Ende sprechen, damit sein Gegenüber verstand, dass er der Grund dafür war. Ein Donnern ertönte, die Tropfen fielen dichter, wurden schwerer. Einen Moment lang sagte der Schwarzhaarige nichts, und dieses Nichts bereitete ihm Schmerzen. 

"Ich habe dich geschlagen", sagte er, als der Moment verstrichen war. Als er es ausgesprochen hatte, stiegen Tränen in seine blassen Augen, doch er schloss sie nicht, obwohl sie hinter seinen Lidern brannten. 

 "Ich habe dich geschlagen", wiederholte er, doch seine Stimme brach unter den Tränen. "Und ich habe es in dem Moment, in dem ich es tat, auch gewollt. Ich wollte dich leiden sehen."

Er senkte den Blick und vergrub sein glühendes Gesicht in seinen zitternden Händen, und obwohl es notwendig war, tat er es nur widerwillig, als würde er sich dafür schämen.
"Verschwinde", raunte er. "Bitte. Geh zurück. Geh zu dem Ort zurück, der dir das geben kann, was du suchst. Finde jemanden, mit dem du glücklich werden kannst. Sorge dafür, dass deine Träume wahr werden."

Bilbo schüttelte den Kopf und senkte den Blick. "Ich will nicht, dass meine Träume wahr werden. Sie sind voller Schatten."

"Sie können nicht dunkler sein als die dieser Mauern. Die Schatten in mir." 

Sachte, als wäre sein Handeln an eine unerfüllbare Bedingung gebunden, trat er einen Schritt auf den kleinen Hobbit zu. Er hätte es verstanden, wenn Bilbo daraufhin einen Schritt zurückgewichen wäre, doch er blieb an seinem Platz und sah stumm zu ihm auf, mit diesen traurigen, unschuldigen Augen.

"Es wird der Tag kommen, an dem du vergisst, dass ich einst anders war. Wenn du begreifst, dass ich mich nicht mehr ändern werde, wenn du begreifst, zu wem ich geworden bin... Wenn du beginnst, zu verstehen, dass die Dunkelheit ein Teil von mir geworden ist... Dann ist es auch für dich zu spät. Und bei Mahal, ich würde lieber tausend Schlachten schlagen als das mit ansehen zu müssen."
Er fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht, senkte seinen Blick und seine Stimme, sodass sie sanfter und raunender klang; es war die Stimmlage, die man bei einem Schlaflied erwarten würde, doch sie klang so schwach, flehend und gebrochen, dass Bilbo Tränen in die Augen stiegen, als er seine Worte vernahm.
"Verschwinde. Vertrau mir nicht mehr. Zieh deiner Wege, verlasse die meinen.
Versprich es mir."

Der Halbling spürte, wie er zitterte. "Thorin, ich..." Er schüttelte langsam und widerwillig den Kopf, ohne seinen Blick von ihm abzuwenden, und als er weitersprach, versagte seine Stimme.
"Wie könnte ich dir so etwas versprechen?"

Thorins Mundwinkel zuckten kurz, doch es  geschah auf eine Weise, die Bilbo nicht gefiel und die ihn trauriger werden ließ, als er ohnehin schon war. "Hast du Beorns Eichel noch?"

Bilbo nickte bevor er nachdachte, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um zu verhindern, dass ihm ein Schluchzen entfuhr. Er sah, wie Thorin lächelte. Es war das Lächeln, das er vom Rabenberg kannte, damals, als er die erkaltende Hand seines Freundes gehalten und in seine verblassenden Augen gesehen hatte. Er konnte dem Brennen in seiner Kehle nicht länger widerstehen und begann, zu weinen, während der Schwarzhaarige weitersprach.

"Pflanze sie in deinen Garten. Sieh ihr beim Wachsen zu. Und versprich mir, dich an mich zu erinnern, jedes Mal, wenn du sie ansiehst. Nicht an den Thorin, zu dem ich geworden bin, sondern an den, der ich einst war. An Thorin Eichenschild. Würdest du das für mich tun?"

Bilbo sah zu ihm auf. "Wenn ich jetzt ja sage, hieße das, Abschied zu nehmen. Thorin... willst du wirklich, dass ich auf diese Bitte mit einem Ja antworte?"

"Es spielt keine Rolle, was ich will."

"Oh doch", erwiderte Bilbo mit einer Stimme, die er sich nicht zugetraut hatte. "Doch, Thorin, und lass dir von niemandem das Gegenteil sagen. Ich frage dich noch einmal und ich verspreche dir, deiner Bitte Folge zu leisten, wenn du mir eine Antwort gegeben hast. Ich werde gehen, wenn deine Antwort mir Grund dazu gibt. Ich gebe dir mein Versprechen." Er zwang sich, sich zu beruhigen, atmete die kalte, schwere Regenluft einmal ein und wieder aus, und stellte seine Frage.
"Was willst du wirklich, Thorin?"

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, gerade so, als wäre er gezwungen, ein Rätsel zu lösen, an dessen Lösung selbst die Weisesten verzweifelt und gescheitert waren. Doch Thorin schwieg nicht, weil er nicht wusste, was er wollte, er schwieg gerade weil er es wusste. Er schwieg, weil er die Lösung dieses Rätsels kannte, er schwieg, weil er Gefahr lief, etwas zu verlieren, das sehr viel kostbarer war als alles, was er besaß, sollte er eine Antwort geben.
Die Sekunden verstrichen, und als er meinte, es sei an der Zeit, schloss er die Augen, denn er wollte Bilbo nicht ins Gesicht sehen, wenn er es erfuhr.

"Das Unmögliche", sagte er.

"Dich."

Und als dieses Wort Thorins Lippen verließ, schien der Regen für einen Moment zu verebben und der Donner zu verstummen, als würde die Natur ihren Atem anhalten.
Bilbo sagte nichts. 

Alles, was er hören konnte, war eine kleine, wispernde Stimme, die in seinem Kopf widerhallte wie die Erinnerung an einen Traum. Mich? Der kalte Regenwind zerschellte an der Mauer seiner Gedanken, er spürte ihn nicht. Er konnte die Kälte nicht fühlen, er zitterte nicht länger. In ihm stand es still.

Thorin öffnete die Augen und sah in die seines Gegenübers und es war genau der Anblick, den er erwartet und gefürchtet hatte. Bilbos Lippen waren leicht geöffnet, seine Brauen gewölbt, und er missdeutete diesen Blick, weil er ihn missdeuten wollte. Er schluckte die Tränen herunter und begann, zu sprechen, aus Angst, sein Freund könnte es vor ihm tun. Und als er sprach, sprach er so schnell, dass es an einem Wunder grenzte, dass ihm weder Atem noch Worte ausgingen.

"Jetzt habe ich ausgesprochen, was ich mir verboten habe, und es fühlt sich schlimmer an als ich befürchtete. Ich will nur, dass du weißt, dass mir klar ist, dass du dich gleich umdrehen und gehen wirst, und ich werde dir keinen Vorwurf machen, ich kann es verstehen. Du fragtest mich, was das sollte, gestern, unter den Nadelbäumen, und weißt du was? Ich wollte dich küssen, und wie ich dich küssen wollte, verdammt, und ich hätte es nicht gekonnt, selbst wenn Kili nicht gekommen wäre. Ich weiß nicht, was du mit mir machst, und wie du es tust, aber jedes Mal, wenn ich dich sehe, fühle ich mich so anders, und ich wusste eine lange, lange Zeit nicht, warum. A-aber jetzt weiß ich es, und ich schäme mich dafür, dich mit solchen Augen zu sehen und solche Gedanken über dich zu haben. Ich war ein Narr, und ich wusste es. So lange habe ich diesen Moment gefürchtet, so lange habe ich auf ihn gewartet, und ich habe nicht gewollt, dass du es so von mir erfährst." 
Seine Haare und Wangen waren nass von Regen und Tränen, doch er sprach weiter, und seine Stimme brach. 

"Ich liebe dich", sagte er und sah in seine Augen, legte so viel Gewicht in jedes dieser drei Worte, dass ihn ein weiterer Schwall Tränen dazu zwang, für einen kurzen Moment innezuhalten. "Ich liebe dich, weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet nichts, rein gar nichts. Denn es spielt keine Rolle; du wirst jetzt gehen und du hast keine Wahl, du hast mir dein Versprechen gegeben. Alles, was ich gerade gesagt habe, ist nicht von Bedeutung. Bitte, sag nichts", flüsterte er mit einem letzten Blick in Bilbos Augen, bevor er den Kopf senkte und sich weigerte, ihn wieder zu heben.

"Bitte dreh dich um und geh. Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen."

Ein seltsames Schweigen senkte sich auf die Kulisse nieder, und Bilbo brauchte lange, ehe er begriffen und verstanden hatte, dass er sich nicht in einem seiner Träume befand, und ehe er sich erinnerte, dass er des Sprechens fähig war.

"Weshalb... weshalb hast du nie etwas gesagt?" stotterte er, doch er kannte die Antwort auf seine Frage besser als er sich eingestehen wollte, und er fühlte sich wie ein Narr, sie überhaupt gestellt zu haben. 

Thorins Augen waren geschlossen, sein Kopf war noch immer gesenkt, sodass ihm die nassen, schwarzen Locken ins Gesicht fielen. "Bitte, geh. Sieh mich nicht an, ich ertrage es nicht. Du hast mir dein Wort gegeben." Er unterdrückte ein Wimmern und  senkte seine Stimme zu einem flehenden, heiseren Flüstern. "Bitte..."

Wie hätte Bilbo dieser Bitte nachkommen können? War es das, was Thorin dachte? Dass er sich von ihm abwenden würde? Wenn das, was er gerade gesagt hatte, wirklich wahr war, dann... Er führte diesen Satz nicht zu Ende, verlor sich hilflos im Labyrinth seiner Gedanken. 

Er wollte etwas entgegnen, doch er hatte vergessen, wie man das tat und seiner Kehle entfuhr nicht der geringste Laut. Der Wind begann, stärker zu werden, ein Schwall eisiger Regentropfen schlug ihm ins Gesicht und wusch es von den Tränen rein. Er schüttelte sich, sah wieder zu Thorin und fasste einen Entschluss.
Wenn das, was er ihm gerade gestanden hatte, wirklich der Wahrheit entsprach, war er ihm etwas schuldig.

Er versuchte, sich zu konzentrieren, überwand nach kurzem Zögern die geringe Distanz zwischen ihnen, hob sachte seine Hand und legte sie auf Thorins Schulter nieder. Er konnte spüren, wie sein Gegenüber im Bann seiner Berührung erstarrte. "Thorin... Thorin, sieh mich an. Sieh mich an!" 

Er bückte sich, um in sein Gesicht zu sehen, doch Thorin drehte den Kopf zur Seite und machte es ihm unmöglich. Sachte beugte sich Bilbo nach vorn und begann, zu flüstern. "Sieh mich an... Amrâlimê."

Thorin öffnete die Lippen, wollte ihm sagen, er wüsste doch nicht, was dieses Wort bedeutete, doch als ihm klar wurde, dass die Übersetzung nach dieser Unterhaltung offensichtlich war, sah er auf und starrte ihn an.

"Du... du machst dich über mich lustig."

Als sich ihre Augen trafen, geschah irgendetwas, sie konnten nicht sagen, was es war. Doch mit einem Mal schien alles so unwirklich, so surreal, wie in einem Traum, und während sie sich ansahen, fühlte es sich anders an als sonst. 
Bilbo ließ die Hand von seiner Schulter gleiten, um seinem Gegenüber eine Träne von der Wange zu streichen, doch er hielt inne und ließ den Arm sinken. Sein Blick fiel mit einem Mal auf Thorins Lippen, und als er sie betrachtete, spürte er ein Verlangen in sich aufsteigen, das er bislang hatte verdrängen können.

"D-darf ich dich küssen?" fragte er und sah ihm wieder in die Augen.

Thorin blickte zurück, schluckte, sein Körper erzitterte. "W-wie bitte?"

"Du hast mich schon verstanden."

Er sah, wie Thorin seinen Mund öffnete, und wie seine Lippen bebten. Der Schwarzhaarige rührte sich nicht, seine Augen weiteten sich fast unmerklich, doch Bilbo entging es nicht, denn sie waren alles, was er im Moment wahrnahm.

Sachte ließ er seine rechte Hand an Thorins Wange wandern, es geschah wie von selbst, und er spürte, wie der Zwerg über seine Seite nach oben strich und ihn schließlich an den Schultern griff. Es war eine unsichere, unschlüssige Berührung, doch sie geschah von allein, und ehe sie verstanden, was sie gerade taten, standen sie sich so nahe, dass sie den Herzschlag, den warmen Atem, die Wärme des jeweils anderen spürten. Das Atmen fiel ihnen zunehmend schwerer, wurde stockender, und als Bilbo die kitzelnden Locken auf seiner Haut spürte, stellte er sich auf die Zehenspitzen, schloss die Augen und ließ es geschehen.

Als sich ihre Lippen trafen, geschah es sachte und vorsichtig, als könnten sie es nicht fassen, als hielten sie es für einen Traum. Auf Bilbos Zunge verbreitete sich der Geschmack von Tränen und Regenwasser. 

Der Kuss war zaghaft, und sanft, und als er spürte, wie Thorin begann, ihn langsam und schüchtern zu erwidern, strömte eine heiße, flammende Welle durch seine Adern, berauschend, süß, erbarmungslos.

Er konnte fühlen, wie Thorins Körper zitterte, und wie sein Atem vor Tränen bebte, konnte spüren, wie nervös und verunsichert sich seine Lippen bewegten und wie gut es tat, sie auf den seinen zu spüren. 

Es schien, als wäre eine Ewigkeit vergangen, ehe sie sich voneinander lösten und sich verunsichert betrachteten, denn sie waren verwirrt über das, was sie gerade getan hatten. Nicht entsetzt, nur... unfassbar verwirrt. Ihr Atem ging schwer und ungleichmäßig, und sie wussten, der Kuss hätte noch länger gedauert, wäre ihnen nicht irgendwann die Luft ausgegangen.

Sie warteten schweigend darauf, dass sich ihr Puls wieder beruhigte und sie zu Atem kamen, und als sich daraufhin erneut ihre Blicke trafen, fassten sie einen wortlosen Entschluss.
Als sie sich zum zweiten Mal küssten, fühlte es sich anders an. Weniger verboten, weniger überraschend, weniger schüchtern. Nicht wild, nicht verlangend, sondern noch immer mit der Vorsicht zweier Unerfahrener, die ihr Glück nicht fassen konnten und die wussten, dass von nun an nichts mehr so sein würde wie bisher.

Als sie ihre Lippen voneinander trennten, hielten sie sich noch fest umschlungen. Sachte lehnte Thorin seine Stirn an die des Halblings, die Augen hielten sie geschlossen.

"Haben wir das gerade wirklich getan?" flüsterte Bilbo, völlig außer Atem.

Thorin lächelte. "Ich weiß es nicht..." raunte er und strich ihm eine Locke von der Stirn.
"Vielleicht war es nur ein Traum."





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Das war wirklich kräfteraubend und unangenehm zu schreiben.

Ich geh jetzt mal meinen Suchverlauf löschen, weil irgendjemand (= ich) so ziemlich jede Website besucht hat, die sich mit dem Thema "Wie schreibe ich eine Kussszene?" beschäftigt.

Merry(/Pippin) Christmas euch allen, und muchas gracias, dass ihr euch mein Geschreibsel antut. Ihr glaubt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.

Wir sehen/schreiben/lesen uns! ;)

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