Das Licht hellerer Tage
Bard stand an den Zinnen der Stadtmauer. Es war ein schöner Morgen. Golden, schimmernd, hoffnungsvoll. Anders als sonst.
Das junge Morgenlicht hing im Geäst der dürren Bäume und vergoldete die Wassertropfen des schweren Nebels, der auf den Felsen ringsum niedergesunken war. Eine kalte Decke aus Tau schmiegte sich an jeden noch so kleinen Stein und zog sich eng über die Landschaft, die Pfützen auf dem Boden schimmerten so golden wie Honig.
Plötzlich zog eine Wolke auf und verschluckte das Licht. Die warmen Farben verschwanden, und ein trostloses Grau sickerte durch die Szenerie. Und mit den Farben, so schien es, verlor die Natur ein Stück ihrer Lebendigkeit, und es schien, als würde etwas anderes die Oberhand gewinnen.
Doch der Moment weilte nicht lange, denn die Wolke zog weiter und gab Thal und dem Einsamen Berg das Morgenlicht zurück. Bard atmete tief durch, und es fühlte sich an, als wäre dieser Atemzug der erste seit langer, langer Zeit gewesen.
Ein Ruf riss ihn aus seinen Gedanken. "Vater!"
Als er sich umdrehte, erkannte er, wie seine älteste Tochter auf ihn zu rannte, mit der einen Hand aufgeregt winkte und mit der anderen den langen Rock ihres Kleides hielt, damit sie nicht über den Saum stolperte. Mit eiligen Schritten lief er die hölzerne Treppe hinunter, um ihr entgegenzukommen, denn ihre sonst so helle Stimme klang sorgenvoll und aufgewühlt.
"Was hast du, Sigrid?" Als er die kurze Distanz überwunden hatte, zwang er sich, die Ruhe zu bewahren und nahm ihre zarte Hand in die seine, während er auf eine Antwort wartete. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Ihr hübsches Gesicht war seltsam blass, und doch lag ein Hauch von Röte auf ihren Wangen. Sie setzte an, etwas zu sagen, schloss den Mund jedoch wieder und schluckte hörbar, und als sie dann wieder zu Atem kam, sprach sie mit bebenden Lippen. "Du... du musst mit mir kommen, schnell!"
Sie zog an seinem Arm und Bard folgte ihr. Sein Gesicht war ernst, denn er meinte, zu verstehen, weshalb seine Tochter dermaßen neben der Spur war - sie war noch jung, und die letzten Wochen waren für niemanden leicht gewesen.
Noch während sie die Gassen in Richtung des Marktplatzes entlang eilten, verfolgte er mit wachsamen Augen die Einwohner Thals. Die Straßen waren leerer als sonst, nur vereinzelt sah er Gesichter hinter den Fensterscheiben, neugierige Augenpaare jedweden Alters, die missmutig dem Geschehen folgten, obwohl es nichts zu sehen gab. Es war still, stiller als sonst, und doch erfüllte eine Unruhe die Luft, die ihm das Atmen erschwerte.
Sigrid flüsterte, während sie ihren Vater die Gassen entlangführte. "Wir haben nicht geahnt, dass... Wir haben nicht ahnen können, dass sie schon so früh..."
Sie schluckte und sprach nicht weiter. Bard sah sie an, und es schmerzte ihn, ihr junges Gesicht so voller Sorge sehen zu müssen. Er drückte ihre Hand ein wenig fester und nickte verstehend, mit dem Ziel, sie zu beruhigen, doch es zeigte keine Wirkung.
"Hat jemand ihre Fanfaren gehört?"
Sigrid schüttelte den Kopf, sachte, aber deutlich genug. "Sie haben sich nicht angekündigt. Keiner hat gesehen, wie sie das Tor passierten. Sie... sie standen nur plötzlich da und... und..."
Bard blieb stehen, nahm nun auch ihre andere Hand in die seine und beugte sich zu ihr herunter. "Sieh mir in die Augen... Sieh mich an." Sanft strich er mit seiner rechten Hand über ihre gerötete Wange, die warm vom Morgenlicht erhellt wurde. "Es wird alles gut, mein Herz. Es gibt keinen Grund zur Furcht. Sie sind hier, um zu helfen, und das werden sie auch tun. Sie werden uns helfen. Es wird alles gut."
Es dauerte einige Sekunden, ehe Sigrid sich wieder fasste. Dann blickte sie in die Augen ihres Vaters, schluckte und schüttelte den Kopf. "Sie sind uns zu Hilfe gekommen, das mag sein. Aber wie soll diese Hilfe aussehen? Ich habe Angst, dass es bei eurer Audienz mit ihm nicht nur bei Worten bleibt..."
Bard hielt kurz inne und atmete hörbar ein und wieder aus. Kurz sah es so aus, als wollte er etwas sagen, doch er schloss den Mund und sprach kein Wort, nahm den Blick von seiner Tochter, sah nachdenklich beiseite und schüttelte langsam und fast unmerklich den Kopf.
Sigrid flüsterte sachte. "Sieh mir ins Gesicht und sag mir noch einmal, dass es keinen Grund zur Furcht gibt, Vater. Bitte, sag es mir ins Gesicht, damit ich es glauben kann."
Bard kam nicht dazu, ihrer Bitte nachzukommen.
Eine große Gestalt, in einen dunklen, leichten Mantel gekleidet, kam mit schnellen Schritten die Gasse herunter gelaufen. Bard und seiner Tochter fiel sein langer, schwarzer Schatten vor die Füße, denn die Morgensonne stand noch nicht hoch und der Fremde hatte ihr den Rücken zugewandt. Bard ließ Sigrids Hand nicht los, während sie zusahen, wie sich die Gestalt Schritt um Schritt näherte. Der Seemensch erkannte das Muster, wie diese Gestalt einen Fuß vor den anderen setzte. Keine zehn Sekunden dauerte es und der Fremde hatte sie erreicht, und Bard hatte Gewissheit darüber erlangt, mit wem sie es zu tun hatten.
Er trug seine Kapuze tief im Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung zog er sie sich vom Kopf, mit einer Hand, die von silbernen Ringen geschmückt war, und entblößte einen Schopf hellblonder, glatter Haare unter einer Krone aus Waldblumen. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen.
"So sieht man sich wieder, Bogenschütze."
~~~
Als Bilbo die Augen aufschlug, stellte er zwei Dinge fest.
Das erste war sein brummender Schädel, der ihm die Erinnerungen an die paar Becher Wein zurückbrachte, die er am gestrigen Abend hatte trinken müssen. Sofort wurde ihm übel und er schloss die Augen wieder.
Das zweite Ding war das helle Etwas, das ihn blendete und vermutlich das Ding war, das ihn aufgeweckt hatte. Das Licht stach selbst durch seine geschlossenen Lider, und er blinzelte.
Es war die Sonne, die ihre Strahlen durch das kleine Fenster zur linken Seite seines Bettes schickte, nur war sie diesmal heller als sonst, wenn Bilbo aufgewacht war. Das war der Tatsache geschuldet, dass der Morgen schon lange vorüber war und die Stunden sich der Mittagszeit näherten.
Als Bilbo das realisierte, fuhr er hoch und blinzelte dreimal, da er hoffte, die Müdigkeit und die Kopfschmerzen hätten seinen Sinnen einen Streich gespielt, doch die Sonne blieb an ihrem Platz, hoch oben im Himmel. Benommen rieb er sich die Augen und seufzte, bevor er sich zurück auf die Matratze fallen ließ. Denn - wenn er genauer darüber nachdachte, so war es nicht von Belang, zu welcher Uhrzeit er sein Zimmer verließ, nachdem er am gestrigen Abend mit Wein abgefüllt worden war, hätte gewiss jeder Verständnis, wenn er etwas länger im Bett blieb.
Ihm wurde wieder schlecht, als er daran dachte und musste schlucken, denn die Flüssigkeit auf seiner Zunge schmeckte bitter und fühlte sich pelzig an. Mit einer schwachen Bewegung strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schloss die Augen wieder, denn die weichen Kissen und die warme Decke schienen ihn förmlich ans Bett zu fesseln. Als er bemerkte, dass er wieder müde wurde, schüttelte er jedoch den Kopf.
"Du kannst nicht den ganzen Tag schlafen, Bilbo..." sagte er zu sich selbst, und es klang eher wie ein Grunzen, schwach, matt und schläfrig.
Er seufzte ein weiteres Mal und schlug schweren Herzens die viel zu warme Decke beiseite, ehe er die Beine aus dem Bett hob und sich streckte. Er sah an sich hinab und stellte fest, dass er noch immer die Kleidung vom Vortag trug. Was auch sonst, Thorin hatte ihn so wie er war ins Bett gebracht.
Bei dem letzten Gedanken musste er schmunzeln. Und es tat weh.
Irgendwo tief in seinem Inneren wusste er, dass das nichts zu bedeuten hatte. Und er wusste, er hatte inzwischen den Punkt erreicht, an dem er es schon beinahe akzeptierte. Er liebte ihn. Und er wusste das. Er könnte sich nicht vorstellen, bei irgendjemandem sonst etwas derartig Tiefes und Aufrichtiges zu fühlen, nicht so wie bei ihm. Er würde allein bleiben. Es war nicht das, was er sich immer vorgestellt hatte, aber er würde allein bleiben.
"Und das ist in Ordnung", sagte er sich, "Das ist vernünftig."
Vernünftig. Er hörte sich innerlich auflachen. Oh, wie vernünftig, Bilbo. Du läufst ihm jeden Tag über den Weg, du hast deine Heimat aufgegeben, um bei ihm sein zu können. Du lebst eine Lüge. Und du hältst das auch noch für vernünftig.
Er zupfte sich den Kragen zurecht, gähnte hingebungsvoll und plötzlich, von einem Moment auf den nächsten, spürte er ein mulmiges Gefühl im Bauch. Es war der Gedanke an das, was Thorin gestern zu ihm gesagt hatte.
"Heute Abend wirst du dich mit ihm treffen. Er wollte dir etwas Wichtiges sagen..." rief er sich in Erinnerung, und er versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. Und es gelang ihm.
"Es gibt Dinge, die ich nicht mehr länger für mich behalten kann. Ich würde sie am liebsten in die Welt hinausschreien, würde es in meiner Macht stehen, doch gleichzeitig fürchte ich mich vor dem Widerhall."
Er seufzte. "Ich auch, Thorin... Ich auch."
Doch er wusste, dass sie beide von unterschiedlichen Dingen sprachen.
Es musste einfach so sein.
~~~
Obwohl das späte "Frühstück" recht kurz und spärlich ausfiel, bekam der kleine Hobbit kaum einen Bissen hinunter, und die anderen mussten ihn regelrecht dazu zwingen, etwas zu sich zu nehmen.
"Wo ist Thorin?" fragte er, bevor er widerwillig in einen Kanten Brot biss und auf ihm herumkaute, als wäre er zähes, geschmackloses Gummi.
"In seinem Bett, wo er hingehört", antwortete Kili, der ihm gegenübersaß und sich auf beiden Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt hatte. "Wir hatten damit gerechnet, du würdest noch länger schlafen."
Bilbo hob eine Braue. "Es ist Mittag. Ich für meinen Teil war etwas überrascht, dass ich so viel geschlafen habe..."
Auf Kilis Lippen zeichnete sich der Anflug eines Lächelns ab. "Bei deinem Kater ist das kein Wunder. Ich wusste gar nicht, dass Hobbits so wenig vertragen."
Bevor der Halbling den Mund aufmachen konnte, um sich vor dem jungen Zwerg zu rechtfertigen, lenkte ihn Oin davon ab, indem er Bilbo ein kleines Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit reichte. "Trink das, das sollte helfen."
Der kleine Hobbit bedankte sich matt, tat wie ihm geheißen und leerte das Glas in einem Zug, und als er es wieder auf dem Tisch abstellte, schüttelte er sich. "Was genau... war das?"
"Ein Kräuterauszug", antwortete er knapp. "Wermut. Aber das allein wird nicht helfen, ich verordne dir noch einen Spaziergang, frische Luft ist immer noch die beste Medizin."
Bilbo nickte. "Das trifft sich gut, ich hatte ohnehin vor, hinaus zu gehen." Er ließ seinen Blick zum Fenster gleiten und seufzte. "Und wie es aussieht, spielt auch das Wetter mit - der Himmel ist heute zur Abwechslung mal blau." So blau wie Thorins Augen... Er schüttelte über sich selbst den Kopf. "Wird Thorin mich begleiten können? Ich bin mir sicher, es würde ihm gut tun."
Oin zuckte zu Bilbos Überraschung nur mit den Schultern. "Diese Entscheidung würde ich ihm selbst überlassen. Wenn er sich stark genug fühlt, steht eurem Spaziergang nichts im Wege, sollte er jedoch wieder schwächer werden, wäre zu viel Bewegung nur Gift für ihn." Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: "Aber du kennst ihn ja. Ich denke kaum, dass er sich die Chance entgehen lassen wird, einmal aus seinem Zimmer herauszukommen - allerdings müsstest du dich noch eine Stunde oder zwei gedulden."
Der Halbling tastete nach dem angebissenen Kanten Brot und brach sich eine Ecke ab, um damit den bitteren Geschmack auf seiner Zunge zu neutralisieren. "Oh, und wieso das?"
"Wir haben heute Morgen ein wenig Salbe gemacht, die der Heilung seiner Narben zuträglich sein wird. Und ich würde ihm den neuen Verband von seinem Auge nehmen, wenn ihr euch für einen Spaziergang entscheidet, es ist wichtig, dass die Wunde 'atmen' kann."
"Oh. Ich hatte gedacht, er würde die Binde ein wenig länger tragen müssen."
Oin schüttelte den Kopf. "Sie war nur da, um die Nähte zu stabilisieren und um Entzündungen zu vermeiden. Aber würde er sie noch länger tragen, stünde sie der weiteren Heilung nur im Wege."
Bilbo nickte verstehend, während er stumm auf dem trockenen Brot herumkaute. Schließlich, nach ein oder zwei Minuten peinlichen Schweigens räusperte er sich, zögernd. "Darf ich dabei sein?"
"Ich bitte darum." Oin wirkte, als hätte er gehofft oder bereits gewusst, dass Bilbo diese Frage stellen würde, und das erleichterte ihn. "Er wird sich gewiss etwas mehr zusammenreißen, wenn du dabei bist."
Obwohl der Halbling nicht so recht wusste, was genau Oin mit dieser letzten Bemerkung gemeint hatte, nickte er zustimmend. Stumm widmete er sich seiner Tasse Tee, die er bis zu diesem Moment ignoriert hatte, und stellte enttäuscht fest, dass er bereits lauwarm geworden war.
Er trank drei große Schlucke, ehe der seltsame Geschmack auf seiner Zunge verschwand, und er wieder verträumt aus dem Fenster sah. Leise vernahm er die Stimmen der anderen im Raum, die sich angeregt unterhielten, und als er dann die Augen schloss, musste er lächeln.
Und er musste sich eingestehen, dass sich das gut anfühlte. Mehr noch; es fühlte sich richtig an, er war richtig hier, hier gehörte er hin. Er lebte nun schon Monate hier, lange Monate, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit. Er hatte hier doch eigentlich alles, was er brauchte, oder nicht? Er hatte hier Freunde, die er im Auenland nicht hatte finden können, er hatte hier jemanden, der für ihn mehr war als ein Freund. Es würde sich nicht richtig anfühlen, zu gehen, selbst wenn er wusste, dass es nur falsche Hoffnungen waren, die ihn an diesen Ort fesselten. Aber das war in Ordnung. Er hatte gelernt, seine Fesseln zu lieben.
Dass er noch immer dem Auenland nachhing und wie sehr er es vermisste, vergaß er für diesen kurzen Moment.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und statt dem satten Mittagslicht fiel nun ein grauer Schatten über Bilbos Gesicht. Blinzelnd öffnete er die Augen und nahm einen weiteren Schluck. Der Tee war inzwischen kalt, aber nicht weniger belebend.
"Hat Thorin schon verlauten lassen, wie es weitergeht?", hörte er dumpf Dwalins Stimme, und fast hätte er sich an seinem Tee verschluckt, denn für diese paar Sekunden war es ihm gelungen, mal nicht an die Ereignisse der vergangenen Tage zu denken. Sein Blick fiel auf den kräftigen Zwerg, der neben seinem Bruder saß - offenbar war die Frage an Balin gerichtet gewesen. Bilbo wollte sich nicht anmerken lassen, dass er gelauscht hatte, und tat daher so, als hätte er draußen vor dem Fenster etwas wahnsinnig Spannendes gesehen, während er versuchte, dem Gespräch zu folgen.
Er hörte den weißbärtigen Zwerg seufzen. "Ich habe ihn heute Morgen schon gefragt." Aus dem Augenwinkel konnte der kleine Hobbit sehen, wie er müde den Kopf schüttelte. "Er ist übermannt von all den Problemen, die die letzten Wochen und Tage mit sich gebracht haben. Wir müssen diese Probleme gemeinsam lösen, ihm etwas von der Last dieser Schuld abnehmen - so gut es geht."
Dwalin drehte den Kopf nun zum Fenster und streifte dabei für den Bruchteil einer Sekunde Bilbos Blick, was den Halbling kurz zusammenzucken ließ. Doch er bemerkte es nicht und sprach weiter. "'Die Last dieser Schuld'... Findest du wirklich, dass er die Schuld an dem Geschehenen trägt? Er war nicht er selbst. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sich das geändert hat."
Balin sah ihn verständnislos an. "Das hat es", sagte er ruhig, doch mit Nachdruck in der Stimme.
Dwalin beugte sich ein Stück vor. "Aber können wir das denn mit Gewissheit sagen? Können wir das? Er mag wieder wie er selbst wirken, ja... Aber das war auch schon früher der Fall." Es verstrich eine kurze Pause, in der er neuen Atem schöpfte. Als er den Blick seines Bruders sah, schüttelte er den Kopf. "Ich weiß, dass du glaubst, dass das alles hier ein gutes Ende finden wird. Aber das ist nicht meine Meinung. Hoffnung mag ein schönes Gefühl sein, ja. Solange, bis man enttäuscht wird. Dann ist es das schlimmste Gefühl auf der Welt."
Dass Hoffnung nicht ratsam war, wollte Bilbo nicht glauben, und er gab sich gar nicht erst die Mühe, Dwalin verstehen zu wollen, er war sich sicher, dass er seine Gründe hatte. Benommen nahm er einen weiteren Schluck aus seiner Tasse. Die Worte hatten ihn nachdenklich gestimmt. Thorin ging es wieder gut, ganz eindeutig. Aber war das wirklich so oder wollte er das einfach nur glauben? Und hatte er wirklich schon genug gesehen und gehört, um ein Urteil fällen zu können?
Er hatte die Drachenkrankheit einst mit einer Maske verglichen, die mal transparent, mal undurchsichtig wurde. In den vergangenen Stunden hatte sie nicht transparent gewirkt. Nicht undurchsichtig. Nein, sie war schlichtweg nicht da gewesen. Thorin hatte sie wahrscheinlich abgelegt und unten in den vergessenen Hallen gelassen; an dem Ort, an dem er das letzte Mal nicht er selbst gewesen war.
Er setzte die Tasse ein weiteres Mal an die Lippen, doch musste feststellen, dass sie bereits leer war. Er seufzte, und verträumt wanderte sein Blick zu dem kleinen Fenster. Und als er das tat, verschwand die Wolke wieder, und auf seine Wangen fiel das warme Licht der Mittagssonne.
Kribbelnd, belebend.
Und voll von Hoffnung.
~~~
Thorin hatte sich in seinem Bett aufgesetzt, damit er einen Blick auf das Fenster erhaschen konnte. Müde lehnte er sich mit dem Rücken gegen die weichen Kissen, seine Haare fielen auf seine unbedeckten Schultern und kitzelten seine nackte Haut. Er hatte kaum geschlafen.
Die Dämmerung hatte er wachen Auges mitverfolgt, obwohl er den anderen versprochen hatte, er würde die wenigen Stunden, die ihm in Ruhe blieben, mit Schlafen verbringen. Doch er hatte es nicht gekonnt, die ganze Nacht nicht. Vor wenigen Tagen war es ihm ähnlich ergangen, nur waren seine Beweggründe zu dieser Zeit andere gewesen. Diese hier waren anderer Natur.
Es waren nicht die Schuldgefühle, die ihn tagsüber zerfraßen - nicht zur Gänze, jedenfalls. Es war Angst. Eine Angst, die er noch immer hegte.
Angst ist ein großes Wort, zu groß, als dass Thorin hätte sagen können, von welcher Natur sie war. Es war die Angst, das Falsche zu tun. Es war die Angst vor etwas Ungewissem. Eine innere Unruhe, von der er wusste, dass er sie selbst geschaffen hatte.
Ein Seufzen entkam seinen Lippen, als er mit dem Kopf ein Stückchen tiefer sank, den Blick noch immer auf den strahlend blauen Himmel gerichtet. Doch in seinem Blick lag eine Leere, die ihn dieses Blau nicht sehen ließ, nicht sehen lassen wollte. Er starrte auf etwas, das nicht da war.
Er ließ seine rechte Hand nach oben wandern und strich über den Verband, ohne es zu merken. Der Schmerz war stumpf, fast nicht mehr zu spüren. Aber er war immer noch da. Er schloss sein linkes Auge und versuchte sich an einem Lächeln. Das war wichtig. Er musste dieses Lächeln beherrschen, um den Schein zu wahren. Das Lächeln verschwand wieder und er musste bitter lachen.
Diese Krankheit hatte einen Schauspieler aus ihm gemacht.
Aber das war vorbei, es war Geschichte. Er würde neu anfangen. Er würde sich ändern. Er würde nicht noch einmal alles aufs Spiel setzen, nicht noch einmal in Kauf nehmen, alles zu verlieren, was ihm teuer war.
Doch dann wurde ihm etwas bewusst, was ihm zum Schlucken brachte, und es fühlte sich an, als läge eine dicke, brennend bittere Flüssigkeit auf seiner Zunge. Ihm wurde bewusst, dass genau das an dem heutigen Tage passieren könnte - alles zu verlieren, was ihm am Herzen lag. Denjenigen zu verlieren, der ihm die Augen geöffnet hatte. Denn mit ebendiesem hatte sich Thorin am gestrigen Abend verabredet, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie Bilbo auf das, was er vorhatte, ihm anzuvertrauen, reagieren würde.
Er hatte ein weiches Herz, und das war etwas, wofür der Schwarzhaarige den Hobbit in vielen Fällen beneidet hatte, ohne es sich einzugestehen. Bilbo würde nicht wütend werden, er würde sich übergangen fühlen. Er würde ihn nicht anschreien, er würde vor Enttäuschung und Unverständnis stumm werden. Und dann würde er gehen. Er würde nicht länger bei ihm bleiben wollen, warum sollte er das auch? Er war nicht an diesen Ort oder an Thorin gebunden.
"Was hat dich nur zu dieser Verabredung getrieben..." schalte er sich selbst und spürte, wie ihm schwindelig wurde. Verwirrt und verzweifelt fuhr er sich mit beiden Händen durch das zerzauste Haar. Er spürte, dass seinen Bewegungen keine Kraft innewohnte. Er fühlte sich schwach. Seine Stimme klang aufgewühlt, und dennoch leise, ruhig, lediglich verzerrt durch ein schwaches erregtes Zittern.
Es beunruhigte ihn. Warum nur war alles mit einem Mal so qualvoll, so viel intensiver als vor wenigen Tagen? Warum nur fühlte sich alles mit einem Mal so unfassbar schwer an, so echt, so real? So... lebendig? Er schluckte, denn er kannte die Antwort. Und er verzweifelte daran.
Er konnte spüren, wie ihn die Gefühle und Wahrnehmungen überrannten, die er in den vergangenen Wochen unterdrückt und vergessen hatte. Und es schmerzte so sehr. Er fühlte sich lächerlich dabei, es sich einzugestehen, aber es schmerzte ihn. Er fühlte sich nicht stark, nicht wie ein König, nicht wie jemand, der mit Verantwortung umzugehen wüsste.
Er wusste, es war die Krankheit, die ihn diesen Schmerz hatte vergessen lassen; dass er vergessen hatte, wie sich dieser Kummer anfühlt, der ihm die Luft abschnürte. Wie es sich anfühlt, Thorin Eichenschild zu sein. Der Thorin Eichenschild, der ein Geheimnis mit sich trug, das verantwortlich war für all diesen schmerzenden Kummer. Nur ein einziger Satz. Er müsste nur einen einzigen Satz zu Bilbo sagen, um diesem Kummer Luft zu machen. Nur ob er sich das traute, das wusste er nicht. Es wäre das mutigste, das er jemals getan hätte.
Müde fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Neben zwei Stapeln von Pergamenten, einem kleinen Tintenglas und einer stumpf geschriebenen Feder lag ein kleiner, aufklappbarer Spiegel. Auf dem dunklen Holz schien sein glänzendes Silber zu leuchten. Und als Thorin diesen Spiegel sah, spürte er ohne Vorwarnung eine drückende Neugier in sich aufsteigen, die er zuvor nicht gehegt hatte. Wie von selbst schlug er die weiche Decke beiseite und stützte sich auf der Matratze ab, um sich aus dem Bett zu erheben. Es gelang ihm zwar, doch nur recht umständlich, denn es dauerte seine Zeit, ehe er sich auf beiden Beinen halten konnte und sich nicht mehr abstützen musste. Jede noch so kleine Regung schickte einen Stoß von Schmerz durch seine Brust, denn die vernähte Wunde war in den vergessenen Hallen ein Stückchen größer geworden und verursachte nun bei jedweder Art von Bewegung ein unangenehmes Ziehen in Bauch, Brust und Schultern.
Nach zehn tapsigen Schritten hatte er den Tisch erreicht und griff mit tauben Fingern nach dem silbernen, kleinen Spiegel. Der Rückweg zum Bett war ein wenig schwieriger, und er musste zwischen jedem Schritt eine kleine Pause machen, um an einer Stuhllehne oder etwas Anderem Halt zu finden, da ihn der Schwindel fast zu Boden schickte.
Er fühlte sich schlechter, deutlich schlechter als gestern. Mit einem erschöpften Seufzen sank er in sein Bett, lehnte sich gegen die Kissen und zog sich die Decke über die Beine. Es war warm im Raum, stellte er fest, wärmer als sonst, denn der Sommer hatte das Tal und den Berg mit vollem, goldenen Licht beschenkt.
Müde und zögernd ließ er den Spiegel mit einem leisen "Klack" aufschnappen. Sein Atem wurde ein wenig flacher, als er das kleine metallene Ding auf seine Augenhöhe hob, um sich darin zu betrachten.
Genau in diesem Moment ging die Tür auf, und Thorin ließ den kleinen Spiegel ertappt auf das weiche Bett fallen und starrte auf denjenigen, der die Klinke heruntergedrückt hatte. Wann war er nur so schreckhaft geworden?
"Oin." Er versuchte sich an einem Lächeln, so, wie er es zuvor geübt hatte, und sein Schauspiel tat weh.
"Ich wollte noch einmal nach deiner Wunde sehen", erwiderte der Graubärtige, bevor er eintrat, und Thorin nickte. "Bilbo wird mir dabei helfen."
Als der Schwarzhaarige diesen Namen hörte, hellte sich seine Miene auf. "Ist er denn schon wach?"
"Das ist er", sagte Bilbo, bevor er hinter der Tür hervortrat, in den Händen eine Schale mit Wasser und ein Tuch, beides hatte ihm Oin in die Hand gedrückt. Thorin musste wieder lächeln, doch dieses Mal war kein Schauspiel nötig.
Der Halbling erwiderte das Lächeln und stellte die Wasserschale neben dem Bett ab. "Wie geht es dir heute?" fragte er, und der Tonfall seiner Stimme offenbarte, dass er besorgt war.
Thorin öffnete kurz den Mund, um zu behaupten, es ginge ihm blendend - etwas, was er sonst immer entgegnet hätte, doch noch früh genug hasste er sich dafür. Er schuldete seiner Gemeinschaft Ehrlichkeit, auch Bilbo; gerade ihm. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, sich zu ändern, hatte es versprochen. Zu behaupten, es ginge ihm gut, wäre nur eine vergleichsweise kleine Lüge gewesen, aber noch immer ein Schritt in die falsche Richtung. Er räusperte sich und öffnete den Mund erneut. "Ein wenig schlechter als gestern, muss ich gestehen."
Bilbo blickte besorgt drein, Oin nickte nur, während er das Tuch im warmen Wasser badete, und antwortete, ohne den Blick von der Schale abzuwenden. "Inwiefern schlechter?"
Der Schwarzhaarige räusperte sich erneut, denn seine Kehle war trocken, und das, obwohl er zum Frühstück Unmengen an Tee hatte trinken müssen, den ihm seine Neffen ans Bett gebracht hatten. "Ich fühle mich... schwächer, matt, als wäre ich stundenlang gerannt. Bei der kleinsten Bewegung überkommt mich ein Schwindelgefühl, das nicht mehr abklingt, sondern von Regung zu Regung stärker wird und erst wieder verschwindet, wenn ich in den Schlaf falle."
Er wollte nicht jammern, aber es tat ihm gut, und das konnte er nicht leugnen. Er musste kurz an eine Zeit zurückdenken, in der er schon einmal gedacht hatte, er wäre krank gewesen, zumindest hatte es sich so für ihn angefühlt. Es war eine Krankheit mit seltsamen Symptomen gewesen; Symptomen, die er noch immer hatte, aber es war ihm irgendwann gelungen, in ihnen eine Gesetzmäßigkeit zu erkennen, und genau diese Erkenntnis hatte ihm bewusst gemacht, dass es sich nicht um eine Krankheit handelte. Herzrasen, ein seltsames Ziehen in der Brust, erhöhter Puls. Er hatte sich langsam daran gewöhnt, doch zu Beginn hatte er sich verflucht, nicht dagegen gekämpft zu haben. Nun erkannte er, dass ein Kampf sinnlos gewesen wäre, denn einen Kampf wie diesen kann man nicht gewinnen, was hätte es für einen Sinn, über sein eigenes Herz zu triumphieren? Das ist kein Ziel, das es wert ist, anzustreben. Alles, was man tun kann, das ist zu entscheiden; zu entscheiden, ob man kämpft, bis die Kräfte schwinden, oder ob man sich ergibt, und beginnt, auf sein Herz zu hören. Thorin hatte ersteres gewählt. Es war die falsche Entscheidung gewesen.
"Nun, vielleicht liegt das daran, dass du zu wenig zu dir nimmst", meinte Oin und riss den Schwarzhaarigen damit aus seinen Gedanken.
"Zu wenig? Fili und Kili haben mir heute Morgen neun Tassen Tee verabreicht. Neun!"
"Du hast sehr, sehr viel Blut eingebüßt. Tee allein reicht da nicht. Ich habe den beiden ausdrücklich gesagt, sie sollen dich zum Essen zwingen, aber von dem Frühstück hast du nichts angerührt", entgegnete der Graubärtige in einem sorgenvollen Ton. Bilbo stand unbeteiligt am Rand, er konnte nicht mitreden, da er bis mittags geschlafen hatte, und irgendwie fühlte er sich unwohl dabei.
Er hörte den Schwarzhaarigen seufzen. "Ich... ich konnte nicht."
Er hatte es wirklich nicht gekonnt, in seinen Worten steckte keinerlei Lüge, sowohl Bilbo als auch Oin wussten das. "Nun", meinte Letzterer, ein kleines, blasses Lächeln aufsetzend, "etwas frische Luft dürfte dem Abhilfe verschaffen."
"Ich dachte erst an einen kleinen Spaziergang", fügte Bilbo mit müder Stimme hinzu, "aber bei deinem Zustand wäre das wahrscheinlich zu riskant."
Thorin, dessen Miene nun weniger schwach und grau wirkte, öffnete für einen kurzen Moment die Lippen, die während der Nacht rau und trocken geworden waren, und stieß kurz und betont den Atem aus, als wäre dieser eine Last, von der er sich trennen musste, oder als bräuchte er etwas, um die stille Pause zu füllen, in der über Bilbos Worte nachsann. "Ich denke, ein Spaziergang würde durchaus im Rahmen des Möglichen liegen, sofern er nicht allzu weit ist."
Bilbo sah auf, und auf seine Lippen schlich der Anflug eines milden Lächelns. "Bist du dir sicher? Du sagtest vorhin, die kleinste Bewegung würde dir Schwierigkeiten bereiten."
"Nun, ich nehme an, dass ich den Spaziergang nicht allein antreten werde. Und mit etwas Hilfe traue ich mir das durchaus zu." Er erwiderte das Lächeln und ließ den Meisterdieb, der noch immer vor seinem Bett stand, während seiner Worte keine Sekunde lang aus den Augen.
"Das freut mich zu hören", meinte Oin. "Aber nicht, bevor wir deine Wunden versorgt haben." Er nahm das mit Wasser getränkte Tuch aus der Schale und wrang es vorsichtig aus, die Tropfen der Flüssigkeit, die durch die Kräuter nun eine leicht bräunliche Färbung angenommen hatte, fielen mit einem leisen Platschen zurück in das Gefäß.
"Kann ich irgendwie helfen?" fragte Bilbo und bemerkte, dass seine Stimme um fast eine Oktave höher klang als zuvor, denn aus irgendeinem Grund spürte er eine Nervosität, wie er sie bis zu diesem Moment nur selten erlebt hatte. Nun ja, er spürte sie nicht nur aus irgendeinem Grund. Den Grund kannte er sehr gut. Er hatte blaue Augen, schwarze verstrubbelte Haare und saß nur in eine Hose gekleidet vor ihm im Bett.
Oin nickte. "Noch nicht, aber nachher, wenn wir den Verband von seinem Auge nehmen."
Als Thorin diese Worte hörte, musste er schlucken, denn irgendetwas tief in ihm drin hatte vermutlich gehofft, der Verband würde etwas länger dort bleiben, wo er war. Er sagte nichts und versuchte, so zu tun, als wäre er nicht überrascht.
Es war nicht die Angst davor, auf ewig gezeichnet zu sein, es war vielmehr die Frage, ob er ernstere Sehschäden davongetragen hatte, denn was wäre, wenn er auf dem rechten Auge nichts als Schwärze sah? Dieses entscheidende Detail könnte seinen nächsten Kampf zu seinem letzten machen.
"Würdest du bitte-?" fragte Oin, und da Thorin den Ablauf kannte, schlug er die Decke beiseite, sodass der Verband um seine Brust frei lag. Mit Daumen und Zeigefinger entfernte er vorsichtig die Nadel, die die dünne, weiße Binde zusammenhielt, und begann, seine Wunde freizulegen, Oin half ihm dabei. Bilbo stand daneben und versuchte, nicht direkt auf die Verletzung und damit den freien Oberkörper des Schwarzhaarigen zu starren. Es stellte sich als schwieriger heraus als angenommen, und während er so da stand und nervös mit den Ärmeln seines Hemdes spielte, übte er sich im Schweigen.
Dreimal hörte er, wie Thorin scharf Luft einzog, wenn sich die dünne Binde nicht gleich von dem noch unverheilten Fleisch trennen wollte. Er musste nicht lange leiden und die Wunde lag frei.
Bilbo bemerkte, dass er blasser geworden war und unterdrückte den Reiz, hörbar zu schlucken, denn obwohl er es nicht direkt wagte, einen Blick auf die Verletzung zu werfen, hatte er ein so lebhaftes Bild vor Augen, dass ihm mit einem Mal unglaublich schlecht wurde.
"Die Nähte sehen soweit gut aus", sagte Oin, als hätte ihn jemand gefragt. "Ich werde versuchen, das geronnene Blut zu entfernen. Es wird nicht weh tun. Nicht, wenn ich es richtig mache."
Zu Thorins Erleichterung machte Oin es richtig und er spürte kaum etwas, nur ein leichtes Ziehen, ab und zu, wenn das raue Tuch direkt über die rote, noch unverheilte Narbe fuhr. Es dauerte nicht lange, und die Wunde war gereinigt. "Bilbo, ich glaube, jetzt könnte ich doch deine Hilfe gebrauchen", meinte der graubärtige Zwerg mit dem Anflug eines Lächelns.
Der Halbling, der bis zu diesem Moment in seiner Bewegung eingefroren und in seinen Gedanken gefangen daneben gestanden hatte, ohne einen zu genauen Blick wagen zu wollen, löste sich aus seiner angespannten Haltung und nickte, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. "Sag mir einfach, was ich tun soll." Er spürte Hitze in seinen Wangen und hatte keine Ahnung, ob er rot angelaufen war, weil sich ihm beim Gedanken an den tiefen, unverheilten Stich in Thorins Brust der Magen umdrehte, oder weil die Situation schlicht und einfach intimer war als die anderen Interaktionen, die er bis jetzt mit Thorin geteilt hatte.
Irgendetwas von beidem, offenkundig.
Oin kramte aus einer kleinen Tasche ein langes Tuch aus weißem Stoff hervor, mit den Worten, er würde es Thorin nun umlegen und Bilbo müsste es lediglich an der einen oder anderen Stelle festhalten, damit es nicht verrutscht und er den Verband im Nachhinein mit Nadeln sichern könnte.
Nun, es stellte sich heraus, dass sich diese Worte leichter sagen als in die Tat umsetzen ließen, zumindest für den Halbling, der sich kaum traute, ein Wort über die Lippen zu bringen. Auch wenn er etwas hätte sagen wollen, so wäre das seltsamerweise nicht gegangen, zu mehr als einem schwachen Nicken hin und wieder war er nicht in der Lage. Er wusste, dass er keinen Grund hatte, verunsichert zu sein. Das hier war nichts, wobei er sich unwohl fühlen musste, denn offenkundig schien es dem Schwarzhaarigen nichts auszumachen, von ihm so berührt zu werden. Er kam sich albern dabei vor, zu glauben, das hier wäre von Bedeutung. Für irgendjemanden. Denn, und irgendwie tat es ihm weh, sich das einzugestehen; das war es nicht. Aber für Bilbo bedeuteten diese Berührungen mehr als er für vernünftig hielt.
"Du musst es schon etwas fester halten", hörte er Thorin irgendwann sagen, und im Klang seiner Stimme erkannte der Hobbit, dass der Schwarzhaarige lächelte. Er wurde rot und nickte nur, den Fakt ignorierend, dass Thorin dieses Nicken nicht sehen konnte, da Bilbo hinter seinem Rücken stand. Er sammelte seine Gedanken und hielt das weiße Tuch ein wenig fester, wartete in peinlicher Stille solange, bis Oin mit dem Verbinden fertig war und den Stoff mit einer Nadel fixierte.
Bilbo war fast erleichtert, loszulassen, und trat, kaum dass seine Hände von dem Verband und Thorins Rücken abließen, unwillkürlich einen Schritt nach hinten, und er fragte sich, warum er sich so anstellte. Schließlich hatten er und der Schwarzhaarige schon mehrere Momente geteilt, in denen sie sich näher gekommen waren. Vielleicht war es eine Art Scham, doch er sah keinen Grund für ein Gefühl wie dieses. Vielleicht war es ein Schuldgefühl, doch Bilbo wusste, er konnte nichts für die Wunden, die Thorin davongetragen hatte. Vielleicht war es Angst vor irgendetwas. Vielleicht war es Respekt.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Warum suchte er nur immer nach irgendeinem Grund? Er war verliebt, das war der Grund. Mehr musste er nicht wissen.
"Sitzt er zu eng?" fragte Oin, und die Frage brachte Bilbo wieder zurück in die Realität.
Der Schwarzhaarige hob kurz eine Schulter, dann die andere, ließ beide wieder sinken und tastete vorsichtig mit der rechten Hand seine Seiten ab. Dann schüttelte er den Kopf. "Nein, es sitzt alles so, wie es sollte."
"Sehr gut." Der Graubärtige hatte in der Zwischenzeit schon nach der Salbe gesucht, da er bereits mit dieser Antwort gerechnet hatte, und drückte sie nun Bilbo in die Hand, der noch immer verdattert und ratlos daneben stand und dessen Wangen deutlich röter waren als vor wenigen Minuten. "Nimm das bitte kurz, wir werden sie auftragen, sobald die Augenbinde entfernt ist."
Bilbo umklammerte das kleine Behältnis so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein Blick ruhte auf Thorin, der sich nun noch ein wenig weiter vorbeugte, damit Oin die Binde lösen konnte, denn sie war hinter seinem Kopf fixiert. Das geschah in einem Zeitraum weniger Sekunden, und doch war die Zeitspanne lang genug, dass Bilbo das Schweigen währenddessen unangenehm wurde und er auf seine Zehen starrte.
"Es sieht gut aus, wirklich. Die Schwellungen werden bald zurücktreten." Als er diese Worte hörte, hob der Halbling den Kopf und seine Augen trafen auf das Gesicht des Zwergenkönigs, dessen Blick ein wenig nach unten gerichtet war, fast so, als würde er sich schämen.
Der Verband lag in Oins Händen und die feinen Fasern des weißen Stoffs hatten stellenweise die Farbe geronnenen Blutes angenommen. Er riss seinen Blick davon los und richtete ihn auf die Narbe, die nun frei lag.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte, und so fiel es ihm schwer, sich zwischen Erleichterung und Bestürzung zu entscheiden. Er sah zu, wie Oin nun mit dem nassen Tuch über Thorins Stirn wischte, ganz vorsichtig aufgrund der Nähte. Eine tiefe, dunkle Furche hatte sich durch sein Gesicht gegraben, die Ränder waren leicht geschwollen und an diesen Stellen hatte seine Haut einen leicht violetten Ton angenommen. Sein rechtes Auge war noch immer geschlossen, und seine Lider schienen unversehrt, doch Bilbo wusste, dass das noch lange nichts heißen musste.
Als er dazu aufgefordert wurde, Oin die Salbe zu reichen, zitterten seine Hände, und er wusste nicht, warum.
"Es wäre gut, wenn du aufpasst und dir die Schritte merkst - dann kannst du es das nächste Mal vielleicht auch alleine machen", hörte er dumpf die Stimme des Graubärtigen, und ohne weiter über diese Worte nachzudenken, nickte der Halbling, denn irgendetwas sagte ihm, es sei selbstverständlich. Thorin sagte nicht, dass es ihm unangenehm wäre, zukünftig von Bilbo behandelt zu werden, und das bestärkte ihn in der Annahme, es wäre nur richtig so.
"Und wie viele Male müssen seine Wunden nun noch behandelt werden?" fragte er mit ernstem Interesse.
"Morgen noch einmal, dann müssen wir sie sich selbst überlassen", meinte der Zwerg in schlichtem Ton, und strich ein wenig der klebrigen Salbe auf die Wunde. Thorin zuckte kurz zusammen, als er seine Stirn berührte, biss die Zähne zusammen und gab nicht den geringsten Laut von sich. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann stellte Oin das kleine Behältnis auf dem Nachttisch ab und nickte dem Halbling zu.
"Das dürfte für heute reichen. Hast du dir alles gemerkt?"
Bilbo nickte, mit dem Anflug eines Lächelns. "Es war recht leicht zu merken, ja."
Oin sprach weiter, während er alles wieder in die Tasche packte. "Sehr gut. Wenn ihr irgendetwas braucht... ihr wisst ja, wo wir sind." Er wirkte mit einem Mal, als stünde er unter Zeitdruck, oder als würde er das Zimmer so schnell wie nur möglich verlassen wollen, ohne unhöflich dabei zu wirken. Thorin erkannte das.
"Du wirkst in Eile...", meinte er mit heiserer, ein wenig reservierter Stimme. "Ist alles in Ordnung?"
Nach einer kurzen Pause schüttelte Oin sachte den Kopf. "Ich bin mir nicht sicher, wie ich es sagen soll, Thorin..."
Der Schwarzhaarige zog eine Braue hoch und hob seinen Kopf um ein kleines Stückchen mehr. "Ist irgendetwas geschehen?"
Bevor er eine Antwort gab, seufzte er. "Die letzten Wochen waren alles andere als leicht, für jeden von uns. Und auch wenn der Kampf vorüber und gewonnen ist, gibt es doch noch zu viele Fragen, die offen stehen." Er räusperte sich vorsichtig. "Es tut mir leid, es so direkt sagen zu müssen, aber... die Gemeinschaft ist nicht mehr das, was sie einmal war. Wie es scheint, haben wir an Zusammenhalt verloren."
In Thorins Blick stieg eine blasse Leere und er richtete ihn ein wenig abseits, doch er sagte kein Wort. Die Pause gab Oin Anlass, weiterzusprechen.
"Die vergangenen Wochen haben Fragen aufgeworfen, und die Suche nach Antworten führte uns in verschiedene Richtungen. Ich schulde dir Ehrlichkeit, so wie wir alle, doch ich fürchte, dass sich nur wenige trauen würden, die Wahrheit auszusprechen..."
"Von welcher Wahrheit sprichst du?" fragte Thorin nun, und dass seine Stimme nicht vorwurfsvoll oder zornig klang, ermutigte den Zwerg zu einer Antwort.
"Wir haben den Kampf gewonnen, aber zu welchem Preis? Wie knüpfen wir nun wieder an unser voriges Leben an? Wie könnten wir das überhaupt? Ein Neuanfang ist unmöglich, solange uns die Ungewissheit unsere Zuversicht nimmt. Und es ist schwer in Zeiten wie diesen, Vertrauen zu jemandem zu fassen, der einst vergaß, wer wir waren." Thorin wusste, dass er mit diesem letzten Satz gemeint war und senkte den Blick, Oin sprach zögernd weiter. "Ich glaube daran, dass ab jetzt alles zum Alten findet, alles gut wird. Aber es sind nur wenige, die dasselbe glauben wollen. Nur wenige, die nach den vergangenen Wochen noch Hoffnung besitzen. Viele..." Er zögerte. "Viele sind sich nicht sicher, ob sie dir noch trauen können, Thorin."
Eine kleine, bedrückende Weile war nichts zu hören. Kein Wort, kein Atemzug. Thorin blickte starr geradeaus, die Lider wirkten geschlossen, doch von der Seite konnte Bilbo erkennen, dass er seinen Blick nur nach unten gerichtet hatte, und er mit leerer Sicht auf die Falten seiner Decke starrte. Er öffnete seine Lippen um einen kleinen, kaum sichtbaren Spalt, und es war unmöglich, zu sagen, ob er das tat, um etwas zu sagen, oder um die Pause mit einem Atemzug zu strecken.
Von draußen erklang die helle Stimme eines jungen Vogels, und dieser leichte, melodische Ton war zu schön, als dass ihn irgendjemand im Raum hätte ignorieren können. Mit einem Mal spürte Thorin eine unerwartete Leichtigkeit in seiner Brust. Der Gesang erinnerte ihn an irgendetwas, er klang selbst wie eine Erinnerung. Nicht die Art von Erinnerungen, von denen großes abhängt, auf denen großes beruht, sondern die Art, die unscheinbar zwischen all den anderen wirkt, und deren Bedeutung erst deutlich wird, wenn sie nach langer Zeit in Vergessenheit wieder zum Vorschein kommt. Der Moment verstrich, es mochten nur wenige Sekunden gewesen sein, in der der helle, klare Klang des Gesanges zu hören war. Der Vogel zog weiter, die Stimme erstarb. Thorin richtete seinen Blick auf Oin, und in seinem Blick lag eine Klarheit, die zuvor nicht dort gewesen war.
"Ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Ich muss gestehen, ich hatte befürchtet, dass es so weit kommen würde, ich habe gar nicht gewagt, anderes zu denken. Oin, ich werde alles dafür tun, dass wieder Vertrauen wachsen kann zwischen den Banden, die ich zerrissen habe. Die Vergangenheit hat mich gelehrt, vorsichtiger mit meinen Versprechungen zu sein, und ob sich meine nächste erfüllen wird, das wird die Zukunft zeigen. Es wird Zeit, dass die Schatten dieser Mauern dem Licht glücklicherer Tage weichen. Ich verspreche, dass die schwarzen Tage Erebors von nun an vorüber sind."
Er blickte zunächst zu Bilbo, danach wieder zu Oin. "Wir werden morgen früh Versammlung halten. Je weniger Zeit in Zwietracht verstreicht, umso mehr können wir in Frieden verbringen."
"Ich werde den anderen Bescheid geben", sagte Oin hastig, und in seiner Freude über Thorins Worte klang seine Stimme ein wenig höher. Der graubärtige Zwerg wandte sich in Richtung Tür, drehte sich auf halbem Wege noch einmal um, und bedankte sich überschwänglich bei dem Zwergenkönig. Der Schwarzhaarige nickte zurück, setzte ein kleines Lächeln auf, wusste, dass er den Dank nicht verdient hatte. Oin schloss leise die Tür und ließ den Halbling allein mit ihm zurück.
Bilbo wurde ein wenig leichter ums Herz. Wieder erklang eine Vogelstimme von draußen, nur blasser, leiser, und weiter entfernt. Mit einem Seufzen sah er aus dem Fenster, und er spürte Thorins Blick auf seinem Gesicht.
"Gut gesprochen", meinte er schließlich.
Thorin senkte den Blick wieder. "Es sind nur Worte. Sie sind erst von Bedeutung, wenn sie zur Wirklichkeit werden."
"Zweifelst du denn daran?" fragte der kleine Hobbit mit matter Stimme, noch immer das ferne Echo des Vogelgesangs in den Ohren.
"Solange ich mir nicht selbst vertrauen kann, ist Zuversicht eine Torheit. "
"Zuversicht ist keine Torheit", sagte Bilbo schnell, damit Thorin nicht weitersprechen konnte. "Zuversicht ist im Moment das einzige, nachdem wir streben sollten, das einzige, worauf es ankommt. Ich kann nicht mehr dabei zusehen, wie du in Selbsthass versinkst. Du musst beginnen, dir zu vertrauen."
Thorin sah auf und schüttelte langsam den Kopf. "Aber wie, Bilbo? Wie? Ich habe keinen Anhaltspunkt!"
"Doch, den hast du." Der Halbling beugte sich ein Stück zu ihm herunter, sodass Thorin gezwungen war, in seine Augen zu sehen. Das Blau seiner Iris schimmerte glasig, ein wenig dunkel. Bilbo sprach weiter, ließ ihn während seiner Worte nicht eine Sekunde aus den Augen.
"Ich vertraue dir, ich glaube an dich. Und weißt du warum? Weil ich dich kenne. Ich weiß, du hast Fehler gemacht. Ich weiß, dass dich die Konsequenzen quälen. Aber ich weiß auch, dass das nur eine Fassade war, dass nicht du es warst, der diese Fehler zu verantworten hat. Ich weiß, wie du wirklich bist, und du solltest wissen, dass ich mein Vertrauen nicht jedem schenke. Aber wenn einer es verdient hat, dann bist das du, und bitte hör auf, dir Hindernisse auf den Weg zur Besserung zu legen. Jeder verdient eine zweite Chance. Und ich würde dir auch eine dritte und vierte geben, wenn es vonnöten ist. Am Ende dieses Weges kann nichts als der Sieg stehen, also, warum gehen wir ihn nicht einfach? Gemeinsam, Thorin, gemeinsam! Ich habe dir mein Versprechen gegeben, hast du das etwa schon vergessen?"
In Thorins Augen stiegen Tränen, als er Bilbo ansah und seine Worte auf sich wirken ließ. Es dauerte einen kleinen Moment, dann versuchte er, etwas zu sagen, doch der Ton ging in einem unkontrollierten Schluchzen unter, und sein Mund schloss sich wieder, sein Blick wandte sich von dem Halbling ab. Stumm und verzweifelt vergrub er sein glühendes Gesicht in den Händen, atmete zitternd. Tränen quollen zwischen seinen Fingern hervor.
Der kleine Hobbit ließ sich auf dem Rand der Matratze nieder, hob erst vorsichtig eine Hand und ließ sie langsam über Thorins Rücken gleiten, dann rutschte er noch ein wenig näher und nahm ihn schließlich in seine Arme.
Als der Schwarzhaarige Bilbos Arme auf seiner Haut spürte, zuckte er kurz zusammen, denn er hatte nicht mit einer Berührung wie dieser gerechnet. Der Halbling ließ sich davon nicht beirren und lockerte seinen Griff nicht, spürte Thorins ungleichmäßigen Atem, seinen schnellen Herzschlag, und drückte sich noch ein wenig fester an ihn. Nach einigen Sekunden erwiderte der Schwarzhaarige seine Berührungen, wenn auch sachte und zögernd.
Sie saßen eine kleine Weile so da. Und Bilbo stiegen Tränen in die Augen, als er sich eingestehen musste, wie gut sich das anfühlte und wie sehr er das vermisst hatte. Für diesen einen Moment gehörte Thorin ihm, für diesen einen Moment gab es nur sie zwei. Ein König und ein Meisterdieb; ein Zwerg und ein Hobbit, er und derjenige, den er liebte und am liebsten nicht mehr loslassen wollte.
Er überließ dem Schwarzhaarigen die Entscheidung, wann es Zeit war, sich zu trennen, und die warme Hand auf seinem Rücken löste sich erst nach einigen Minuten. Als sie sich voneinander lösten, fuhr sich Thorin kurz über das Gesicht, vergaß jedoch die Narbe und seufzte schmerzerfüllt, als er die Wunde streifte. "Danke", flüsterte er in gebrochenem Ton. "Danke..."
Er blickte kurz auf, und sah, wie Bilbo seine Wunde musterte. Sie war neu, und ungewohnt anzusehen, und fast redete er sich ein, der Halbling würde kurz und fast unmerklich zurückschrecken, als sein Blick auf die rote, leicht angeschwollene Narbe traf. Er war das, was er erwartete hätte. Er sah fast beschämt nach unten, und plötzlich fiel wieder der Spiegel in seine Sicht, den er sich zuvor von dem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes geholt hatte.
Mit zittrigen Fingern tastete er danach.
Sein Daumen ruhte auf dem Verschluss, doch er ließ den Spiegel nicht aufschnappen, sondern strich nur mehrere Male nachdenklich darüber, als wäre er sich nicht sicher, ob er ihn wirklich öffnen wollte.
Bilbos Worte hatten ihn beruhigt. Bestärkt. Hatten ihm Mut gemacht. Er sah kurz zu dem Halbling, als bräuchte er eine weitere Bestätigung, und Bilbo gab sie ihm.
"Wenn ich du wäre, würde ich hineinsehen. Die Ungewissheit mag dir ein gutes Versteck bieten, aber wovor suchst du jetzt noch Schutz? Mich wundert es ja, dass du nicht längst vor Neugier gestorben bist..."
Thorin musste bei dem letzten Satz leicht schmunzeln. Das Schmunzeln verschwand, er nickte, schluckte, und ließ den Spiegel aufklappen. Es war nicht die Entstellung, vor der er Angst hatte, es waren die Erinnerungen, die mit diesem "Kratzer" verbunden waren, und denen er ins Angesicht blicken müsste, würde er sich ihrem Anblick stellen. Doch schließlich tat er es.
Der Spiegel zitterte. Nun, es war nicht der Spiegel, sondern die Hand, die ihn hielt. Als Thorins Blick auf die silberne Spiegelfläche traf, regte sich nichts in seinen Zügen. Langsam, ganz langsam öffnete er sein rechtes Auge. Keine Wimper zuckte, der Atem war so ruhig wie eh und je, vielleicht ein wenig flacher. Er studierte seine Züge wie jemand, der von Blindheit erwacht das erste Mal im Leben das eigene Gesicht erblickt.
Sein rechtes Auge war sonst immer blau gewesen. Nun wirkte es blass. Ein wenig kalt.
Ein bleicher, weiß-gräulicher Schleier hatte sich über das helle Blau gelegt, wie ein dünner Mantel des ersten Schnees an frühen, kalten Wintertagen. Wie eine vom Himmel blau gefärbte Pfütze, bedeckt von einer dünnen Decke aus brüchigem Eis. Es wirkte nicht länger lebendig. Doch auch tot schien es nicht.
Die blaugraue, verblichene Iris regte sich noch, als Thorin zum Test blinzelte und sich aus einem anderen Winkel in dem polierten Metall betrachtete. Seine Züge verrieten seine Gedanken nicht, sein Blick konnte alles bedeuten.
Mit einer unerwarteten Bewegung ließ er den Spiegel wieder zuklappen, und das klackende Geräusch ließ Bilbo unmerklich zusammenfahren. Langsam wandte ihm Thorin sein Gesicht zu. Er sah ihn durch den trüben weißen Schleier an, und als der Halbling das verblasste Blau sah, meinte er, kalte, lange Finger würden ihm über Nacken und Rücken streichen, doch er wusste, es war nur ein Schauder der Bestürzung, nicht die Hände eines Geistes. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, schluckte, denn seine Zunge war trocken.
"Ich... ich wusste nicht, dass es so... so..."
"... so schlimm ist?", ergänzte Thorin mit flüsternder Stimme den Satz und ließ den Spiegel auf die Decke fallen, als hätten seine Finger ihren Dienst versagt. Er spürte ein Ziehen in der Brust, denn er schämte sich dafür, dass Bilbo bei seinem Anblick erschrak. Er würde sich daran gewöhnen müssen. Wie an so vieles.
"Verzeih, ich... ich..." Dem kleinen Hobbit fielen keine Worte ein. Er wollte Thorin sagen, dass diese Entstellung keinen Unterschied machen würde, doch die Entstellung war nicht das, was ihn bestürzte, zumindest nicht zum größten Teil. Er hatte schon vom Alter blinde Menschen gesehen, deren Augen farblos und leer waren, grau wie die Wolken vor einem starken Regen. Thorins Auge war anders. Blass, nicht weiß, nicht grau. Nicht blind. Nicht tot.
"Du musst nicht um Verzeihung bitten, Bilbo. Ich hatte in den letzten Stunden recht viel Zeit, um nachzudenken, und so bin ich zu dem Schluss gekommen, dass in diesem Mal doch auch ein Funke Gutes steckt."
Der Halbling sah auf, denn die Worte verstand er nicht. Thorin sah ihn nicht an, sondern starrte auf die Decke. Eine kleine Weile wusste der Meisterdieb nichts zu sagen, denn ihm kam nicht in den Sinn, was dieser "Funke" sein sollte. "Thorin, ich... es tut mir leid, dass..." Er hielt kurz inne. "Dass es so weit gekommen ist. Ich wünschte, ich wäre damals hartnäckiger geblieben, ich wusste nicht, dass... dass du... drohtest, auf dem rechten Auge zu erblinden... Es hätte nicht so weit kommen dürfen."
Jetzt war es der Schwarzhaarige, der ihn erstaunt ansah. Während er Antwort gab, schüttelte er langsam den Kopf, mit Nachdruck in der Stimme. "Nein, Bilbo, du verstehst nicht. Diese Wunde wird mir helfen. Ich werde sie als Warnung tragen, als Warnung vor mir selbst. Dank diesen Narben werde ich mich Tag für Tag an die Stunden erinnern, in denen ich aufgehört habe, an das Gute zu glauben, in denen ich Verrat an jenen begangen habe, die mich davon abhielten, mich in einer Wahnvorstellung zu verlieren. Dass ich gezeichnet bin, das ist Schicksal. Diese Narben werden mich Tag für Tag daran erinnern, dass ich fast alles verloren hätte und dass es nie, niemals wieder so weit kommen darf."
Einige Sekunden verstrichen. Einige Sekunden, in denen Bilbo diese Worte verdaute, er hatte die Bürde dieser Verletzung noch nie aus dieser Sicht betrachtet. Schließlich nickte er. Es war ein trauriges Nicken.
Sie bauten Blickkontakt auf, ohne es beabsichtigt zu haben, und zu Thorins Erleichterung schreckte der Halbling nicht zurück. Von draußen erklang die helle Stimme eines Vogels, fern, blass, klar. Vielleicht war es derselbe wie zuvor.
Kurzerhand sprang Bilbo auf, griff nach der Kleidung, die über einer Stuhllehne zurechtgelegt worden waren, kam zurück und legte sie vor Thorin auf das Bett.
"Es wird Zeit, dass du dir etwas anziehst. Wir sollten das gute Wetter nutzen, solange es noch im Tal verweilt." Er lächelte.
Und als er Thorin ins Gesicht sah, meinte er, dass ein Stückchen Farbe in seine Züge zurückkehrte. Dass ein weiterer Schatten von ihm abfiel wie ein Schleier; ein schwaches Funkeln, das er von früher kannte, als das Tal noch grün gewesen war. Er wusste, was es verhieß.
Thorin kehrte zu ihm zurück.
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Here we go again.
Eigentlich war dieses Kapitel knappe 12 000 Wörter lang, aber dann hab ich beschlossen, den letzten Teil in ein separates Kapitel zu klatschen. Bedeutet; der nächste Teil wird ein wenig kürzer (3000 Wörter) als das hier. Ich hoffe mal, das ist kein Problem.
Bei dem Bild ganz oben hab ich mal versucht, Thorin mit Narbe zu zeichnen... nah.
Jetzt muss ich mich nochmal kurz dafür bedanken, dass ihr die vier Wochen gewartet habt.
Ihr seid großartig. Vielen lieben Dank für eure Votes und lieben Worte, die mich motivieren, am Ball zu bleiben.
Merci beaucoup!
Ich fahre jetzt in den nächsten Wochen in den Urlaub - mein Vater hat gemeint, es gibt dort WLAN, ich hoffe nur, dass das dann auch funktioniert und ich den nächsten Teil pünktlich hochladen kann.
Bis dahin, würde ich sagen! :)
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